“Ruhig wird es wohl erst, wenn ich nicht mehr Bundesrätin bin”

Die Finanzministerin spricht über ihre Fehler, wie es im Fall USA weitergeht – und was sie von Edward Snowden hält.

Interview: Peter Hossli

ews_flugzeugFrau Bundesrätin, was machen Sie gegen Flugangst?
Eveline Widmer-Schlumpf: Nichts, ich fliege gern.

Wir landen in Moskau, wo Edward Snowden auf dem Flughafen lebt. Was halten Sie von ihm?
Er ist eine widersprüchliche Figur. Zum einen wehrt er sich dagegen, dass Daten überwacht werden. Zudem fordert er mehr Datenschutz. Nun sucht er Zuflucht in einem Land, wo Menschenrechte und Datenschutz nicht immer im Vordergrund stehen.

Er machte das US-Spähprogramm publik. War das richtig?
Es ist wichtig, dass der Terrorismus bekämpft wird. Der Zweck heiligt gewisse Mittel. Es ist jedoch fragwürdig, wenn ein Land ein anderes ohne dessen Wissen flächendeckend überwacht. Selbst bei der Terrorbekämpfung braucht es Regeln. Diese Regeln müssen von allen eingehalten werden.

Was die Schweiz sehr wohl weiss. Zuletzt fiel die von Ihnen eingebrachte «Lex USA» im Parlament durch. Was lief falsch?
Wir hatten zu wenig Zeit, um die Problematik zu erklären. Die USA wollen ein Programm des Justizministeriums durchsetzen. Für sie ist das eine rechtliche Frage, keine politische. Diesen Unterschied zu erklären, war nicht einfach.

Bemühten sich die Parlamenta­rier zu wenig, das zu verstehen?
Der Ständerat hat hervorragende Arbeit geleistet. Das Gesetz war jedoch sehr komplex, da seine Folgen nicht einfach schwarz oder weiss waren. Es gab Schattierungen. Bedauerlich ist, dass der Nationalrat nicht darauf eintreten und die Vorlage diskutieren wollte.

Sie würden das gleiche Gesetz erneut vorschlagen?
Juristisch gesehen gab es keine bessere Variante, als auf dieses vom US-Justizdepartement angebotene Programm einzusteigen. Es ist aber offenbar nicht gelungen, das klar zu kommunizieren – auch mir nicht.

Dann haben Sie Fehler gemacht?
Ja, ich habe Fehler gemacht. Wir gingen beispielsweise davon aus, dass das Parlament vom Programm Kenntnis nehmen kann. Kurz vor der Session sagten die Amerikaner jedoch, dass sie das Programm nicht öffentlich machen wollen. Das war eine Fehleinschätzung.

Es folgte eine schwere Niederlage. Wie stecken Sie diese weg?
Niederlagen gehören zur direkten Demokratie. Ich stehe zu diesem System. Klar, ich war enttäuscht und habe mich gefragt, was ich hätte besser machen können. Frustriert war ich nicht, sondern ich suchte sofort nach einer anderen Lösung.

ews_hossliSie präsentierten Plan B. Wie beurteilen Sie seine Chancen?
Wir haben für zwölf Banken Eckwerte festgelegt, die es ihnen ermöglichen, weiter mit den USA zu kooperieren. Ein Teil dieser Banken hat bereits Gesuche für Datenlieferungen gestellt. Wir sind mit den USA kontinuierlich in Kontakt. Diese Diskussionen sind nicht einfach.

Sie haben beim Fall Polanski mit den USA verhandelt, dann im Steuerstreit. Warum ist es mit Amerikanern stets schwierig?
Sie funktionieren anders, handeln anders. Polanski, der Fall UBS, die jetzige Situation – all das sind aus US-Sicht reine Rechtsfälle und somit Angelegenheiten der Justiz. Politisch lässt sich da nichts verhandeln.

Sie ernten dafür heftige Kritik. Wie halten Sie es aus, Blitzableiter der ganzen Schweiz zu sein?
Jemand muss den Kopf hinhalten, sonst würde der Blitz ja einschlagen. Derzeit haben wir viele Probleme und Unsicherheiten. Es ist daher notwendig, die Situation laufend zu analysieren und Lösungen zu suchen.

Die «Zeit» schreibt, es sei ein Wunder, dass Sie noch stehen.
Sachlich ist es nicht allzu schwer. Schwierig ist es bei persönlicher und unsachlicher Kritik. Manchmal frage ich mich, ob es sich erst beruhigt, wenn ich nicht mehr Bundesrätin bin.

Hier in Moskau reden Sie mit anderen Finanzministern über die Weltwirtschaft. Wo stehen wir?
Die Wirtschaft erholt sich, aber langsamer als erhofft. Viele Länder haben noch immer grosse Probleme. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Wichtig ist, dass die Schulden weiter abgebaut werden, ohne dass die Investitionen zurück­gehen.

In Moskau geht es zudem um den automatischen Informa­tionsaustausch (AIA). Wann macht die Schweiz da mit?
Den flächendeckenden Austausch von Daten lehnen wir ab. Es soll um steuerrelevante Daten wie Zinserträge und Dividenden gehen.

Dann wäre die Schweiz dabei?
Es braucht einen globalen Standard der OECD. Alle wichtigen Finanzplätze müssen sich beteiligen. Der Standard muss reziprok und der Datenschutz sichergestellt sein. Zudem müssen die wirtschaftlich Berechtigten bekannt sein. Daten dürfen nur für Steuerfragen verwendet werden.

Wann steht ein solcher AIA?
Das weiss ich nicht, aber er kommt, und er wird global sein. Sonst funktioniert er nicht. Aufhalten lässt sich diese Entwicklung nicht mehr.

Vor kurzem sagten Sie noch, der AIA sei ein Friedhof von Datenmaterial. Woher der Wandel?
Der AIA bleibt ein Friedhof von Datenmaterial. Entscheidend ist, was wir damit machen. Der Weg der Abgeltungssteuer wäre sicher effizienter, und er bringt mehr Geld.

Und doch sind alle dagegen.
Viele Staaten wollen nicht nur das Geld, sondern Transparenz. Allerdings darf man sich fragen, ob es nicht gerechter wäre, wenn alle ihre Steuern bezahlen, ohne dass der Staat ihre Namen kennt.

Die Abgeltungssteuer ist gescheitert?
Für die Zukunft steht der AIA im Vordergrund. Das müssen wir akzeptieren.

Pranger ersetzt Pragmatismus?
Wird ein Fussballstar vorgeführt, weil er seine Steuern nicht ordentlich bezahlte, hat das weit mehr Aussagekraft, als wenn eine Steuerbehörde sagt, sie habe jemanden erwischt, der anonym sehr viel nachzahlte.

Kommt der AIA auch im Inland?
Das ist nicht vorgesehen. Nur wenn die Steuerbehörde einen begründeten Verdacht hat, darf sie den Zugriff auf Bankdaten verlangen. Das ist kein AIA.

Welche Chance geben Sie der Initiative «Ja zur Privatsphäre», die das Bankkundengeheimnis in der Verfassung verankern möchte?
Sie erleichtert es sicher nicht, Steuerhinterzieher zu erwischen. Zudem würden Fatca und viele Doppelbesteuerungsabkommen in Frage gestellt. Diese Initiative scheint mir nicht ganz durchdacht.

An fast jeder Ecke in Zürich steht ein Café von Starbucks. Der Konzern zahlt in der Schweiz legal aber keine Steuern. Warum?
Leider gibt es Firmen, die weltweit nirgends Steuern bezahlen. Sie verschieben Gewinne und rechnen Aufwände ab, die sie zum Teil nicht haben.

Was ist dagegen zu tun?
Noch ist das legal. Deshalb ist es Aufgabe der Staatengemeinschaft, einen Riegel zu schieben. Niemand darf doppelt besteuert werden. Aber weder Personen noch Firmen sollen vollständig von ihrer Steuerpflicht entbunden werden.

Was schlagen Sie vor?
Der Steuerort soll primär dort sein, wo die Wertschöpfung erbracht wird. Eine globale Unternehmensbesteuerung darf es aber nicht geben. Jeder Staat soll sein eigenes System behalten.

Die Schweiz ist unter Druck, weil sie ausländische Gewinne anders besteuert als inländische. Verliert die Schweiz die steuerlichen Vorteile, könnte sie im internati­nalen Wettbewerb zurückfallen.
Die Schweiz ist steuerlich attraktiv – und sie wird es bleiben. Wichtig ist, dass wir die Steuerreform rasch umsetzen. Die Rechtssicherheit ist zentral. Die Schweiz ist nicht nur steuerlich attraktiv. Unternehmen schätzen gut ausgebildete Menschen, die politische Stabilität und die gute Infrastruktur.

Warum sprechen Sie nur ungern über sich selbst?
Meine Person und mein Privatleben werden oft genug thematisiert. Da muss ich nicht noch dazu betragen.

Was ist denn schlecht an personalisierter Politik?
Als ich vor 25 Jahren in die Politik ging, standen Lösungen im Zentrum. Heute dienen Diskussionen oft dem Wahlkampf. Dieser wird immer persönlicher geführt.

Wie kann man das ändern?
Es braucht mehr Köpfe, die sich für Lösungen einsetzen statt anderen auf den Füssen herumtreten.

Welche Ziele verfolgen Sie noch als Bundesrätin?
Derzeit habe ich viele Baustellen, die ich in Ordnung bringen will. Neue Ziele braucht es da nicht.

Was treibt Sie denn noch an?
Solange ich das Gefühl habe, ich könne durch meinen Einsatz für die nächste Generation etwas bewirken, stehe ich morgens gerne auf.

Mit Not-Schoggi am Gipfel der Mächtigen – der Besuch von Eveline Widmer-Schlumpf in Moskau