Interview: Peter Hossli Fotos: François Wavre
Peter Maurer grüsst im Pullover, trägt ein Foulard. Vom Fenster aus sieht er die Uno. «Geht es für den SonntagsBlick ohne Krawatte?», fragt er. «Krawatte trage ich nur, wenn ich muss.» Er ist Rebell geblieben, selbst als Präsident der angesehensten Organisation der Welt. Beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf benutzen alle Windows-Computer. Maurer (58) aber schreibt mit Apple-Geräten. Wie schon als Schweizer Uno-Botschafter in New York und als Staatssekretär im EDA.
Herr Maurer, werden wir Menschen immer schlechter?
Peter Maurer: Nein!
Noch letzte Woche tönte er etwas anders. Er beantragte ein um 25 Prozent höheres Budget, will für 2015 für das IKRK 1,6 Milliarden Dollar. Und das IKRK wirkt, wo Menschen morden und foltern, das Völkerrecht besudeln. «Weil sich bewaffnete Konflikte ändern, brauchen wir mehr Geld», sagt Maurer nun. «Und weil humanitäre Bedürfnisse zunehmen.» Brutaler als früher seien die Menschen nicht. «Das IKRK ist heute aber in einer Breite und Tiefe engagiert, wie es sie vor zehn Jahren noch nicht gab.»
Was heisst: Schlechter sind die Menschen nicht, die Opfer erhalten bessere humanitäre Hilfe.
Staaten, die bereits zahlen, sollen mehr geben, etwa die Schweiz, die USA, Deutschland, Grossbritannien. «Wir überzeugen sie, dass ihr Geld gut investiert ist, wir wirkungsvoll und effizient arbeiten.»
Zudem will Maurer vermehrt private Spender gewinnen. «Aber mir ist schon klar: Wir können nicht jedes Jahr zulegen.»
Schon heute gehört die Schweiz zu den grössten Zahlern des 1863 in Genf gegründeten IKRK. «Sie hat ihr Engagement für humanitäre Hilfe nochmals massiv ausgeweitet, wofür wir dankbar sind», sagt Maurer. Liegt die Schweiz noch an der Spitze bei humanitärer Hilfe? «Genf ist das wichtigste Zentrum, wo humanitäre Politik definiert und humanitäre Hilfe angedacht und organisiert wird», sagt Maurer. Heute trügen 25 bis 30 Länder die Kosten der -humanitären Hilfe, darunter die Schweiz und neue Träger wie die Türkei.
Sie setzen das Geld für neue Krisen ein. Statt Konflikte zu verhindern, lindern Sie Auswirkungen.
Das ist die Essenz humanitärer Hilfe: die Auswirkungen von Krisen zu lindern. Es ist schwierig und hoch politisch, mitten im Konflikt die Ursachen zu bekämpfen.
Je mehr Sie arbeiten, desto mehr versagt die Politik?
Diese Logik teile ich nicht. Wir helfen Menschen zu überleben und Länder sich zu stabilisieren. Das muss unabhängig von politischen Fragen passieren. Humanitäre Akteure beseitigen keine Krisen. Das macht die Politik. Wir tragen zu minimaler Stabilität bei. Was oft erste Voraussetzung für Friedensarbeit ist. So kann ein politischer Prozess beginnen. Im Krieg ist Dialog selten möglich.
Worum geht es Ihnen?
Darum, eine relevante Wirkung zu erzielen.
Ist das beim IKRK leichter als in der Schweizer Diplomatie?
Das IKRK hilft zu überleben. Das ist sichtbar, spürbar, oft messbar und somit anerkannt. Politische Fortschritte sind selten messbar. Ob sich ein Konflikt entspannt, kann man nicht messen. Zählen hingegen die Vertriebenen, denen wir ein würdiges Leben garantieren, oder die Häftlinge, die wir besuchen.
Dann befriedigt Sie humanitäre Arbeit mehr als die Diplomatie?
Diplomatie gehört zu meinem Alltag. Damit unterstütze ich Kollegen bei der humanitären Arbeit, verschaffe Zugang zu Gefangenen und Zivilisten. Als Vertreter eines Staates ist die diplomatische Arbeit Teil einer politischen Agenda – und das darf humanitäre Hilfe nie sein.
Maurer spricht vom «Gürtel der Instabilität». Durchgängig verlaufe er von Westafrika zum Himalaja. 40 Prozent der IKRK-Arbeit liegen in Afrika, ein Drittel im grösseren Nahen Osten. Doch was führt zu -gewalttätigen Konflikten? «Arme Gesellschaften sind besonders anfällig», sagt er. Ausschluss und Diskriminierung führten zu Gewalt. Wie im Arabischen Frühling. «Unterschätzt wird die Anfälligkeit von Gesellschaften auf Veränderungen der Umwelt.» Am ehesten nähre der Ausschluss von politischen Prozessen Kriege, sagt Maurer. «Wer ausgeschlossen und diskriminiert wird, legt Waffen zuletzt nieder.»
Wie viele Kilometer legen Sie jedes Jahr in der Luft zurück?
Das messe ich nicht. 40 Prozent meiner Arbeit sind ausserhalb Genfs.
Warum müssen Sie vor Ort sein?
Um die politische Führung eines Landes davon zu überzeugen, Hindernisse für unsere Arbeit zu beseitigen. Fehlt der Zugang zu einem Gefangenen, können wir eine Region nicht besuchen, so hat das meist politische Gründe, die ein lokaler Gouverneur nicht lösen kann. Da muss ich den Aussenminister oder den Sicherheitsminister treffen – oder eben den Premier oder den Präsidenten. Läuft eine Operation gut, reise ich nicht notwendigerweise in das Land.
Gibt es einen Staatschef, der Sie nicht empfängt?
Abgesagt hat noch keiner. Mir ist es nicht wichtig, Rendezvous mit Präsidenten zu sammeln. Ich muss Politiker von der Arbeit des IKRK überzeugen. Präsidenten können erste Gesprächspartner sein. Aussen-, -Sicherheits-, Gesundheitsminister sind fürs Konkrete oft wichtiger.
Sie geben wenig preis über Gespräche. Warum?
Konflikte sind sensible Situationen. Es braucht Räume für diplomatisch professionelle Gespräche. Bei denen soll alles zur Sprache kommen, ohne dass jemand das Gesicht verliert. Nur bei vertraulichen Gesprächen können die Teilnehmer positive Schritte machen, ohne dass sie als Schwäche gedeutet werden.
Zweimal war Maurer 2014 in Syrien. Letztes Jahr sprach er mit Präsident Assad in Damaskus. Was hat das gebracht? «Wir konnten im laufenden Jahr unsere Aktivitäten in Syrien kräftig ausbauen», sagt er.
Was wichtig sei. «Das Ausmass der Zerstörung und der Vertreibung ist gigantisch.» Längst habe sich der Konflikt auf die Region ausgeweitet. Auf den Libanon, Jordanien, Irak und die Türkei.
Ist Syrien derzeit der grösste Krisenherd? «Ja», sagt Maurer – und nennt fünf weitere: die Sahelzone, das Horn von Afrika, der Sudan, Nordnigeria, die Ukraine. Hinzu kämen traditionelle, jahrzehntelang schwelende Konflikte. «Dieses Jahr gibt es mehr zivile Opfer in Afghanistan als 2013, doch Afghanistan ist vom Radar verschwunden.»
Wie nennen Sie den Islamischen Staat?
Je nach Kontext und Gesprächspartner mal IS, ISIL oder Daesch.
Sie verhandeln direkt mit dem IS. Wie schlägt das IKRK die Brücke zu einer Gruppe, die das Völkerrecht derart missachtet?
Wir denken in anderer Logik, als Ihre Frage suggeriert. Uns interessiert nicht, ob oder wie wir mit einem Gebilde wie dem IS verhandeln. Uns interessiert, wie wir den Menschen helfen können, die in vom IS kontrollierten Regionen leben.
Wie kontaktieren Sie den IS?
Wir hatten schon vor dem IS Kontakte zur lokalen Bevölkerung, zu Stämmen und lokalen Autoritäten. Über sie versuchen wir zu verstehen, wer die Personen sind, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Was bringen die Verhandlungen?
Wir wollen den Zugang zu Gebieten mit bedürftigen Menschen verbessern. Der Zugang ist uneinheitlich. Zumal es keine IS-Zentrale gibt, mit der wir verhandeln. Überall müssen wir lokale Bedingungen gesondert verstehen. Das syrische Raqa versorgen wir mit Wasser, mit Zustimmung lokaler und der syrischen Behörden und dem Syrischen Roten Halbmond. Nach Mosul und Falludscha haben wir Medikamente und andere Hilfsgüter gebracht, mit Zustimmung lokaler Behörden und von Bagdad.
Wie schützen Sie IKRK-Mitarbeiter?
Sicher sind wir meistens dann, wenn die lokalen Behörden uns erlauben, das zu machen, was wir machen wollen.
Die USA und der Iran bombardieren IS-Stellungen. Wie beeinträchtigt dies Ihre Arbeit?
Alle, die in militärische Aktivitäten verwickelt sind, müssen wissen, wo wir sind und was wir wann tun.
Es ist nicht Ihre Aufgabe, aber die Frage liegt auf der Hand: Wie liesse sich der IS stoppen?
Ihre Frage ist zu grandios. Wir verstehen ja nicht einmal genau, was der IS ist. Wie sollen wir da wissen, wie wir den IS stoppen können?
Sie engagieren sich im Palästina-Israel-Konflikt – und sind ein Sisyphus. Der Konflikt lässt sich nicht lösen. Seit Jahrzehnten fehlen jegliche Fortschritte.
Jeden, der frustriert ist, begreife ich. Auch ich bin frustriert, wenn sich Konflikte nicht lösen.
Warum geben Sie nicht auf?
Für jene, denen wir helfen zu überleben, bin ich kein Sisyphus.
Nach Ihrem Besuch in Gaza zeigten Sie sich schockiert, was eine klare Kritik an Israel war. Warum gaben Sie die traditionelle Neutralität des IKRK auf?
Zwar zeigte ich mich schockiert über die Auswirkungen der Gewalt auf die Bevölkerung, aber ich hielt mich zurück, die Ursachen der Gewalt öffentlich anzusprechen. Eine einseitige Schuldzuweisung fehlt.
Indem Sie die Betroffenheit der Menschen in Gaza hervorheben, kritisieren Sie implizit Israel.
Ich zeigte mich auch betroffen über die Auswirkungen für Israel. Und ich sagte, dass die Dimensionen der Auswirkungen in Israel und Gaza nicht die gleichen sind …
… in Gaza seien diese grösser …
… das sind faktisch alles richtige Aussagen. Zu denen stehe ich. Alles andere ist interpretierte Spekulation. Und diese überlasse ich Ihnen.
Bereits Anfang 2014 kritisierten Sie Israel in einem Artikel. Weicht das IKRK unter Ihnen von der stillen Diplomatie ab?
Vertraulichkeit ist ein zentraler IKRK-Grundsatz. Sie ist unerlässlich, um Räume zu schaffen, in denen wir uns mit Kriegsparteien engagieren. Als IKRK-Präsident bin ich aber verpflichtet, auf Politiken aufmerksam zu machen, welche Verletzungen des humanitären Völkerrechts darstellen.
Sie kritisieren klar Israel.
Es ist nichts geheim an der Tatsache, dass die Besetzung, die Grenzziehung und die Siedlungspolitik nicht im Einklang stehen mit der 4. Genfer Konvention. Das ist der Kern meiner Aussage.
Sie tun das nur bei Israel.
Falsch. Ich übe grosse Zurückhaltung, wenn es darum geht, einzelne Verletzungen des Völkerrechts öffentlich zu kritisieren. Veränderungen können wir nur erzielen, wenn wir vertraulich erklären, was nicht kompatibel ist mit dem Völkerrecht. Folglich spreche ich nicht in der Oeffentlichkeit darüber, ich, was wir in Gefängnissen oder bei militärischen Operationen sehen. Macht ein Staat problematische Entscheide publik, sind wir legitimiert, diese zu kritisieren.
Zum Beispiel?
Die USA kritisiere ich, weil die Kontrolle des Status der Gefangenen in in Guantánamo nicht rasch genug passierte. Das ist öffentlich – und problematisch im Sinne der Genfer Konvention. Zur Situation der Gefangenen in Guantánamo äussere ich mich demgegenüber nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur im vertraulichen Dialog.
Sie sagten als Staatssekretär, nie Stress zu kennen. Ist das jetzt als IKRK-Präsident anders?
Nein. Stress ist eine persönliche Veranlagung, keine objektive Reaktion auf ein objektives Problem. Normalerweise laufe ich nicht besonders aufgeregt herum. Leid aber beschäftigt mich. Ich bin betroffen und stecke es nicht weg.
Ein IKRK-Präsident ist mächtig. Was bedeutet Ihnen Macht?
Der beste Einfluss innerhalb einer Organisation ist das Vorbild. Ich schreie nicht, ich mag kein autoritäres Gehabe. Ich versuche zu überzeugen, indem ich zeige, wie ich mir etwas vorstelle. Entscheide fälle ich gerne, es bereitet mir weder schlaflose Nächte, noch habe ich Hemmungen oder Gewissensbisse. Ich fühle mich okay, IKRK-Präsident zu sein.
Und wie setzen Sie Ihre Macht weltweit ein?
Das IKRK hat keine Macht im traditionellen Sinne. Bei Gesprächen will ich aber jemanden überzeugen, einen Entscheid zu fällen, den er anfangs nicht wollte. Ihn überzeugen, dass unsere Arbeit in seinem Interesse und im Interesse der Opfer ist.
Das ist doch eher Diplomatie als Macht. Fürchten Sie die Macht?
Nein. Mit Macht oder besser mit Einfluss habe ich keinerlei Probleme, wenn es darum geht, völlig widersprüchliche Interessen zu vereinen – Kompromisse zu erzielen, die letztlich Wirkung haben. Das ist aber so sehr Macht wie auch Kunst.