Von Peter Hossli
Zehn Jahre lang sass Ex-Oligarch Michail Chodorkowski (50) hinter Gittern. Vor zehn Tagen liess ihn Russlands Präsident Wladimir Putin (61) frei. Der Milliardär flog nach Berlin; bei der Schweizer Botschaft beantragte er ein Visum für die Schweiz. Noch ist der Antrag hängig. «Wir gehen bei ihm nicht schneller vor, als bei jeder anderen Person», sagt ein EDA-Sprecher.
Chodorkowski hat gute Gründe, sich in der Schweiz niederzulassen. Seine Frau und Zwillingssöhne leben hier. Russlandkenner gehen davon aus, dass sein Vermögen auf Schweizer Konten liegt. Vor zehn Jahren liess Russland sechs Milliarden Franken davon per Amtshilfe einfrieren. 2004 entschied das Bundesgericht, den Grossteil der Gelder freizugeben. Es gibt keine Hinweise, dass es abgeflossen ist.
Doch wer ist Michail Chodorkowski? Der geschmeidig anmutende Mann, der in der Sowjetunion Chemie und Volkswirtschaft studiert hat – und beim Fall des kommunistischen Grossreichs zunächst mit Schnaps und Jeans handelte, dann eine Bank kaufte, ein enger Freund des ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin (1931–2007) wurde und dank dessen Hilfe ein Öl- und Handelsimperium aufbaute. Zuletzt soll sein Vermögen acht Milliarden Dollar betragen haben.
Pilar Bonet kennt Chodorkowski besser als viele andere; 2003 traf sie ihn zu einem seiner letzten Interviews vor der Verhaftung. Seit über 20 Jahren arbeitet sie in Moskau als Korrespondentin für die spanische Tageszeitung «El País». Für Sonntagsblick beantwortet sie die wichtigen Fragen zu Chodorkowski.
Warum liess Putin Michail Chodorkowski gerade jetzt frei?
Wegen der Olympischen Spiele in Sotschi. Putin will Boykotte und Demonstrationen verhindern. Für Putin sind die Spiele sehr wichtig. Russland darf sich nicht blamieren.
Was denken die Russen über Chodorkowski?
Als er ins Gefängnis kam, sahen ihn viele Russen als einen von jenen, die dank ihrer Beziehungen zur politischen Kaste reich geworden waren. Die meisten interessierten sich 2005 nicht für den Prozess gegen ihn. Erst beim zweiten Prozess ab 2009 fiel vielen Russen auf, dass Putin einen persönlichen Rachefeldzug gegen Chodorkowski führte.
Wie unterscheidet sich Chodorkowski von anderen Oligarchen?
Kein anderer Oligarch dachte unabhängiger als er. Er ist klug und hat langfristige Pläne. Während andere sich allein darauf konzentrieren, reich zu werden, hat sich Chodorkowski Gedanken über Land und Gesellschaft gemacht. Putin liess es zu, dass Oligarchen sich bereichern – so lange sie sich politisch nicht einmischten. Das passte Chodorkowski nicht. Er wollte etwas bewegen. Putin sah ihn als Gefahr.
Warum ist Putin sein Feind?
Chodorkowski war sein direkter Gegenspieler. Er war der Ansicht, das System müssen sich jetzt ändern. Putin wollte den Zeitpunkt für Reformen selber festlegen.
Was war seine Rolle nach dem Zerfall der Sowjetunion?
Wie viele andere Oligarchen profitierte Chodorkowski von der Nähe zu Jelzin – und von dessen Schwäche. Bei den Auktionen der privatisierten Unternehmen in den Neunzigerjahren gewährte er Darlehen an den Staat und kam so zu Konzernen wie Yukos, dem Gas- und Ölkonglomerat. Es waren Russlands wilde Jahre: Nichts war real, weder Politik noch Wirtschaft. Alle betrogen, niemand war sauber. Chodorkowski war kein Engel. Wie andere Oligarchen war er ein Komplize im korrupten System. Wie sie ermöglichte Chodorkowski 1996 die Wiederwahl Jelzins.
Wie wurde Chodorkowski reich?
Durch die Privatisierung staatlicher Sowjet-Unternehmen. Allerdings besass Chodorkowski bereits viel Geld. Er hatte es in den Achtzigerjahren, zur Zeit von Michail Gorbatschow (82), in kommunistischen Jugendabteilungen verdient.
Warum musste Chodorkowski ins Gefängnis?
Offiziell wurde er 2005 verurteilt, weil er Steuern hinterzogen, Geld gewaschen und betrogen hatte. Jedem, der in Russland in den Neunzigerjahren reich wurde, kann der gleiche Vorwurf gemacht werden. Wer angeklagt wurde, war ein politischer Entscheid, kein juristischer. Beim zweiten Prozess ging es darum, ihn im Gefängnis zu halten. Interessant ist nicht, warum er angeklagt wurde, sondern warum es vielen anderen nicht geschah.
Welche politische Rolle hatte er vor der Haft?
Er unterstützte politische Parteien wie die Regierungspartei und United Russia, also nicht nur die Opposition. Zudem finanzierte er zivile Institutionen.
Was ist für Russland wichtiger – die Freilassung von Pussy Riot oder von Chodorkowski?
Die Freilassung Chodorkowskis ist weit wichtiger. Er ist der wichtigste Gegenspieler Putins. Ihn gehen zu lassen, soll weltweit Sympathien erwecken.
Noch ist nicht klar, ob Chodorkowski zurück in die Politik geht. Fit genug wäre er. Ärzten fiel auf, wie gesund er nach 10 Jahren Haft aussah – gut genährt, gepflegt, perfekte Zähne. Wer auch nur ein Jahr im Gulag steckt, ist normalerweise kaum wiederzuerkennen.