Von Peter Hossli (Text) und Dado Galdieri (Fotos) aus Rio de Janeiro
Gabriel senkt den Kopf. Gebeugt taucht er ins Versteck unter der Brücke. Es stinkt. Netze liegen da, Boote und Angelruten dort. Über ihm röhrt die Autobahn, die den Flughafen von Rio de Janeiro mit den famosen Stränden der brasilianischen Stadt verbindet. «Wenn sie das finden, bin ich erledigt.»
Gabriel (56) ist Fischer in Rio. Täglich fährt er aufs Meer, seit 44 Jahren vom selben Ort im Complexo da Maré, eine der grössten Favelas der 11-Millionen-Metropole.
Ohne Netze, Boote und Ruten sei er niemand. Jetzt droht er sie zu verlieren. Wegen der Fussball-WM in Brasilien. Die Stadt will ihn weg haben. Zu gefährlich sei er für Touristen, die während der WM über die Brücke fahren. «Ich, gefährlich?» Er lacht. «Nur ein Ärgernis für die Fifa.»
Kein Gramm Fett liegt auf seinem Körper. Er trägt Shorts, Sandalen, eine Uhr. Graue Stoppeln spriessen im Gesicht, auf der Brust.
Nervös zieht er an einer Zigarette, schaut, ob ihn jemand beobachtet. Niemand soll sehen, dass er mit Journalisten redet. Gestern sei eine junge Frau verschwunden, nachdem sie mit Reportern sprach. «Die Narcos», vermutet Gabriel als Täter, Rios Drogenbosse.
Dabei sind die längst weg von Maré. Anfang April fielen 2700 Fallschirmjäger der Armee im Favela-Komplex ein, um die 130 000 Einwohner zu «befrieden», wie es offiziell heisst. «Wegen der Fifa», wie hier alle sagen. An jeder Ecke stehen Soldaten, recken Sturm-gewehre zum Himmel. Bis nach der WM bleiben die Soldaten. Um die Gewalt zu bändigen. Die Narcos wollen am Fussballfest die doppelte Menge Koks absetzen. «Hindert uns die Armee daran, dann brennt Rio», drohte jüngst einer.
Zwei Tage bevor die Fallschirmjäger kamen, kündigte die Stadt die Besatzung an. Die grossen Dealer hatten genügend Zeit, ihre Ware zu packen – und das Weite zu suchen.
Gabriel kann nirgends hin. Ein Fahrrad besitzt er, einen Kühlschrank, eine Sägebank. Auf dem Gelände hat er Bäume gepflanzt: Kokosnuss, Guava, Zitronen, Mango. Was er fängt, legt er in einen Kühlschrank und verkauft es an die Einwohner von Maré. Die WM? «Die ist für die anderen.» Gabriel kennt keinen, der ins Stadion kann. «Die Karten sind viel zu teuer.»
Fussball ist das brasilianische Klischee, wie Samba und Karneval. Gewinnt die Seleção, das Nationalteam, sei Brasilien glücklich, heisst es. «Schiesst Neymar ein Tor, ändert sich in meinem Leben nichts», so Gabriel. «Es ändert sich alles, wenn meine Boote verschwinden.» Er will keine WM. «Die Fifa und Politiker verdienen Geld, wir sind mitten im Krieg.» Er blickt zu den Panzer-Wagen, die seinen Garten umstellen. «Ohne WM gebe es hier keinen Krieg.»
Die WM spaltet Brasilien. Jedes Spiel wird ausverkauft sein. Sieben Millionen Brasilianer haben sich um drei Millionen Karten beworben. Das Land klotzt. 22 Milliarden Franken gibt der Staat aus für die WM und die olympischen Spiele in Rio zwei Jahre später. Statt den von der Fifa verlangten acht Stadien stellt der Staat zwölf bereit. Sogar an Orten wie Manaus im weit entfernten Amazonas. Obwohl es dort eigentlich viel zu heiss und feucht ist für Fussball.
Gleichzeitig fehlt es in Brasilien an allem. An Schulen, Spitälern, Jobs, Platz in Bussen und Zügen.
Dieser Graben trieb letztes Jahr 1,5 Millionen Brasilianer auf die Strassen. Nicht nur in Rio und São Paulo demonstrierten sie gegen Fussball und für Gerechtigkeit. Sondern in über 80 Städten.
Gabriel ist einer von 65 000 Menschen, die in Rio wegen der WM ihr Haus verlieren. Zehntausende sind es in Porte Alegre, Recife, São Paulo.
Zwar sagt die Fifa, die Stadien verdrängten niemanden. Der Weltfussballverband verlangt aber von WM-Städten optische Auffrischungen: schönere Parks, breitere Strassen, sauberere Häfen – oft dort, wo die Armen leben. Die wehren sich zunehmend.
Möglich, dass es während der WM zu Unruhen kommt. Zu gross ist die soziale Ungleichheit in Brasilien. 15 Minuten nur dauert die Fahrt von der Nespresso-Boutique zur Favela, vom neuen Apple-Store zum Slum.
Oder vom Complexo da Maré an die Marina da Gloria – zur Rio Boat Show. 100 Firmen stellen hier Jachten und das nötige Zubehör aus. Champagner fliesst. Hostessen mit langen Beinen und tiefen Ausschnitten servieren Kanapees. Brasilianer mit Goldkettchen und gelierten Haaren besteigen Boote, beäugen Möbel aus Krokodilleder.
«Willkommen an Bord!», ruft ein älterer Herr mit weiter Kaki-Hose aus Baumwolle. Er heisst Miguel. Den vollen Namen gibt er zwar preis, in der Zeitung darf er nicht stehen. «Wegen der Sicherheit.» Miguel ist Milliardär. Er verkauft Software. Coop ist ein Kunde.
Wie Gabriel besitzt Miguel Boote. Sein neuestes kostet 30 Millionen Franken. Er ist der erste Brasilianer mit einem Schiff des edlen italienischen Bootsbauers Benetti, dem Rolls-Royce der Jachten. «Es gefällt mir, deshalb habe ich es gekauft.» Er hält ein iPad in der Hand, mit dem er das ganze Boot steuert.
Zwölf Gäste bringt er bequem -unter. Dazu Koch, Kapitän und -Mechaniker. Er hat sieben Fernseher. Jeder Raum lässt sich individuell heizen und kühlen. Alles wurde von Hand gefertigt, in 15 Monaten.
Niemand in Brasilien soll wissen, dass Miguel diese Jacht besitzt. Darauf fotografieren lässt er sich nur, weil ein Schweizer Blatt das Bild druckt. «Das Schiff ist mein Spielzeug, es ersetzt mein Ferienhaus.»
Wie ist man reich in einem Land mit so viel Armut? «Wir arbeiten viel, arbeiten weltweit, wir sind glücklich.» Mehr sagt er dazu nicht.
Wer in Brasilien viel besitzt, hat sich irgendwann mal «arrangiert», weiss er. Korruption ist weit verbreitet. Kolossal ist der Reichtum in der achtgrössten Wirtschaftsmacht der Welt. Nur in Japan und den USA leben noch mehr Superreiche als in Brasilien. Laut Credit Suisse zählt das Land 230 000 Millionäre. Täglich kommen 19 hinzu.
Rasant wächst die Nachfrage nach teuren Jachten – jährlich um 25 Prozent. Manager kaufen sie, Stars, Industrielle, ehemalige Generäle. Der Trend ist klar: «Je grösser und teurer, desto eher greifen Brasilianer zu», sagt die Sprecherin von Bootsbauer Benetti. «Brasilianer zeigen gerne, was sie haben und was sie sich leisten können.» An der brasilianischen Südküste vergrösserte Benetti eben die Werft ihrer Tochterfirma. Der bald «wichtigste Markt für Jachten» sei Brasilien. «Reiche wollen die 7000 Kilometer Küste geniessen.» Wie viel geben sie dafür aus? «Minimum zwei Millionen Dollar, gegen oben gibt es keine Grenzen.»
Auf die Grenze zwischen Crack und Kokain zielen Schrotflinten, gehalten von den Soldaten, die in Maré patrouillieren. Rechts von ihnen liegt ein Fussballfeld, links eine verfallene Schule. Nördlich der Grenze gibt es billiges, rasch süchtig machendes Crack. Südlich das reinere und teurere Kokain.
20 Grenadiere sichern die Grenze. Sie schieben je acht Stunden -Wache. An ihren Gewehren vorbei gehen Mütter, die Babywagen -stossen. Mädchen, die ins Ballett gehen. Knaben, die verbeulte Bälle jagen.
Pamela (14) zieht mit zwei Freundinnen durch die dreckigen Strassen. Sie ist hübsch, gross für ihr Alter. Ihr Vater handelt mit Kokain. Sie verachtet die Armee. «Es war besser, als sie nicht hier war», sagt Pamela. «Die Dealer verstehen uns», sagt sie. «Sie respektieren, wer wir sind, geben uns Häuser, schützen uns, lassen die Frauen in Ruhe, schlagen die Kinder nicht.»
Anders die Soldaten. Sie zerren Frauen und Kinder auf die Strassen. Jungen Dealern nehmen sie den Pot ab – und verkaufen ihn selber.
«Die Soldaten schlagen uns», klagt Pamela an. Sie will weg, Anwältin werden. Und es dem Vater zeigen, dass sie es raus schafft.
Pamela wäre eine Ausnahme, sagt Yvonne Bezerra de Mello. «Es kommt kaum jemand weg.» Seit 20 Jahren holt sie in den Favelas von Rio Kinder von der Strasse und bringt sie ins Klassenzimmer, in eine Schule, die sie in Maré betreibt. «Die Stadt macht nichts.»
Propaganda sei die Mär der sinkenden Armut in Rio. «Seit 20 Jahren hat sich die Situation in den Favelas nicht verbessert. Wer etwas anderes behauptet, lügt.»
Dem widerspricht Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff (66). Seit 2004 seien 30 Millionen Brasilianer der Armut entkommen. Die Mittelklasse wachse. «Falsch», entgegnet Bezerra. Es mangle an allem. Zuerst falle der Strom stets in den Favelas aus. «Brasilien löst seine Probleme nicht.»
Eine «illegale Besatzung» sei die Befriedung der Favelas. Die brasilianische Regierung gehorche der Fifa.» Keiner ihrer Schüler werde ein Spiel sehen. «Ist die WM vorbei, fliegen hier wieder die Kugeln, blüht der Handel mit Crack.»
Jede Ecke in Rio sei kontrolliert. Von der Mafia. Der Polizei. Dem Militär. Politikern. Waffenhändlern. Daran ändern wolle die Elite nichts. Bezerra hofft auf ein frühes Ausscheiden der Seleção. «Brasilien darf nicht Weltmeister werden.»
Zumal sich Präsidentin Rousseff im Herbst den Wählern stellt. «Hat Brasilien den WM-Titel, gewinnt Dilma.» Sie fleht. «Bitte, bitte, verliert!»