Topografie einer Sieger-Partei

Wie die Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative vor einem Jahr die SVP verändert hat.

Von Peter Hossli und Adrian Meyer

Christoph Blocher im Kanton Schwyz

Das Resultat war knapp, die Wirkung bleibt riesig. Heute vor einem Jahr, am 9. Februar 2014, sagte die Schweiz Ja zur Beschränkung der Zuwanderung. Lanciert wurde die Initiative von der SVP.

Wie Phönix stieg die angeschlagene Partei aus der Asche. Sie, die bei den letzten nationalen Wahlen einen Einbruch er­litten hatte. Deren Patron und Portemonnaie, alt Bundesrat Christoph Blocher (74), müde schien. Deren Jungstar, Nationalrätin Natalie Rickli (38), kürzertrat. Deren Flügel sich offen zankten.

Der Triumph an der Urne ändert vieles. Eine «doppelte Wirkung» stellt Politologe Michael Hermann (43) fest. «Die Partei hat nun wieder die Aura der Siegerpartei.»

Die war weg. «Das Desaster bei den Ständeratswahlen 2011 zwang die SVP zu einem Kurswechsel», sagt Hermann. Plötzlich schienen Allianzen nötig, näherte sich die Partei der FDP an, nominierte sie mit Nationalrat Albert Rösti (47, BE) einen konzilianten Wahlkampfleiter.

hermannFlirt mit FDP erkaltet
Dann kam der Sieg am 9. Februar. «Seither treibt die SVP wieder andere Parteien vor sich her», sagt Hermann. «Die eingeschlagene Kursänderung stoppte abrupt.» Der Flirt mit der FDP erkaltete. Zumal die Liberalen Mühe bekunden mit radikalen SVP-Positionen – und die Initiativen-Kultur ablehnen.

Das Ja zur Zuwanderungs­initiative habe «den Respekt gegenüber der SVP gestärkt», sagt der Zürcher Nationalrat Christoph Mörgeli (54). «Und es hat den Abwehrreflex vergrössert.»

Was der Zürcher SVP-Nationalrat Thomas Matter (48) bestätigt. «Seit dem Ja vor einem Jahr tritt man uns wieder aggressiver gegenüber.» Das Bashing nehme zu. Und: «Die FDP hat sich wieder distanziert.»

Intern habe das Ja die Partei gestärkt, so Mörgeli. «Wir sind heute gefestigter als 2008 und 2009 – damals hat es stark gerumpelt.» Der Grund: die Abwahl Blochers aus dem Bundesrat. «Zieht man das Herz aus dem Organismus, stockt der Organismus», sagt Mörgeli. «Das Rumpeln ist jetzt vorbei.»

Zumal Blocher selbst aufblühte – durch das Ja zur Einwanderungsinitiative. «Blocher will das Aussergewöhnliche, er will gewinnen und er will im Zentrum stehen», so Politologe Hermann. Der 9. Februar rückte ihn zurück ins Rampenlicht.

moergeliNachdem er Flops eingesteckt hatte: seinen gescheiterten Versuch, Ständerat zu werden, das Nein zur Volkswahl des Bundesrats.

Blochers Comeback eine die SVP, sagt Mörgeli. «Christoph Blocher bringt die Flügel der Partei in seiner Person zusammen.» Als «nach wie vor gross» beschreibt er dessen Einfluss. Als Mäzen und als Kopf der Partei. «Es ist selten, dass Geld und Geist sich dermassen decken.»

Tito am Zürichsee
Als sei er der Josip Tito am Zürichsee, hält Blocher eine Partei zusammen, die zerstückelt ist wie der Balkan. Aus drei Gruppen besteht die SVP: einem Wirtschafts- sowie einem Bauernflügel und Nationalkonservativen.

Der Wirtschaftsflügel will geringere Steuern und wenig staatlichen Einfluss. Seit dem Abgang von Eisenbahn-bauer Peter Spuhler (56) gilt er als geschwächt.

Der Agrarflügel ist unter der Bundeshauskuppel überproportional vertreten – und will genau das Gegenteil: Subventionen und staatlichen Schutz vor Lebensmitteln aus dem Ausland.

matterNationalkonservative klammern sich an ein altes Weltbild. Als der Feind in Moskau sass. Im Dorf der Lehrer, der Pfarrer, der Ammann und der Arzt das Sagen hatten. Sie sehnen sich nach dem heilen Heidi-Land. Und glauben, Migranten und äus­sere Einflüsse hätte die Schweiz zu stark in eine Richtung ver­ändert – ins Negative.

Den Vergleich mit Tito und dem Balkan lehnt Historiker Mörgeli ab. Zumal Jugoslawien zerfallen sei. Er vergleicht die SVP mit den Republikanern in den USA. Zum marktliberalen Flügel gesellt sich die ultrakonservative Tea Party. «Bei der SVP mischen sich einzelne Flügel nicht in die Kernkompetenz der anderen ein», sagt Mörgeli. Ohnehin sei die Einteilung der Flügel nicht exakt. «Die Nationalkonservativen stimmen oft wirtschaftsfreundlicher als jene des Wirtschaftsflügels.»

Blocher und Bauern
Ein «Spannungsfeld zwischen Wirtschaftselite und Kleinbürgerlichen» erkennt Politologe Hermann. «Die Landwirtschaft ist die Opfergabe.»

Blocher und das Bekenntnis zu den Bauern halten die Partei zusammen. Die Scholle ist der Kitt. Ob Matter oder Mörgeli – die Pfründe der Bauern tastet keiner an. «Mit ihrem Beitrag zur Ernährungssicherheit und zur Landschaftspflege leisten sie grosse Arbeit», sagt Banker Matter. Egal ist, dass das Futtermittel für das Vieh und Setzlinge für Gemüse importiert sind.

binderDass die Bauern in der Fraktion übervertreten sind, weiss der Zürcher SVP-Nationalrat und Landwirt Max Binder (67). «Das Volk mag uns, wir haben die Sitze nicht gekauft, es gibt keine Quoten.» Unbestritten bei der SVP: «Die Armee schützt das Volk, und die Landwirtschaft ernährt es.» Beides darf Milliarden kosten.

Trotz Widersprüchen halte «eine gemeinsame Idee» die Flügel zusammen, sagt Hermann: «die Abwehr gegen Einflüsse von aussen und das Festhalten an der alten Ordnung».

SVP-Kanton Schwyz
Ein Kanton, in dem jeder der drei SVP-Flügel seine eigene Heimat gefunden hat, ist Schwyz. Wuchtige 63,1 Prozent der Schwyzer stimmten am 9. Februar vor einem Jahr für die SVP-Initiative. Der Kanton ist seit Jahren SVP-Stammland. Wie kein anderer bot er optimalen Nährboden für den Aufstieg der SVP zur stärksten Kraft.

Vorne, in Ausserschwyz, in den Steueroasen Wollerau und Pfäffikon, residieren die wirtschaftsliberalen Vertreter der SVP, die neue Macht im Kanton, die durch Bauboom und Ansiedlung internationaler Finanzdienstleister und reicher Neuzuzüger lange die Kantonskasse füllten.

blocher2Hinten, in den abgeschlossenen Tälern Ybrig und Wägital, treicheln die nationalkonservativen Anhänger Blochers gegen Bern, gegen Europa, gegen alles Fremde und für ihre heile Bergwelt. Und unten, in den bäuerlichen Gemeinden im Talkessel von Schwyz und im Muotatal, dem «Alten Land Schwyz», profitieren die urchigen Bauern vom innerkantonalen Finanzausgleich, ohne sich um Verkehrsprobleme und Zersiedelung kümmern zu müssen.

Über allen thront Christoph Blocher. Als «Ausnahmefigur» bezeichnet ihn Politologe Hermann. «Er hat diesen Biss – und merkt immer, wo er attackieren muss.» Seine grosse Leistung? «Er hat die biedere SVP zu einer schlagkräftigen nationalkonservativen Bewegung geformt.»

Was, wenn Blocher weg ist? «Die Partei wird genug Wähler haben», sagt Hermann. «Aber ihr Einfluss wird schwinden, sie weiss nicht mehr, was sie mit den Wählern anfangen soll.»

Mehrere Köpfe dürften das Erbe antreten, glaubt Mörgeli – und weiterführen. «Ist die grosse Wettertanne weg, wachsen mehrere Tännchen, die alle etwas kleiner sind.»