“Vollständige Vernichtung”

Vor 75 Jahren brannten die Nazis 1406 Synagogen nieder und plünderten unzählige jüdische Geschäfte im Deutschen Reich. Schweizer Diplomaten warnten unmittelbar danach vor der Eliminierung der Juden, wie ihre Depeschen an den Bundesrat belegen.

Von Peter Hossli

hannoverHans Frölicher mochte die Deutschen. Wegen seiner «ausgezeichneten Beziehungen zu den Kreisen, die augenblicklich an der Macht sind», entsandte ihn der Bundesrat 1938 nach Berlin. Was der Solothurner aber in jener Nacht im November sah, irritierte ihn. «Alles, aber auch alles» werde «kurz und klein geschlagen», schrieb Frölicher am 11. November an Bundesrat Giuseppe Motta. «Die Polizei war … überhaupt nicht zur Stelle und leistete Hilferufen keine Folge.» Sein Fazit: «Jeder Freund Deutschlands muss diese Vorgänge als tief bedauerlich ansehen.»

Mit den Vorgängen meinte Frölicher die schlimmsten Judenpogrome seit dem Mittelalter. Am 7. November hatte Herschel Grynszpan (17) in Paris den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath angeschossen – aus Protest gegen Hitlers Judenpolitik. Als vom Rath zwei Tage darauf starb, brannten organisierte Banden 1406 deutsche Synagogen nieder, vergriffen sich an jüdischen Geschäften, töteten 1500 Juden.

Zum 75. Jahrestag der «Reichskristallnacht» hat SonntagsBlick jene Depeschen ausgewertet, die Schweizer Diplomaten damals nach Bern schickten. Ab morgen Montag sind sie in Berlin ausgestellt. Detailgenau beschrieben Schweizer Diplomaten das Geschehen – und sie ahnten, was auf Europas Juden zukommen sollte. Allerdings forderte keiner, die Beziehungen zum Regime zu kappen – oder die Grenzen für Juden zu öffnen. Bern blieb passiv, bis zum Ende der Nazi-Diktatur.

Keine Fotos!
Am aufschlussreichsten berichtete Konsul Franz-Rudolf von Weiss aus Köln. Die Zerstörung in seiner Wahlheimat, notierte er am 12. November, hätten den Anschein, «dass in Köln plötzlich die Vandalen aufgetaucht seien». Der Lausanner schildert, wie «die Jugend nicht genug Sadismus zeigen konnte». Sein Beleg: «Die [in Synagogen]für die rituelle Handlung benutzten Zylinderhüte flogen auf die Strasse und dienten der Jugend zum Fussballspiel. Ebenso ging es mit den pietätvoll aufbewahrten Pergamentrollen, auf denen das Alte Testament geschrieben steht.» Nicht nur Synagogen und Geschäfte seien zerstört worden – sondern auch Wohnungen. Auf den Strassen lagen zerschellte Klaviere. «Noch heute kann man an Bäumen und Büschen Bettfedern hängen sehen.»

Bewusst zerstörten die Nazis Beweise. «Herr Hirschi, ein Schweizer Student in Friedberg, Adolf-Hitler-Polytechnikum», so meldete Vizekonsul Hans Dasen aus Frankfurt nach Bern, hätte ein zerstörtes jüdisches Geschäft fotografiert. Sofort verhaftete ihn die Polizei und nahm ihm die Kamera ab. Er habe sie wieder erhalten, «während der Film beschlagnahmt bleibt». Beklemmend, wie Dasen Hirschi tadelte: «Ich habe nicht verfehlt, Herrn Hirschi den Vorwurf zu machen, dass es überaus unklug von ihm gewesen sei, zu fotografieren.»

Schweizer betroffen
Die Angriffe seien «nicht spontane Handlungen aus der Bevölkerung heraus» gewesen, urteilte Frölicher in Berlin. «Sondern von gewisser Seite systematisch organisiert und befohlen worden.» Von wem, wusste von Weiss: «Angehörige der SA und SS haben mir bestätigt, dass sie in der Nacht vom 9. zum 10. November den Auftrag erhielten, zur Durchführung des Zerstörungswerks anzutreten.»

Leider seien durch die «Racheaktionen gegen die Juden auch jüdische Landsleute betroffen», notierte Frölicher. In den Depeschen finden sich Enteignungen und Verhaftungen von Schweizer Juden, sogar Deportationen ins KZ Dachau. «Angesichts der Entwicklung der Dinge legt die Gesandtschaft überdies den Schweizer Juden nahe, ihre Rückkehr in die Schweiz ins Auge zu fassen», schrieb Berlin warnend nach Bern.

Ein «geringes Sensorium für die Verfolgungspolitik» sei in Schweizer Berichten generell zu erkennen, sagt der Historiker Gregor Spuhler. Er leitet das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. «Die Depeschen zu den Novemberpogromen waren   Ausnahmen», sagt Spuhler, «der Schock war bei allen gross.» Oft interessierten sich Schweizer Diplomaten nur für Auswirkungen auf die Schweiz. «Von Weiss stach heraus, ihn interessierten die Menschen, er hatte Mitleid mit allen, die unter Verfolgung und Krieg leiden mussten.»

Sie warnen deutlich
Schweizer Diplomaten verstanden sehr wohl, was um sie herum geschah – und sie warnten erstaunlich deutlich. «Man trifft keinen Menschen, der nicht sofort auf das Thema ‹Judenverfolgung› zu sprechen kommt», berichtete von Weiss. Wobei die Gewalt, nicht der Antisemitismus in der Kritik stand. Alle machten ihrem «Unwillen, ja Abscheu über die dabei angewandten Methoden Luft».

Besonders bestürzt seien die Katholiken, berichtet von Weiss und zitiert einen hohen geistlichen Würdenträger: «Herr von Weiss, behalten Sie, was ich Ihnen aus innerster Überzeugung sage: die jetzige Zerstörung der Synagogen war die Generalprobe für die Zerstörung der katholischen und evangelischen Gotteshäuser!» Ein Irrtum. Kirchen brannten erst bei Bombardements der Alliierten.

«Herr Bundesrat», beginnt ein Schreiben Frölichers vom 14. Dezember. «Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Deutschland eine vollständige Eliminierung der Juden herbeizuführen beabsichtigt.»

Weitere Gewaltakte erwartete Frölicher jedoch nicht. «Dagegen wird durch immer weitergehende gesetzliche Massnahmen die Existenzmöglichkeit der Juden eingeschränkt.» Die Absicht: «Sie zur Auswanderung zu veranlassen.»

Aus Paris berichtete der Gesandte Walter Stucki. Er beschrieb am 15. November ein Mittagessen «im engsten Familienkreis» mit Ernst von Weizsäcker, einem einflussreichen SS-Mitglied und Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Nach dem Mahl diktierte Stucki eine scharfe Depesche für Bern. Bewusst habe er «das Gespräch … auf die gegenwärtig akute Judenfrage gebracht», so Stucki.

Von Weizsäcker gebe zu, dass «die Nationalsozialistische Partei derart im Kampf gegen das Judentum engagiert» sei, «dass sie nicht mehr zurück, ja nicht einmal stillstehen kann.» Stuckis Zeilen hätten die Welt aufrütteln müssen: «Die noch in Deutschland verbliebenen circa 500000 Juden sollten unbedingt irgendwie abgeschoben werden, denn sie könnten in Deutschland nicht bleiben.» Von Weizsäcker warnte: «Wenn, wie bisher, jedoch kein Land bereit sei, sie aufzunehmen, so gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen.»

Im Juli 1941 beschlossen die Nazis, alle Juden Europas systematisch zu töten.

Ausstellung
Ab Morgen Montag zeigen das Auswärtige Amt und das Berliner Centrum Judaicum eine Auswahl von diplomatischen Berichten zu den Pogromen von 1938. Sie stammen von den Gesandten jener 48 Staaten, die damals in Deutschland diplomatische Vertretungen hatten. Gezeigt werden auch Schweizer Berichte. www.centrumjudaicum.de

froelicher2Die Schweizer Depeschen nach den Novemberpogromen

11.11. 1938, Hans Frölicher, Berlin

11.11. 1938, Hans Dasen, Frankfurt

12.11.1938, Franz-Rudolf von Weiss, Köln

14.11. 1938, Max Kunz, Mannheim

15.11. 1938, Walter Stucki, Paris

15.11. 1938, Walter Adolf von Burg, Wien

15.11. 1938, Franz-Rudolf von Weiss, Köln

17.11. 1938, Franz-Rudolf von Weiss, Köln

17.11. 1938, Paul Ritter, München

19.11. 1938, Hans Frölicher, Berlin

22.11. 1938, Franz-Rudolf von Weiss, Köln

01.12. 1938, Hans Frölicher, Berlin

14.12. 1938, Hans Frölicher, Berlin

17.12. 1938, Hans Dasen, Frankfurt