“Es herrschen Schock, Angst und Chaos”

Der starke Franken verschärft die prekäre Lage im Tessin: Grenzgänger nehmen Tessinern noch mehr Jobs weg. Löhne sinken. Die Finanzbranche darbt, der Tourismus leidet.

Von Peter Hossli und Myrte Müller (Text) und Remy Steinegger (Fotos)

einkaufGemüse lädt sie in ihren VW-Beetle, Fleisch, Öl und Waschmittel. Für 50 Franken hat Maria Heussi (59) im Supermercato in Ponte Tresa (I) eingekauft. «In Lugano gibts dafür viel weniger», sagt die Krankenpflegerin. Dreimal die Woche fährt sie nach Italien, postet hier alles, was sie isst. «Weil ich arbeitslos bin.» Keine Arbeit habe sie wegen den «Frontalieri», den Grenzgängern. «Die Chefs im Spital sind alles Italiener, ist eine Stelle frei, holen sie ihre Freunde.»

Wenige Kilometer östlich, ennet der Grenze in Caslano TI, kassiert Luciana Scalise (36) Bares für Benzin. Seit 15 Jahren arbeitet sie an der Schweizer Tankstelle. Der Liter Super 95 kostet 1.31 Franken oder 1.22 Euro. «Der Euro-Preis ist tiefer, wir wollen italienische Kunden halten», sagt Scalise. Sie lebt bei Como, fährt 40 Kilometer zur Arbeit und 40 Kilometer nach Hause – und hat Existenzängste.

Dabei müsste sie frohlocken. Seit Ende des Euro-Mindestkurses ist ihr Schweizer Lohn in Italien 16 Prozent mehr wert. «Nun verdiene ich mehr, aber mein Job ist in Gefahr.» Weil weniger Italiener bei ihr tanken, sie zu teuer geworden ist.

Die Geschichten der zwei Frauen veranschaulichen das Tessin im Februar 2015: Die arbeitslose Schweizerin, die in Italien günstig einkaufen muss; die Frontaliera, die mehr verdient, aber um ihren Job bangt.

tankstelleInvasion aus Italien
Der Euro-Crash hat eine ohnehin prekäre Situation noch prekärer gemacht – in fast allen Branchen.Die Folge: Das Tessin blutet aus. «Schock, Angst und Chaos» präge das Tessin, so Moderatorin und Ex-Miss-Schweiz Christa Rigozzi (31).

Düster ist die Lage im Tourismus. Um einen Viertel schrumpfte in den letzten zehn Jahren die Zahl der Übernachtungen. Nun schreckt der teure Franken die Gäste ab.

Die Finanzbranche darbt. Seit 2004 strichen Banken zwanzig Prozent ihrer Jobs. 20 Milliarden Franken zogen Italiener ab, nach Steuer-Amnesien und dem Ende des Bankgeheimnisses. Nun schrecken Negativzinsen zusätzlich ab.

Das Zürcher Filmfestival läuft dem Festival von Locarno den Rang ab. Die drohende Schliessung des Gotthardtunnels beflügelt Abschottungsängste. Die Arbeitslosenquote mit 4,6 Prozent liegt über dem Schnitt von 3,4 Prozent. Ein Tessiner erarbeitet 66611 Franken pro Jahr, ein Schweizer 73947.

«Es sieht nicht gut aus fürs Tessin», sagt Marco Blaser (80), einst Direktor des Tessiner Fernsehens.

Täglich fallen 68000 Grenzgänger in den Kanton mit 350000 Einwohnern ein. Was Strassen verstopft, Löhne drückt, Tessiner verdrängt. «Der Süden der Schweiz wird erobert – und in Bern merkt es niemand», so CVP-alt-Nationalrat Remigio Ratti (70) zur «Zeit».

Die Autobahn Lugano–Chiasso stockt wie jene vor dem Gubrist in Zürich, nur redet niemand darüber. In Wäldern und auf Wiesen parkieren kleine Fiats, wild und illegal.

Dumping-Löhne
Der starke Franken verstärkt, was das Tessin seit Jahren belastet: Lombardische Firmen siedeln sich hier an. Gucci ist da, Armani, Zegna. Tiefe Steuern und eine gute Infrastruktur locken. Keiner streikt. Sprache und Kultur ähneln sich.

parkplatzDas Personal bringen sie mit, darunter Akademiker, die zu Dumping-Löhnen arbeiten. Grenzgängern mit Doktorwürden genügen 2500 Franken, italienische Anwältinnen in Luganeser Kanzleien nehmen für 1500 Franken das Telefon ab. Programmierer aus Como betreuen für 2500 Franken im Monat IT-Anlagen. Tessiner zahlen die Zeche – mit tieferen Löhnen. «Der starke Franken verschärft die Situation», sagt der Präsident der Tessiner Grünen, Sergio Savoia (50). «Jetzt kaufen noch mehr Schweizer in der Lombardei ein, kommen noch mehr Grenzgänger ins Tessin – für die lokale Wirtschaft ist das eine Katastrophe.»

Nördlich der Alpen interessiere das keiner. «Die Mehrheit der Tessiner glaubt, Bern vernachlässige uns, Bern habe uns vergessen», sagt Savoia. «Das Tessin wird geopfert.»

Nach dem Euro-Crash feilschen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber um neue Gesamtarbeitsverträge. Tendenz: Löhne sinken. «Es wird sicher nicht einfach», sagt der Leiter des Amtes für Wirtschaft im Tessiner Finanzdepartement, Stefano Rizzi. «Es gibt Unternehmen, die leiden, viele Exporteure liefern in den Euroraum.»

Einige Firmen wollen fortan die Saläre in Euro zu bezahlen. «Das erhöht den Druck auf Löhne der Einheimischen», so Rizzi. Was eine gefährliche Spirale antreibt – mit fallenden Preisen und Löhnen.

Die Folge: «Viele junge Tessiner emigrieren unter dem Druck der Invasion aus Italien in die Deutschschweiz oder nach Asien und Übersee», sagt Marco Solari (70), Präsident beim Filmfestival Locarno.

Das Textilunternehmen Zimmerli fertigt laut Eigenwerbung weltweit die beste Unterwäsche. Sechzig Grenzgängerinnen stellen in Coldrerio TI aus edler Baumwolle intime Wäsche her. Seit 15 Jahren ist Marisa Bordoli (45) bei Zimmerli, «weil es mir gefällt», sagt sie. Nicht zu heiss, nicht zu kalt ist die Luft im lichtdurchfluteten zweiten Stock. Ein Dutzend Näherinnen näht Leibchen und Hosen zusammen, bringt Bänder an, zuletzt die Etiketten – alles von Hand. An der Wand hängt ein Bild von Jesus – und von Fussballer David Beckham (39) im schicken Zimmerli-Shirt.

zimmerliUnterwäsche teurer?
Seit 22 Jahren arbeitet Annunziata Conte (59) bei Zimmerli. Sie wuchs in Pompeji (I) auf, lebt sieben
Minuten vom Zimmerli-Werk entfernt. «Nein, allein wegen des Geldes nähe ich hier nicht, die Arbeit gefällt mir», sagt sie. Und: «Zimmerli ist gesund.»

Geld ist seit dem Ende des Mindestkurses aber ein Problem. «Klar, das hat einen Einfluss auf das Geschäft», sagt Zimmerli-CEO Marcel Hossli (47). «Für jeden Euro, den wir momentan einnehmen, erhalten wir 20 Rappen weniger.» Noch seien keine Preiserhöhungen vorgesehen. Ausschliessen kann sie der CEO aber nicht. Senkt er Kosten? Sinken Löhne? «Mein grosses Ziel ist es, den Standort Tessin zu erhalten», sagt Hossli. Euro-Löhne will er nicht einführen, aber die Gewerkschaften würden derzeit über Anpassungen verhandeln. Was heisst: In Franken könnten die Löhne sinken. «Unsere Mitarbeiterinnen dürfen nicht weniger Geld im Portemonnaie haben.» Ihr Lohn sei aber auf einmal 16 Prozent gestiegen, eine Senkung angemessen. Er weiss: «Die Frauen ziehen mit.»

bauerGemüsepreise im Keller
Drei Hektaren Land beackert Gemüsebauer João Rodrigues da Cunha (51) in Gordola TI. Salate baut er in der Magadino-Ebene an, Tomaten, Zucchini und Auberginen.

Schon vor dem Euro-Crash war die Konkurrenz aus Italien billiger. Letztes Jahr setzte ihm der Regen zu. Jetzt gehe er «auf dem Zahnfleisch», sagt Rodrigues da Cunha. Zeitweise kriegt er nur 5.30 Franken für ein Kilo Feldsalat. Erst ab zehn Franken lohnt es sich. Der Tomatenpreis fiel auf unter 70 Rappen das Kilo. Was die Kosten nicht deckt. «Geht das so weiter, muss ich aufgeben.» Im Sommer schützten ihn Einfuhrstopps und hohe Zölle vor billiger ausländischer Ware. Allein sei er nicht, sagt der gebürtige Portugiese. «Diese grosse Krise trifft alle Gemüsebauern in der Magadino-Ebene.»

Ähnlich tönt es in der Gastronomie und im Tourismus. «Letztes Jahr regnete es viel, jetzt kommt mit dem Euro eine weitere kalte Dusche», sagt Omar Gisler (38), Sprecher bei Ticino Tourismus.

Für die wichtigen deutschen Gäste werde das Tessin 20 Prozent teurer, das Ausland für Schweizer aber um 16 Prozent günstiger. «Wir hoffen, die Schweizer halten uns die Stange», so Gisler.

Urs Mäder (55) hofft das Gleiche. Seine Cantina dell’Orso in Ascona TI kann sich sehen lassen. 10000 Flaschen Wein vom Besten liegen im Keller, darunter gute Tessiner Tropfen. Er kaufte den Bestand vor dem Euro-Sturz. «Jetzt kann ich ihn nicht mehr mit Eurobonus verkaufen.» Sein Verlust? Gut 15 Prozent. «Mit dem starken Franken verlieren wir Touristen. Gaststätten und Hotels kaufen weniger Wein.» Viele Tessiner Beizen liegen in italienischen Händen, sagt Mäder. Italienische Wirte kauften Wein in Italien. «Einen Schweizer Händler braucht es da nicht mehr.»

cademarioService muss stimmen
Prächtig ist die Aussicht in Cademario TI. Bei schönem Wetter sieht Rafaela Hoeck Domig (49) vom Büro die Po-Ebene. Zusammen mit ihrem Mann führt sie das Kurhaus, hoch über Lugano gelegen, ein Viersternehotel mit Wellness, Ruhe und vorzüglichen Restaurants.

«Wir jammern nicht», sagt die Hoteldirektorin. «Wir sind gefordert.»

Siebzig Prozent der Gäste seien Schweizer, zehn Prozent Deutsche. «Klar hat der schwache Euro Folgen», sagt Hoeck Domig. «Für Schweizer ist das Ausland günstiger geworden, für Ausländer sind wir teurer – und bei den fixen Kosten können wir wenig machen.»

Zumal das Kurhaus viele Tessiner Produkte serviert – und die werden beim Einkauf nicht günstiger.

Sie bangt um die deutschen Gäste, «da sie preissensibel sind», sagt Hoeck Domig. Reagiert hat sie mit einem flexiblen Preissystem. Steigt die Nachfrage, steigen die Preise, sinkt sie, werden Betten günstiger.

Zudem ermuntert sie Gäste, direkt beim Hotel zu buchen statt auf Internet-Plattformen. «So zahlen wir keine Kommission und können einen besseren Preis anbieten.»

Letztlich entscheide das Produkt. «Die Qualität muss höher werden», sagt die Direktorin, der Service besser. «Mein Lächeln, das Lächeln der Mitarbeiter kostet uns nichts.»

Helfen würde der Wegfall der Mehrwertsteuer. «Das können wir dem Gast weitergeben.» Zudem: «Die Schweizer sollen in der Schweiz Ferien machen.»

Sonst, weiss sie, verdunkelt sich die Sonnenstube der Schweiz.

Mitarbeit: Fibo Deutsch

Tessin-Krise – das sagen Prominente

CVP-Ständerat Filippo Lombardi (58): «Die Parlamentarier von Bern und Zürich bemerken die Probleme der Grenzkantone nicht. Dabei leiden diese Regionen jetzt extrem. Tausende von Arbeitsplätzen gehen verloren. Wir müssen Sondermassnahmen prüfen für Grenzkantone wie das Tessin.»

Marco Solari (70), Präsident des Filmfestivals Locarno: «Es ist ein schwerer staatspolitischer Fehler, dass seit 16 Jahren das Tessin im Bundesrat nicht mehr vertreten ist. Wir sind weit davon entfernt, als das Tessin noch einen ungeschriebenen Anteil an Vertretung in Gremien wie SBB, Post und anderen nationalen Körperschaften genoss.»

Christa Rigozzi (31), Moderatorin: «Es ist schrecklich für die Schweiz, insbesondere für Grenzregionen wie das Tessin. Es herrschen Schock, Angst und Chaos. Schweizer müssen jetzt die Schweizer Wirtschaft unterstützen. Ich hoffe, die Schweiz und der Bund sind solidarisch mit dem Tessin. Wir brauchen noch mehr Verständnis und Unterstützung. Aber ich bin zuversichtlich.»

Ivo Adam (38), Gastronom: «Die Tessiner müssen endlich den Finger rausnehmen. Statt Jammern sollten sie ihre Sonnenstube besser vermarkten. Natürlich wird sich der starke Franken auf den Tourismus auswirken. Nicht erst heute verschläft es das Tessin, diese attraktive Region richtig zu bewerben.»

Marco Borradori (55), Bürgermeister von Lugano: «Klagen hilft nichts. Wir müssen uns jetzt auf die neue Situation einstellen und mit Engagement reagieren. Im Tourismus müssen wir die Qualität der Leistungen noch einmal nachhaltig verbessern. Ich bin sicher, dass das Tessin mittel- und langfristig diese schwierige Klippe überwinden kann.»