Von Peter Hossli (Text) und Katarina Premfors (Fotos)
Es ist kalt in der Wüste. Mit einem Halstuch schützt sich Carlos Van Meek vor der rauen klimatisierten Luft. «London, hört ihr uns?», beginnt er die Sitzung, sein Akzent ist amerikanisch. «Wir haben zwei Bomben in Beirut, wer dahinter steckt ist reine Spekulation.»
Es ist 13 Uhr in einem Aussenquartier von Doha, im Emirat Katar am Persischen Golf. Straff führt Tagesleiter Van Meek, 45, die mittägliche Konferenz beim Nachrichtensender Al Jazeera English. Per Videoschaltung dabei sind Kollegen aus London und Sarajevo. Hoch ist das Tempo der Sitzung, ebenso die Konzentration. Im Nu berichtet Van Meek, was bekannt ist. Beirut. 22 Tote, darunter Irans Kulturattaché. Vermutlich Autobomben.
Und so soll die Geschichte laufen: «Zena berichtet tagsüber live aus Beirut, Soraya aus Teheran. Ich will Reaktionen der Saudis, der Kataris, der ganzen Region.»
Die Geschichte sei wichtig, sagt er und erklärt: «Der Bürgerkrieg von Syrien schwappt in den Libanon über.» Eine Kollegin unterbricht. «Das ist kompliziert. Wie erklären wir das?» Van Meek weiss wie: «Langsam, vorsichtig, in glasklarem Englisch.»
Er ist ein Amerikaner aus Miami. Für Al Jazeera arbeitet er seit 2006. «Weil dieser Sender die Welt erklären möchte», sagt er. «Das macht heute kaum noch jemand.»
Seit November 1996 ist Al Jazeera auf Sendung, anfänglich nur auf Arabisch. Eine objektive Stimme in einer Welt voller Zensur sollte es sein, mit Platz für alle Meinungen.
Heute gilt Al Jazeera – zu Deutsch die Insel – als «erfolgreichstes arabisches Projekt der letzten zwanzig Jahren», sagt Mostefa Souag, Al Jazeeras Generaldirektor. 220 Millionen Haushalte in über 100 Ländern erreicht der Sender. Feste Korrespondenten berichten aus rund 70 Ländern. Reporter und Produzenten aus über 60 Nationen arbeiten allein in Doha. Seit 2006 ist neben Al Jazeera Arabic zusätzlich Al Jazeera English auf Sendung. Im Sommer 2013 startete Al Jazeera America in New York.
Gemächlich zuckelt der Verkehr auf breiten wie verstopften Strassen durch Doha. Wind wirbelt Wüstensand auf. Eine einzige Baustelle scheint die Stadt zu sein. Einzelne Quartiere sehen so abgegriffen aus wie jene in Beirut, andere glänzen wie in Dubai.
Unwirtlich wirkt die Gegend um das Hauptquartier von Al Jazeera, weitab der gläsernen Wolkenkratzer im Stadtzentrum. Hinter dem streng bewachten Eingangstor liegt ein Parkplatz, bedeckt mit Zeltplachen, damit die Autos in der Bruthitze des Sommers kühl bleiben. Von einer feinen Sandschicht bedeckte Satellitenschüsseln ragen hinter hohen Zäunen zum Himmel. Zwei schmucklose Gebäude stehen einander gegenüber: Aus einem berichtet Al Jazeera Arabic, vom anderen Al Jazeera English – zwei Welten, die zusammengehören und doch verschieden sind.
Aufgeräumt ruhig wirkt die Redaktion des englischsprachigen Senders, angeregt und laut die arabische. Das englische Café serviere das bessere Essen, heisst es, bei den Arabern fallen die klügeren Witze. Auf beiden Seiten erscheinen Journalisten in Jeans oder im Anzug zur Arbeit, dazu Männer im Dischdascha, dem traditionellen weissen Gewand, und Frauen mit verhülltem Haar.
Es ist kurz vor zehn Uhr. Mitten im hell erleuchteten Newsroom von Al Jazeera English steht das Pult der Ansager, nah beim Team von Tagesleiter Van Meek. Ein letztes Mal blickt Sue Turton in den Spiegel, richtet Haar und Make-up, prüft den Text im Teleprompter. Hinter ihr bewegt sich eine Weltkarte. «Bitte Ruhe», ruft eine Produzentin, «in 20 Sekunden sind wir live.» Uhren zeigen die Zeit in Washington und London, in Doha und Kuala Lumpur.
Fünf, vier, drei, zwei, eins. Die rote Lampe leuchtet. «Hallo, das ist Al Jazeera, ich bin Sue Turton, das sind die wichtigsten Meldungen des Tages.» Britisch präzise sagt sie Berichte aus Chile und Russland an, aus den Philippinen und den USA.
So gross wie eine Basketball-Halle wirkt das Büro von Al Anstey. An der Wand hängen Bildschirme. Alle zeigen News. Seit drei Jahren ist der stattliche Engländer bei Al Jazeera English Chefredaktor. Er schwärmt von seiner Redaktion. «Es gibt sonst keinen TV-Sender, der so international ist wie wir.» Er wälzt sich im bequemen Ledersofa. «Für jede Geschichte haben wir jemanden mit lokalem Bezug im Haus.» Entgegen dem weltweiten Spartrend in der Medienbranche baut Al Jazeera noch immer aus. «Wir können es uns leisten, jede gute Geschichte zu machen.»
Vor allem deshalb wechselte Anstey vom britischen Sender ITN zu Al Jazeera. Er erzählt, wie er einst in Bangladesch eine Flutkatastrophe filmte mit Hunderten von Toten. Doch in der ITN-Redaktion in London sei niemand daran interessiert gewesen, «weil der Bezug zu England fehlte». Anders Al Jazeera. «Wir denken global, uns ist egal, wo etwas passiert, wenn es wichtig ist, bringen wir es.»
Skepsis treibe ihn, und Skepsis treibe seine Journalisten. «Wir hinterfragen alles.» Dennoch klebt am Sender ein negativer Nimbus. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2011 geriet Al Jazeera in Verruf. Terrorfürst Osama bin Laden sandte Videobotschaften nach Doha. Al Jazeera strahlte sie aus.
Während des Irak-Kriegs 2003 zeigte Al Jazeera, wie irr geleitete US-Bomben irakische Zivilisten töteten. «Al Jazeera wirbt für Terrorismus», schimpfte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.
Heute seien die Vorbehalte verschwunden, sagt Chefredaktor Anstey. Erst kürzlich lobte Hillary Clinton, Al Jazeera strahle «echte News» aus – im Gegensatz zu US-Sendern. In der arabischen Welt sei der Sender sogar «der König», sagte die einstige US-Aussenministerin.
Ein heikles Thema in Doha. Besonders seit die arabische Welt in Aufruhr ist. So soll Al Jazeera geholfen haben, Muammar Gaddafi in Libyen zu stürzen, ebenso Hosni Mubarak in Ägypten. «Der Arabische Frühling ist wichtig», sagt Ashtey. «Wir haben ihn nicht ausgelöst, wir haben beeinflusst, wie die Welt ihn wahrnimmt.»
Nach dem Aufstand in Tunesien 2011 hätten sich rund 50000 Ägypter auf Facebook gegen Präsident Mubarak ausgesprochen. Journalisten in Doha sahen es – und berichteten darüber. Ebenso, wie die Menschen im gesamten arabischen Raum auf diese Berichte reagierten. «Das hat die Dynamik beschleunigt.»
Man muss über die Strasse gehen, um in den Newsroom von Al Jazeera Arabic zu gelangen. Männer im Dischdascha sitzen im Kontrollraum. Redaktion und Moderatorenpult sind getrennt, zu laut wäre es, alles im gleichen Raum zu haben. Angeregt palavern arabische Journalisten über Politik. «Politik ist in unseren Leben zentraler als im Westen», sagt Rawan Al-Damen, 34. Sie leitet die Dokumentarfilm-Abteilung bei Al Jazeera Arabic. «Wer Bildungsminister ist, entscheidet darüber, ob deine Kinder zur Schule dürfen. Im Westen gehen alle zur Schule.»
Ihr Büro ist fensterlos, sie teilt es mit sechs Personen – aus Marokko und dem Irak, aus Jordanien und Grossbritannien, darunter Muslime und Christen. «Ich bin Palästinenserin», sagt Al-Damen. Nach Doha kam sie 2006, «weil ich für einen panarabischen Sender arbeiten wollte.»
Das Geheimnis von Al Jazeera habe sie erst hier entdeckt. «Niemand redet dir rein, und es hat genügend Geld für Dokumentarfilme.» Sie sagt, was westliche Journalisten kaum noch über ihren Arbeitgeber sagen: «Al Jazeera ist erfolgreich, weil es ein hohes Budget hat und die journalistische Qualität an erster Stelle kommt. Verschwindet etwas von beidem, verschwindet Al Jazeera.»
Doch wie unabhängig kann sie arbeiten? Kritiker bezeichnen Al Jazeera Arabic als Megafon der Muslime. Der Emir von Katar verbreite damit seine politische Linie. «Falsche Vorurteile», erwidert Al-Damen. «Mich hat mein Boss noch nie angerufen und gesagt, ich müsse diese oder jene Person anrufen – sobald das passiert, kündige ich.»
Unter solch privilegierten Bedingungen zu arbeiten, bedinge grosse Verantwortung. Als Beispiel nennt Al-Damen die Berichterstattung über den politisch aufgeladenen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Ihr Kniff: Sie lässt israelische Historiker sprechen, die kritisch über Israels Siedlungspolitik urteilen.
Eine Lösung für den ewigen Konflikt im Nahen Osten sei kaum möglich, nicht zuletzt wegen den arabischen Medien. «Wir müssen aufhören, gemeinsam die Geschichte der Palästinenser zu beweinen», sagt Al-Damen. «Wir müssen die Erfolgsgeschichte erzählen, die gute Geschichte über Palästina.»
Kann sie sich durchsetzen? «Frauen sind im Fernsehen oft Moderatorinnen, selten Produzentinnen», sagt sie. Da funktioniert Al Jazeera wie viele andere TV-Sender der Welt: «Als Frau muss ich dreimal härter arbeiten, um akzeptiert zu werden.»
Leger sitzt Adrian Finighan, 49, im Sessel. Erst in fünf Stunden geht der Moderator bei Al Jazeera English auf Sendung. Siebzehn Jahre moderierte er für die BBC, fünf bei CNN. Kurz machte er PR, dann kam ein Angebot aus Doha. «Kein Moderator mit ein bisschen Verstand lehnt das ab», sagt der Engländer.
«CNN kürzt ständig, die BBC hat ein limitiertes Budget, Al Jazeera investiert.» Für jede Geschichte könnten Reporter ins Flugzeug steigen. So berichteten drei Teams über den Taifun Haiyan auf den Philippinen.
Wie alle anderen arbeitet Finighan vier Tage, hat dann vier Tage frei. Er ist nicht der einzige TV-Star, der von einem grossen US-Sender zu Al Jazeera kam. Hohe Saläre locken erfahrene Journalisten nach Doha. Steuern zahlen sie nicht. Dafür sind sie etwas einsam. Wie viele westliche Journalisten lebt Finighan zwar in Katar, nicht aber sein Kinder und die Ehefrau. «Wir fanden nicht die richtigen Schulen», sagt er. Oft fliegt er nach London, heim zur Familie.
Das Geld für Al Jazeera kommt aus dem Boden. Katar ist eine Halbinsel im Persischen Golf, mit einem Viertel der Fläche der Schweiz. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten hier knapp 20000 Menschen. Nur wenige konnten lesen und schreiben. Heute gibt es 200000 Katari – und 1,8 Millionen Gastarbeiter. Unter dem Sand liegt reichlich Öl, unter dem Meeresgrund viel Erdgas. Dank der Bodenschätze ist der Emir von Katar eine der reichsten Personen der Welt. Über 100 Milliarden Dollar hat sein Staatsfonds im Ausland investiert, etwa bei Volkswagen, dem Flughafen Heathrow in London, der Credit Suisse.
Wie viel er für Al Jazeera ausgibt, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Befiehlt, wer zahlt? Finighan wiegelt ab. «Wäre Al Jazeera tendenziös, wäre ich nicht hier», sagt der Moderator. «Schliesslich steht mein Ruf auf dem Spiel.»
Zugleich Segen und Fluch sei das Geld. «Es ist schön, als Journalist keine Gewinne erzielen zu müssen», sagt er. «Gefährlich ist, wenn kein Quotendruck auf dir lastet, nötige Änderungen kommen dann oft zu spät.» Dringend müsse der Sender optisch frischer und jünger werden. Zu gross sei das Studio. Zumal immer mehr Menschen den Sender auf Smartphone schauten. «Auf dem iPhone ist der Moderator kaum zu sehen.»
Das soll Ramzan Al Naimi ändern, der Direktor der visuellen Abteilung. «2014 wird das kreative Jahr für Al Jazeera», sagt er. Al Naimi, 33, sitzt in einem der wenigen lichtdurchfluteten Büros, trägt Dischdascha, richtet mehrmals nervös die Kopfbedeckung zurecht. Auf dem Pult steht ein Apple-Bildschirm. Die Wände zieren Porträts von Steve Jobs, Einstein und Matisse.
Seit vierzehn Jahren arbeitet der Katari für Al Jazeera, zuvor studierte er in Kairo. Anfänglich bediente er den Teleprompter. Heute hat er 140 Personen unter sich, aus Ungarn und England, den USA und Singapur, aus Malaysia und Palästina. Eine Grafikerin stammt aus dem Sudan. «Viele Designer waren einst Journalisten», sagt er. «Sie verstehen das Geschäft mit den Nachrichten.» Sie entwickeln und verfeinern das Erscheinungsbild von Al Jazeera, setzen Titel, wählen Fotos, bestimmen die Kleider der Ansager, das Make-up, die Frisuren.
Noch sehen Al Jazeera English und Al Jazeera Arabic unterschiedlich aus. Nun will Al Naimi sie zusammen führen, dem modernen Erscheinungsbild von Al Jazeera America anpassen. «Das Design muss klar, sauber und einfach sein.» Sein Vorbild? Apple.
Fast zu Ende ist die Mittagskonferenz. Zuletzt geht es um Sport. «Mich interessiert das WM-Qualifikationsspiel von Frankreich», sagt Tagesleiter Van Meek. «Scheidet Frankreich aus, bringen wir das gross.» Er lacht.
Zur Schadenfreude kommt es nicht. Frankreich gewinnt und fährt an die WM. Al Jazeera vermeldet nur das Resultat.
Die Geschichten Afrikas erzählen
Seit drei Jahren arbietet Azad Essa, 31, bei Al Jazeera. Er ist in Südafrika aufgewachsen.
Azad Essa schreibt für die englischsprachige Website. Ursprünglich stammt er aus Durban, trägt mal Jeans und Pullover, am nächsten Tag einen Kaftan, ein knöchellanges Kleid.
Journalistisch Fuss fassen konnte er in seiner Heimat nicht. «Alle verlangten die immer gleichen Geschichten von mir, das passte mir nicht.»
Essa wollte weiter gehen, inhaltlich in die Tiefe und gedanklich in die Breite. Er lancierte seinen eigenen Blog, vermischte Journalismus und Soziologie. Seine Texte gefielen. Ein Verlag gab sie in einem Buch heraus. Just in diesem Moment bewarb er sich bei Al Jazeera – und bekam einen Job.
Hier in Doha fand er ein Medienhaus, für das er über ganz Afrika berichten kann. «Sie schicken mich dorthin, wo ich hin will.» Aus Somalia und Kenia sandte er Texte über Hungersnöte nach Doha, aus dem Kongo über den Bürgerkrieg, er ging in den Senegal und begleitete den Wahlkampf. Und aus Namibia berichtete er über eine schlimme Dürre, «niemand sonst interessierte sich dafür».
Er sitzt vor einem Computer im zweiten Stock der Redaktion von Al Jazeera English in Doha und arbeitet eine Kanadierin und einen Kanadier ein. Seine anderen Kollegen stammen aus dem Iran und den USA, aus Somalia, Pakistan und Indien, aus England und Georgien. Ein grosser Vorteil, sagt Essa. «Bei Al Jazeera gibt es für jede Geschichte einen Insider, jemanden, der sich wirklich in diesem Land auskennt.»
Was ihm als Journalist enorm helfe. «Jedes falsche Vorurteil, das ich von einem Land habe, kann ich sofort korrigieren», sagt Essa. «Noch bevor Al Jazeera etwas Voreingenommenes ausstrahlt, kommt dem garantiert einer auf die Schliche.»
Doha ist für Essa ein «komischer Ort, ohne Kultur, es gibt nur Geld, und es ist aufwändig, sich mit dieser Gesellschaft zu befassen». Er sei vor allem hier, um sich von seinen Reportagen zu erholen. «Ich tanke auf – und gehe dann wieder.»
Ohnehin will er eines Tages nach Südafrika zurück. «Und dort anwenden, was ich bei Al Jazeera gelernt habe.»
Interview mit Al-Jazeera-Generaldirektor Mostefa Souag