iLove you

Zeitgleich überall, nie allein, ständig abgelenkt, total verfallen – das iPhone verändert, wie wir sind.

Von Peter Hossli (Text) und Stefan Bohrer (Fotos)

iphone2Sie säuselte es an einem Sommertag auf dem Perron. «Für einen Mann haben Sie schöne Beine.» Und dann: «Sie riechen gut.»

So begann einst ein Flirt. Wartet sie heute auf den Zug, starrt sie auf ihr iPhone. Mustert keine Männer in kurzen Hosen, riecht keine Düfte.

Das iPhone hat den Flirt erledigt.

Und nicht nur das. Nichts greift so sehr in unseren Alltag ein, beeinträchtigt die Psyche mehr als das kluge Telefon in der Hosentasche, das begehrte Weihnachtsgeschenk. «Es verändert uns radikal», sagt US-Gehirnforscher Gary Small.

Es ist das Letzte, was wir nachts loslassen, das Erste, das wir morgens berühren. Fast alles, was wir tun, kreist um das iPhone – und um Nachahmer wie BlackBerry und Galaxy. Es ist Büro und Fotoapparat in einem, die Bibliothek, die Auffahrt ins Internet, Agenda und Kiosk, Wecker und Telefon. Kein anderer Begleiter steht uns näher.

Plötzlich ist normal, was vor kurzem absurd schien. Auf der Toilette lesen wir Tweets, auf dem Skilift Aktienkurse. Mütter streicheln ihr iPhone, während ihr Baby im Sand krabbelt. Väter schieben Buggys durch Städte und tippen Mails. Aus weissen Stöpseln rieseln beim Velofahren globale Podcasts. Eltern schelten Kinder, sie würden nur gamen und SMS schicken statt mit ihnen zu reden. Nur um dann selbst zu gamen und SMS zu schicken.

Autistische Gesellschaft
Mit Folgen. «Sind wir immer verbunden, entfällt die Ruhezeit», sagt Small. «Um kreativ zu sein, müssen wir aber Tagträumen.» Da uns dies abhanden gehe, «wird die Gesellschaft zunehmend autistischer.»

In Restaurants liegen beim Dinner zu zweit zwei Telefone auf dem Tisch. Ist das Essen bestellt, ergreifen beide das Gerät. Sie schreibt, er liest. Ist der Salat verzehrt, tauschen sie Gabel wieder mit Telefon.

iphone3Ein Coiffeur beim Zürcher Hauptbahnhof bietet «Free Wifi» an, gratis Zugang ins Internet. Statt mit dem Figaro zu plaudern, chatten seine Kunden nun mit der Welt.

Gleichzeitig hier, und doch dort und überall sind wir mit dem iPhone. Nehmen an Sitzungen teil und teilen unter dem Tisch der Freundin mit, welcher Film wann läuft.

Im Kino berühren wir den Touchscreen, wenn die Leinwand gerade nicht fesselt. Langweilt die Vorlesung, packt eine App. Vibriert es auf dem Tisch im Café, steigen wir aus Gesprächen mit Freunden aus, sind virtuell woanders. Oder wir denken nur, es vibriere. Da es alle tun, stört es kaum noch jemanden.

Rechteckig ist die Realität, das Besondere verdichtet von der Linse. Sagt der Bub beim Samichlaus sein Sprüchlein auf, filmen wir, statt zu schauen. Tausende Smartphones halten fest, wenn der Papst spricht, im Hallenstadion einer rockt. Als Gaddafi leblos in der Gruft lag, beugten sich Libyer über den Ex-Diktator, schauten ihn nur über den Bildschirm an. Weg war die Aura des historisch einzigartigen Moments.

Die Geräte beleben tot geglaubte Zeit. An der Haltestelle zücken wir das iPhone, an der Kasse im Coop, im Wartezimmer beim Arzt. Autofahrer schicken SMS im Stau, lesen noch hurtig ein Mail beim Rotlicht.

Solange der Akku mag, fliessen Töne, Texte, Fotos und Videos aus dem iPhone ins Gehirn. Nonstop.

Das, sagen Hirnforscher, verändert unser Denken. Pausen haben den Menschen weitergebracht. Geholfen, Erlebtes zu verarbeiten, Gedanken zu speichern, daraus Wissen zu formen. Wer nur aufnimmt, nie ausruht, lernt nichts, vergisst. «Weil alle Informationen ständig abrufbereit sind, bemühen wir uns nicht mehr, uns etwas zu merken», sagt der Chef-Psychiater der Stanford University, Elias Aboujaoude.

Wissenschaftler belegen, wie das Smartphone ungeduldiger macht, impulsiver, narzisstischer, uns die Empathie raubt. Nervosität nimmt zu, die Fähigkeit, nonverbale Zeichen zu deuten, schwindet. «Wer nur über Bildschirme in Kontakt mit anderen ist, kann Körpersprache nicht mehr interpretieren», so Gehirnforscher Small. Das menschliche Gehirn aber habe sich durch den Austausch von Angesicht zu Angesicht entwickelt. «Das geht verloren.» Genau wie die Effizienz. «Wer die Umgebung immer absucht nach Stimulanz, leistet wenig – es ist wie ein Auto, das ständig anfährt und sofort wieder stoppt.»

iphone1Nie mehr allein
Weil wir nicht allein sein können, halten wir am iPhone fest, schreibt Soziologin Sherry Turkle in ihrem Buch «Alone Together», gemeinsam allein. «Die kleinen Geräte sind psychologisch so mächtig, sie verändern nicht nur, was wir tun, sondern wie wir sind», sagt die Professorin am Massachusetts Institute of Technology in Boston.

Das sonderbare Verhalten – wir greifen mitten im Gespräch zum Smartphone, warten sehnsüchtig auf ein Summen in der Hose, starren auf den Bildschirm und vergessen alles um uns herum – erklärt die Soziologin so: Das iPhone ermögliche einen sauberen und kontrollierten Austausch. «Echte Gespräche sind oft schmutzig.»

Zudem nehme das Smartphone uns die Angst, niemand höre zu. Wir glauben, auf Twitter und Facebook, per Mail und SMS ein treues Publikum zu haben. «Von Technologie erwarten wir mehr, als von uns selbst und von Freunden.»

Geräte wie das iPhone helfen uns in Lebensbereichen, wo wir am verletzlichsten sind. Mit total kontrollierbaren Beziehungen. «Jeder hat Angst vor Einsamkeit und Intimität», sagt Professorin Turkle. «Ein Smartphone gibt uns die Illusion von ständiger Gesellschaft, ohne die Bürde echter Freundschaften.»

Drei Dinge gaukeln uns Smartphones vor: Dass wir uns stets auf alles konzentrieren können. Uns jemand zuhört. Wir nie allein sind.

Falsche Geborgenheit aber verbiege die Psyche. Es sei zentral, Einsamkeit auszuhalten, weiss Turkle. «Wirklich einsam wird nur, wer unfähig ist, allein zu sein.» Wie viele, die zum Smartphone greifen, um etwas zu empfinden. Merken sie, dass nur ein digitales Wesen aufmerksam ist, fallen sie in Trauer.

Untersucht hat Turkle, wie Kinder auf Eltern reagieren, die oft am Telefon herumfummeln. Ihre erschreckenden Ergebnisse: Die Kleinen unterdrücken Gefühle, wenn Mama und Papa das Telefon in der Hand halten. Die traurige Tochter weint nicht, wenn die Mutter sie mit dem iPhone am Ohr von der Schule abholt. Der fröhliche Sohn lacht nicht, wenn der Vater tippt.

iphone4Sucht und Liebe
Das Problem ist erkannt. Viele Familien verbannen das iPhone vom Esstisch, Paare aus dem Schlafzimmer. Beizen verbieten es. An Partys der High Society ist es schick, Telefone am Eingang zu lassen. Ein Unternehmer in Kalifornien offeriert gegen teures Geld mehrtägige Entwöhnungskuren. Geräte sind nicht erlaubt beim «Digital Detox».

Einen Kurzfilm über das Leben mit dem iPhone drehte die Schauspielerin Charlene deGuzman (30). In zwei Minuten schildert sie, wie wir Leben auf dem Touchscreen der Realität vorziehen – im Ehebett, in der Natur, auf dem Spielplatz, im Theater, mit Freunden, an Festen.
Wie ein trauriger Spiegel wirkt ihr Film «I Forgot my iPhone». Bisher haben ihn 35,5 Millionen Menschen auf YouTube gesehen.

Sie wissen: Der kleine Bildschirm ist die grosse Mauer zur Welt. Liegt das Telefon in der Hand, ist alles andere unwichtig. «Bin gleich bei dir, nur noch ganz kurz», sagt der Vater zum Kind auf der Rutschbahn – und tippt weiter. Wie der Alkoholiker und sein ewig letzter Drink.

Dann ist es eine Sucht? Zumindest fühlen sich Menschen, die ihr Gerät zu Hause vergessen, rasch gestresst. Lassen sie es liegen, empfinden sie Trennungsängste. «Es ist für jene Sucht, deren Alltag es negativ beeinflusst», sagt Small.

Ähnlich wie bei Heroin- und Nikotinsüchtigen fliesse bei iPhone-Nutzern das Glückshormon Dopamin. Aktiv sind vor allem jene Zonen im Hirn, die bei Gefühlen ansprechen, als handele es sich beim iPhone um einen Freund, ein Familienmitglied, den Lover. Als seis Liebe. Diesen Liebhaber gibt es in verschiedenen Farben und mit bis zu 64 Gigabyte digitalem Speicher.

Flirten aber kann er nicht.