Von Peter Hossli (Text) und Maria Schiffer (Fotos)
Etwas verloren steht der Schweizer Botschafter in Berlin im Treppenhaus seiner Residenz. «Wo muss ich jetzt hin?», fragt Tim Guldimann (62) eine Mitarbeiterin. «Du wirst oben von Fotografen erwartet», duzt sie ihn. «Dein Kragen sitzt nicht», sagt der Botschafter, richtet ihn – und steigt aufs Dach, wo er vor der Schweizer Fahne posiert. Zur Rechten liegt der Bundestag, zur Linken das Kanzleramt. Die Schweiz ist mittendrin.
Ein gutes Dutzend Journalisten hat Guldimann zum Lunch geladen. Um die deutschen Wahlen soll es gehen. Ein Botschafter aber hat die Innenpolitik seines Gastlandes besonnen zu kommentieren. «Wahrscheinlich bleibt die Nachbarin im Amt», sagt er nur – und greift dann zum diplomatischen Kniff. Statt selbst zu reden, bittet er Gattin Christiane Hoffmann zu Tisch. Sie arbeitet im «Spiegel»-Büro Berlin. «Bei euch im ‹Spiegel› glaubt ihr ohnehin zu bestimmen, was am 22. September passiert», sagt er ironisch.
Hoffmann errötet – und bestätigt ihren Mann: Merkel bleibe wohl Nachbarin und somit Kanzlerin. «Es gibt keine deutsche Wechselstimmung. Die Kanzlerin ist populär.» Offen sei nur, mit wem sie regiere. Zwei Drittel der Deutschen wollten eine Regierung aus CDU/CSU und SPD, erklärt Hoffmann. «Politisch ist eine grosse Koalition am wahrscheinlichsten.»
Am grossen ovalen Tisch tragen Bedienstete das Essen auf. Föderalistisch ausgewogen ist die Kost: Minestrone zur Vorspeise, danach Eglifilet nach Neuveviller Art, Walliser Roten und Weissen. Guldimann trinkt Weissen – und scheint zu merken: Es funktioniert nicht, wenn Journalisten eine Journalistin befragen, die auch seine Frau ist.
Er entschliesst sich, selbst zu reden – bleibt aber vage und allgemein. Was sagt er zur Aussage des deutschen Botschafters in Bern, Deutschland habe eine «Bringschuld» – nachdem zwei Staatsverträge scheiterten? «Das ist schön, wenn die Deutschen das so sehen», sagt Guldimann. «Ich bin aber vorsichtig.» Ohnehin interessiere sich Deutschland nicht allzu sehr für die Schweiz. «Wir machen uns keine Illusion», sagt Guldimann. «Wir haben eine andere Agenda als Deutschland, unsere wichtigsten Themen sind nicht auf dem Schirm von Frau Merkel, der Flughafen erreicht nicht ihre Flughöhe.» Beklagen mag er sich nicht. «Es ist einfach, in Deutschland als Diplomat tätig zu sein», sagt Guldimann. Ein Schweizer Botschafter habe hier in Berlin einen «guten Zugang» zur Politik. Einen besseren als in Paris, Rom oder London.
Hier geniesse die Schweiz viel Wohlwollen. «Das bedeutet aber nicht, dass deutsche Politiker unsere Positionen einfach unterstützen, sondern dass sie unsere Anliegen anhören.»
Für die Schweiz seien deutsche Wahlen ein «sehr wichtiges Ereignis». Danach werde sich «einiges mehr oder weniger ändern». Selbst wenn weiterhin die Schwarz-Gelben regierten, kämen neue Minister dazu. «Das Thema Energie wird zentral», sagt Guldimann. «Im bilateralen Verhältnis hat die Energie einen weit grösseren Stellenwert, als viele glauben.»
Bleibt Wolfgang Schäuble (70)? Der Finanzminister, der der Schweiz wohlgesonnen ist? Ein Blick zur Gattin soll die Frage klären. «Es gibt kein Anzeichen, dass er geht», sagt Hoffmann. Guldimann ergänzt: «Er macht einen tatkräftigen Eindruck.»
Wie sieht Deutschland die Schweiz? «Es gibt in Deutschland ein naiv positives Schweiz-Bild», sagt Guldimann. Kritik komme erst auf, wenn ein Thema die deutsche Innenpolitik betreffe – beim Steuerstreit oder beim Flughafen Zürich.
Diplomat Guldimann bekleidete Posten in Kairo und Teheran. Seit 2010 ist er Botschafter in Berlin. Was hat er hier gelernt? «Dass wir allen Grund haben, international selbstbewusster aufzutreten.» Und was kann die Schweiz von Deutschland lernen? «Die Bereitschaft, aus der eigenen historischen Erfahrung europäische Verantwortung zu übernehmen.»
Wo er den Wahlsonntag verbringen wird, weiss er noch nicht. «Es gibt Wahlpartys von Parteien wie Medien, ich werde verschiedene Anlässe besuchen und dadurch keine Präferenzen markieren.» Da ist er Diplomat.