“Ich will diese Menschen finden”

Täglich fliehen Tausende Menschen übers Mittelmeer. Isländische Grenzer suchen vom Flieger aus nach Flüchtlingsbooten. Ein Bericht aus der Luft.

Von Peter Hossli (Text und Fotos)

karteFarbige Punkte gleiten über den Bildschirm. Grün sind die Frachter, orange die Fregatten, gelb die Fischkutter. Es ist 13.20 Uhr, zwei Kilometer über dem Mittelmeer zwischen Sizilien und Afrika. Leutnant Arnarson entdeckt einen schwarzen Punkt – ein Schiff, das kein Radarsignal sendet. «Näher», funkt er dem Piloten. Der zieht das Turboprop-Flugzeug westwärts. «Wir schauen genau hin», sagt Arnarson. Per Joystick richtet er die Kamera auf das Geisterschiff. Flüchtlinge?

«Fischer!», entwarnt er. «Flüchtlinge bewegen sich viel sprunghafter.» Er protokolliert den Zwischenfall und starrt alsbald wieder auf den gepunkteten Schirm.

Mit Hightech lindert der Isländer menschliche Tragödien. Arnarson – den Vornamen gibt er wie alle Isländer nicht preis – steht im Dienst der isländischen Küstenwache. Diese stellt der EU-Agentur Frontex ein Flugzeug. Die Isländer suchen nach Booten, die Flüchtlinge von Afrika nach Europa bringen – eine Armada der Verzweifelten. Täglich 3000 Menschen erreichen Italiens Küste.

gunnar2Finden die Isländer ein mit Migranten beladenes Schiff, melden sie es sofort nach Rom. Italienische Schiffe fangen es ab und nehmen sie an Bord – und retten so manche vor dem Ertrinken.

An Bord des Turboprop-Fliegers vom Typ Dash 8-300 arbeiten vier Isländer: Pilot und Kopilot, zwei Offiziere, die im Heck Radar und Kameras bedienen. Hinzu kommt der italienische Grenzer Mario Bella (43), ein braun gebrannter Sizilianer. Erstmals fliegt ein Zeitungsreporter mit.
Mörderische Überfahrt

Olivenbäume und Orangenhaine säumen die Strasse zum italienisch-amerikanischen Militärflugplatz Sigonella, unweit der sizilianischen Stadt Catania. Etwas abgelegen parkiert, steht startklar die isländische Maschine, daneben eine Cessna der griechischen Küstenwache. Beide Flugzeuge fliegen für Frontex, die Agentur, die im Auftrag der EU-Staaten die Aussengrenze Europas schützt – und jetzt im Dauereinsatz steht. 100000 Migranten sind allein dieses Jahr in Italien angekommen. Im bisherigen Rekordjahr 2011 waren es total 60000. Meist kommen sie aus Somalia, Syrien und Eritrea – aus Ländern, in denen Bürgerkriege toben. Sie erlebten mörderische Überfahrten. Seit 2000 starben 23000 Menschen auf der Flucht nach Europa, mehr als derzeit in der Stadt Zug leben.

dashUm 11.18 Uhr startet Pilot Ólafsson die Motoren, testet die Instrumente, schliesst das Cockpit. Plangemäss hebt das Flugzeug um 11.30 Uhr ab. Die trockenen, braunen Felder von Sizilien schrumpfen, im Nu überfliegt das isländische Flugzeug die Küste, steigt auf 6500 Fuss Höhe. Vier Stunden soll es in der Luft bleiben, einen weiten Bogen um Lampedusa fliegen, um jene ita­lie­nische Insel also, auf der die meisten Flüchtlinge aus Afrika stranden – und wo Boote mit Hunderten an Bord sanken.

Das Radar als Auge
Mit blossem Auge ist vom Flugzeug aus kaum etwas zu sehen. Wolken erschweren den Blick aufs grosse Blau. «Unser Auge ist das Radar», sagt Arnarson. Vor ihm gleiten die Punkte. Grün. Orange. Gelb. Zwei Kameras offenbaren kleinste Details. Er zoomt aufs Deck einer Segelyacht, sieht Sonnenbadende auf einem Katamaran, erkennt Container auf einem Frachter. Sein Computer zeigt ihm, wohin jedes Schiff unterwegs ist. Ein unbekanntes fehlt. Hat er ein Flüchtlingsboot übersehen?

Um Leben und Tod geht es in seinem Job. Seine Arbeit aber sei «sehr klinisch, technisch». Die isländischen Grenzer fliegen übers Meer, schauen, suchen. Sehen sie etwas, schicken sie Fotos und Koordinaten an die italienischen Behörden nach Rom. Nur im Extremfall greifen die Isländer direkt ein. Entdecken sie etwa Menschen in akuter Seenot, werfen sie über eine Luke Rettungsinseln ab.

olafssonPilot Ólafsson leistet seit 26 Jahren Dienst bei der Küstenwache, seit zwei Jahren fliegt er ab Sigonella übers Mittelmeer. «Vor Island Fischer zu retten ist anders», sagt er. «Hier sind viel mehr Menschen betroffen, hier spielt sich eine Tragödie ab.» Ruhig wirkt der kräftige Mann, ja stoisch. Spricht er, zeigt er Gefühle. Wirkt nervös, da er nach zwei Stunden Flugzeit noch kein Schiff mit Migranten gesichtet hat. «Dort draussen hat es Tausende, die schutzlos übers Meer treiben, sie erleben ext­reme Situationen, ich muss sie finden», sagt er. «Je schneller, desto geringer ist ihr Leid.»

Weit weg von seiner Frau und seinen Kindern leistet er Dienst – weil er hofft, Frauen und Kinder zu finden. Fast täglich fliegt er übers Meer. An einem Tag fand er vier Schiffe. Gummiboote voller Menschen sah er, alle dem Tod nahe, dazu morsche und halb versunkene Kutter, einfachste Ruderboote mit einer Handvoll durstiger Kerle, oder Frachter mit Hunderten an Deck.

Heute sei es sehr heiss auf dem Meer. Daher seien vermutlich weniger Boote unterwegs, sagt Ólafsson. Sein Kopilot greift zum Fernglas, als ob er die Augen des Radars schärfen möchte. «Sehen wir etwas, gehen wir runter», sagt er. Dann dauert der Flug weit länger. Zwischen sieben und zehn Stunden können die Grenzer in der Luft bleiben.

sizilenWorauf sie eingestellt sind. Sie brauen Kaffee an Bord, es hat eine Toilette, einen Mikrowellenherd. Der Kühlschrank ist randvoll mit Waren, die Männer essen, die kaum kochen. Scheibenbrot. Scheibenkäse. Scheibenfleisch. Zur Mittagszeit beschmiert Arnarson zwei Scheiben Brot mit Senf, legt Käse- und Pouletscheiben drauf, blickt dabei stets auf das Radar. Nicht mal beim Essen will er was verpassen.

Chaos in Libyen
Kurz vor dem libyschen Luftraum drehen die Isländer gegen Westen ab. Unter ihnen patrouilliert ein italienischer Zerstörer die Grenze. Er zerstört nicht. Er birgt Menschen, die alles riskieren, um nach Europa zu kommen. Die meisten von ihnen stechen in Libyen ins Meer.

Hinter 2000 Kilometer Küste liegt ein Staat, in dem seit Diktator Muammar al-Gaddafis Sturz das Chaos regiert. Gegen 600000 Menschen würden derzeit in Libyen auf ihre Überfahrt warten, sagt der italienische Innenminister Angelino Alfano (43) – und appelliert an die Solidarität anderer EU-Länder.

Island ist nicht Teil der EU. Aber wie die Schweiz haben die Isländer das Schengen-Abkommen unterzeichnet – und sind bereit, die europäische Aussengrenze zu schützen. «Wir fühlen uns verpflichtet», sagt Pilot Ólafsson. «Es ist unfair, wenn die Griechen, Spanier und Italiener die ganze Bürde tragen.»

bella_gunnarInsbesondere seit der schweren Wirtschaftskrise sei Island eher bereit, sich für Europa zu engagieren. «Zudem ist es besser, das Flugzeug rettet im Mittelmeer Menschen als dass es ungenutzt in Reykjavík herumsteht.»

Flüchtlinge in Sicht
Die Kooperation harmoniert. Ständig witzelt der Italiener Bella mit dem Isländer Arnarson. Auf der Uniform trägt er neben der italienischen Tricolore die isländische Flagge. Bella sieht auf dem Schirm einen Sanitätshelikopter, der von Lampedusa nach Palermo fliegt. Normalerweise transportieren die Hubschrauber Italiener von kleinen Inseln ins Spital. Derzeit sind fast nur Flüchtlinge an Bord.

«Sicher», sagt Bella, «Sizilien leidet am meisten». Dramatisieren will er nichts. «Ich erledige einen Job.» Abends geht er nach Hause zur Familie. «Man darf nicht emotional werden.»

bootUnd doch wirkt er plötzlich ganz aufgeregt – und ruft: «Migranten!» Arnarsons Kamera erfasst ein Schiff der italienischen Küstenwache, zoomt aufs Deck. Er sieht, wie sich dunkle Körper bewegen. Gestern haben die Italiener sie südwestlich von Lampedusa aufgefischt. Bella erfährt per Funk: Es sind 108 Menschen, fast alle aus Eritrea, ein paar wenige aus dem Senegal.

Pilot Ólafsson hat heute keinen Migranten gesichtet. Um 15.30 Uhr setzt er den Flieger in Sigonella auf, ist enttäuscht. «Wir gehen bald wieder in die Luft.»

Er will Menschen finden.