Von Peter Hossli
Angela Merkel (59) trifft Wladimir Putin (61). «Wo veranstalten Sie denn das Endspiel der Fussball-WM 2018 in Russland?», fragt die Bundeskanzlerin. «Vermutlich in Leipzig», antwortet der russische Präsident.
Der Witz dreht sich um die Furcht vor Moskau. Und er zeigt, um was es im Fussball wirklich geht: Politik.
Für Menschen mit Macht gibt es keine bessere Bühne als eine Fussball-Weltmeisterschaft. Ab nächster Woche rollt in Brasilien der «Brazuca», der WM-Ball. Dann werfen sich Politiker jeder Couleur vor Kameralinsen, herzen begnadete Spieler, gehen in Kabinen, motivieren Mannen, über sich hinauszuwachsen.
Das pure Gegenteil hatte der argentinische Diktator Jorge Rafael Videla (1925–2013) im Sinn, als er 1978 die Kabine der peruanischen Nationalmannschaft aufsuchte. Argentinien musste Peru mit vier Toren Unterschied schlagen, um ins Endspiel der Heim-WM vorzustossen. Videla drängte die Peruaner zur Niederlage. Seine Forderung unterstrich er mit 50 Millionen Dollar und 35 000 Tonnen Getreide. Zudem übernahm er peruanische Regime-Gegner und versprach, sie argentinisch zu entsorgen – nämlich auf offener See lebend aus dem Flieger zu werfen.
Videlas Auftritt wirkte. Peru unterlag 0:6. Argentinien holte den Titel. Nie war Fussball schmutziger.
Jede WM politisch
Politisch aber ist jedes Weltturnier. Vor dem Final 2010 in Südafrika winkte ein sichtlich altersschwacher Nelson Mandela (1918–2013) den Massen zu und umarmte Fifa-Präsident Sepp Blatter (78). Es tat weh, das ätzende Schauspiel zu verfolgen. Wichtig aber war es. Der Auftritt des einstigen Aktivisten und Ex-Präsidenten erhob die erste WM in Afrika zum weltpolitischen Ereignis. Südafrika hatte die Apartheid überwunden, Afrika die Weltbühne erreicht.
Wenn Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff (66) am Donnerstag in São Paulo die WM eröffnet, hofft sie auf einen Sieg der Seleção, dem brasilianischen Nationalteam. Das, weiss sie genau, würde ihre Wiederwahl im Herbst sichern.
Als Brasilien 1970 in Mexiko Weltmeister wurde, hatte das Militär die Macht. Viele Gegner des Regimes starben und wurden gefoltert. Superstar Pelé führte sein Team zum Titel – dank dem die Generäle das Land noch bis 1985 führten.
Der Fussballkrieg
Gar einen Krieg löste 1969 ein WM-Qualifikationsspiel zwischen El Salvador und Honduras aus. Dabei starben über 2000 Menschen. Passieren soll das nie wieder, sagt Fifa-Präsident Blatter. Er sieht den Fussball als Keim des Friedens. Insgeheim hofft er auf den Friedensnobelpreis. Mehr Nationen sind bei ihm Mitglied als bei der Uno. Blatter ist gerne Entwicklungshelfer und Globalisierer. Vergibt er die WM erst an Südafrika, dann an Brasilien, Russland und Katar, wissen westliche Nationen: Die anderen holen auf.
Nirgends ist Fussball enger mit Politik verbunden als in Deutschland. Der Titel 1954 erlöste das Land vom Schock der Nazi-Jahre. «Der Pokal hatte grosse Symbolkraft und ermöglichte es den Deutschen, zuversichtlicher in die Zukunft zu blicken», sagt der deutsche Botschafter in Bern, Otto Lampe (62). Als erster Kanzler betrat Helmut Kohl (84) an der WM in Mexiko 1986 eine Kabine der deutschen Nationalelf, nach verlorenem Final. Er trank Champagner aus dem Pappbecher. Als Kohl 1996 nach dem Sieg der Europameisterschaft in die Kabine ging, sangen Spieler lauthals «Helmut, senk den Steuersatz!» Fotos von Kohl in der Kabine gibt es keine. Das ist tabu, wusste er. Genauso hielt es sein Nachfolger, SPD-Kanzler Gerhard Schröder (70). Der Fussball-Fan soll stets vor der verschlossenen Kabine auf die frisch geduschten Spieler gewartet haben.
Kaum Distanz zu den Kickern kennt die erste Frau im Kanzleramt. Lange war Angela Merkel der Fussball egal. 2006 gastierte die WM in ihrem Land. Seither müssen Berater sie über Termine der deutschen Elf und verletzte Spieler informieren. An der WM in Südafrika sass sie neben Präsident Jacob Zuma (72). Entzückt klatschte sie bei deutschen Toren.
Der Coup gelang der «unbekümmerten Mutter der Nationalelf», so der «Spiegel», im Oktober 2010. Deutschland spielte in Berlin gegen die Türkei. Merkel besuchte das Team in der Kabine im grünen Sakko. Sie hatte einen Fotografen dabei. Der lichtete die Kanzlerin mit halb nackten Kickern ab. Eines der veröffentlichten Fotos zeigt Merkel mit dem türkischstämmigen Mesut Özil (25). Das Bild galt sofort als Symbol für ein Land mit gelungener Integration. Der Deutsche Fussballverband stimmt der Veröffentlichung zu: «Wir haben das getan, weil das Foto mit der Kanzlerin und Mesut Özil ein Bild mit besonderer Symbolkraft und von gesellschaftspolitischer Bedeutung ist», sagte der damalige Team-Sprecher.
Verklemmter sind da Schweizer Politiker. «Eine heikle Frage für einen Bundesrat», so Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (62) auf die Frage nach dem Lieblingsteam. Er nannte Barcelona und die Berner Young Boys. Auf einer Brasilien-Reise im April liess er sich zwar im famosen Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro fotografieren. Einen Ball wollte er partout nicht in die Hand nehmen. Das sei doch zu viel Spielfreude, meinte ein Pressesprecher. Unlängst befragte die «Schweiz am Sonntag» den gesamten Bundesrat nach fussballerischen Vorlieben. Keiner wollte dazu etwas sagen.
Schweizer hadern
Merkel, Dutzende Minister und Präsidenten reisen nach Brasilien. Die Schweizer hadern. Erst vorgestern entschied sich Sportminister Ueli Maurer (62), beim ersten Spiel der Nati in Brasilia gegen Ecuador auf der Tribüne zu sitzen.
Wochenlang mied Bundespräsident Didier Burkhalter (54) den Entscheid, ob er nach Brasilien reise. Zu voll sei seine Agenda, so das EDA. Er gehe nur, wenn es zu einem bilateralen Treffen mit brasilianischen Ministern komme. Schwierig, angesichts vieler ausländischer Politiker, die Gleiches wollen – und Brasilien als Bühne nutzen.
Seit Freitag ist klar: Burkhalter bleibt abseits.
Religion & Politik verboten
Auf dem Fussballfeld darf es nur um Sport gehen. Die Fifa verbietet politische oder religiöse Äusserungen. Das stoppte Rädelsführer Alain Sutter (46) nicht, beim Länderspiel Schweiz gegen Schweden 1995 in Göteborg mit dem Transparent «Stop it Chirac» gegen französische Atomtests zu protestierten. Der brasilianische Nationalspieler Kaká (32) sieht das Spielfeld als Ort der Mission und streckt ein T-Shirt mit der Aufschrift «I belong to Jesus» in die Kamera, ich gehöre Jesus. Papst Franziskus wird eine Videobotschaft an die WM richten. Die Fifa verbot eine Idee des Pontifex: am Spielfeldrand einen Olivenbaum zu pflanzen.