Von Peter Hossli (Text) und Thomas Grabka (Fotos)
Der Kampf gegen den Schlaf ist so eine Sache. Autofahrer dürfen ihn nie verlieren. Und ein Kandidat fürs deutsche Kanzleramt? Auf den unablässig Kameras zielen? Der muss gegen müde Augen und schwere Glieder kämpfen – und hoffen, dass es keiner merkt.
Peer Steinbrück (66) gelingt das an diesem Mittwochabend recht gut, zumindest anfänglich.
Er sitzt in der vordersten Reihe im Atrium des Willy-Brandt-Hauses, Parteizentrale der SPD. Vor ihm lesen zwei Schauspieler aus Briefen, die Günter Grass (85) und Willy Brandt (†78) einander einst schrieben – anspruchsvolle Kost.
Steinbrück und Grass sollen später darüber palavern. Jeder Stuhl ist besetzt, selbst am Boden hocken Menschen, schlürfen Orangensaft und Prosecco. «Eine tolle Kombination: Grass, der Literat, gegen Steinbrück, den kalkulierenden Denker», sagt eine ältere Frau. «Ich bin wegen beiden hier.»
Bevor sie sich auf der Bühne duellieren, lauschen sie eine Stunde lang dem intellektuellen Pingpong von damals. Wer da müde ist, nickt rasch ein. Das darf Steinbrück nicht passieren. Ein Schnappschuss beim Dösen geriete schnell zum Symbolbild für seinen harzigen Wahlkampf. Die Genossen kürten ihn im Dezember zum Spitzenkandidaten. Er soll Angela Merkel (58) am 22. September aus dem Berliner Kanzleramt drängen.
Heute sind Steinbrücks Umfragewerte und jene der SPD auf einem historischen Tief. Nur 26 Prozent der Deutschen stehen noch hinter ihm – eine Folge zu vieler Fehler. «Pannen-Kandidat», titelt das «Handelsblatt» und meint Steinbrück. Beim SPD-Kanzlerkandidaten «liegen die Nerven blank», weiss die «Badische Zeitung». Im «Jammertal» sieht ihn ein ORF-Kommentator. Derweil ist die SPD-Spitze zerstritten. Genossen zweifeln heute, ob Steinbrück je geeignet war.
Er selbst ist dünnhäutig geworden, rügt die Presse, die Kanzlerin zu bevorzugen, ihn zu verunglimpfen. Dabei sollte er wissen: Politiker, welche Reporter schelten, weil diese ihre Schwächen aufzeigen, haben schon verloren.
Wichtiger ist heute die Schlacht gegen den Schlaf. Steinbrück zuzuschauen, tut fast weh. Er kratzt sich hinter dem Ohr, reibt das rechte, das linke Auge, gibt den Kopf der Fliehkraft hin, hebt ihn kurz vor dem Einnicken, nimmt ein Tuch, poliert die Brille. Unruhe ist seine stille Waffe in diesem Kampf. Allzu nervös darf er jedoch nicht wirken, sonst hiesse es, die Briefe des alten Grass langweilten ihn.
Bei jedem halben Witz drückt er einen Lacher raus. Klatscht der Saal, klatscht er kräftig mit. Zuletzt gibt er sich geschlagen – gähnt lange. Kameras klicken. Jetzt kann er nur noch hoffen, dass die Fotografen diese Bilder höflich verstecken.
Endlich die Erlösung. Die Lesung ist vorbei. Steinbrück darf auf die Bühne und was er gerne tut: reden. Zumindest hofft er es. Die erste Frage aber geht an Grass. «Wie begann ihre Beziehung zu Willy Brandt?» Der Dichter holt aus.
Steinbrück ist klar: Dieser Abend funktioniert nicht. Zuerst nickt er fast ein, dann ist der Spitzenkandidat nur Statist neben Grass, der bei ihm sitzt, und Brandt, der als Bronzebüste ohnehin alle überragt.
Die zweite Frage? Geht an Grass. «Wie kam der Wechsel vom Du zum Sie?» Neunzig Minuten ist Steinbrück nun hier, ohne etwas zu sagen. Die dritte Frage geht an ihn, dreht sich aber um alle anderen. «Welche Erinnerungen hast du an das Paar Brandt/Grass?» Steinbrück erwacht, prescht vor wie ein Rennpferd aus der Startmaschine, zitiert Grass-Gedichte. Und wirkt dabei übermotiviert, nicht etwa souverän.
Schlecht beraten ist, wer sich so einen Abend mitten im Wahlkampf antut, sagen Parteikollegen. «Peer umgibt sich mit falschen Leuten», so ein SPD-Landtagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen, wo Steinbrück einst Ministerpräsident war. «Seine Beraterliste zeigt vor allem eines: Das kann nicht gut gehen.»
Brandts Berater war Grass, eine Art intellektueller Wellenbrecher. Hat Steinbrück einen? «Früher war das intellektuelle Deutschland halt eher bereit, sich politisch einzumischen – ich wünschte mir, es würde es erneut tun.» Heisst: An ihm reibt sich kein kluger Kopf mehr.
Vielleicht klagt er deshalb so viel, nörgelt mehr, als er begeistert.
Einig sind sich Grass und Steinbrück, was im Herbst das brennende Thema sein soll. «Diese Wahl wird über soziale Gerechtigkeit entschieden», sagt der Kandidat. «Es gibt in Deutschland eine unentschuldbare Schere zwischen Arm und Reich», doppelt Grass nach.
Ihr Problem: Viele Deutsche teilen diese Ansichten nicht. Sie zeigen sich zufrieden. Sind die Bürger glücklich, gewinnt meist die Partei an der Macht. Und die hat Merkel.
Steinbrücks zweites grosses Thema ist die Krise in Europa. Merkel spare Europa zu Tode. Er hingegen werde mit deutschem Geld Jobs schaffen in Spanien und Italien, Griechenland und Portugal. «Der europäische Zusammenhalt soll uns etwas kosten», verlangt Steinbrück. Mehr ausgeben will er auch für Bildung und Brücken, Strassen und ein schnelleres Internet.
Das Geld dafür nehme er den «höheren Einkommensetagen» weg. Nur er habe «den Mut, mehr Steuern zu fordern». Mut, der ihm im Wahlkampf bisher reichlich Ärger eingetragen hat. Fast nonstop zeichnet ihn die Kanzlerin als Steuertreiber. Experten haben längst ausgerechnet: Steinbrücks Steuerpläne bitten neben den Reichen auch die Mittelschicht zur Kasse.
Was sich der Kandidat für die letzten 86 Tage bis zur Wahl wünsche, fragt ihn zuletzt der Moderator. «Eine Mehrheit für die SPD!» Endlich zeigt er jene Schlagfertigkeit, auf die er sich lange verlassen konnte.
Sie reicht nicht für ein lockeres Bad in der Menge. Irgendwie fühlt sich der Kandidat bedrängt von Menschen, die ein Autogramm von oder ein Foto mit ihm wollen. Für ihn ist das nur Pflicht, nicht Kür.
Genervt scheint er, als eine Frau fragt, warum er ihren Brief nicht beantwortet habe. «Ich beantworte alles», sagt er trotzig. «Ich schrieb vor drei Monaten, bisher ist nichts passiert.» – «Bei so viel Post bleibt halt mal etwas länger liegen.»
Kein Leibwächter schirmt ihn ab. Als ihn einer anrempelt, verliert er fast das Gleichgewicht, greift sich ein Glas Weisswein und beobachtet, wie Grass Bücher signiert.
Dann hat er wohl Zeit für ein kurzes Gespräch mit SonntagsBlick? «Herr Steinbrück, wie kitten Sie als Kanzler das Verhältnis zur Schweiz?» Steinbrück erschrickt, als werde er attackiert. Der Mann, der einst die Kavallerie gegen die Schweiz und ihr Bankgeheimnis ausreiten lassen wollte, fürchtet sich offensichtlich vor der Frage des Schweizer Reporters. «Wollen Sie jetzt ein Interview haben? Das mache ich nicht einfach so aus dem Stand.» – «Ich bin hier als Journalist angemeldet.» – «Das geht nicht, da muss doch jedes Wort bedacht sein.» Ein Berater mischt sich ein: «Gerade bei der Schweiz.»
Steinbrück: «Wenn Sie etwas fragen wollen, setzen Sie sich mit meinem Pressemann in Verbindung, dem Herrn Klein.» – «Bereits getan, leider nichts gehört.» – «Wir sind etwas überbeansprucht, aber wir arbeiten alles systematisch durch.»
Er wendet sich ab, geht. Ein Ehepaar um die 50 beobachtet, wie der Kandidat den Reporter abserviert. «Der ist vorsichtig geworden», sagt sie. «Die Presse hat ihn fertiggemacht, jetzt wirkt er geschlagen.»
Wie einer, der vom Ross gefallen ist. Vom Peitschen-Peer ist wenig geblieben, verpufft das einst stolz vorgeführte Charisma. Er ist einsam inmitten seiner Partei.
Zwölf Stunden später, unter der Kuppel des Berliner Bundestages: Kurz vor neun betritt Steinbrück den Ratssaal, wirkt frischer. Wenige Minuten nach ihm folgt Kanzlerin Merkel, begleitet von ihren Ministern. Sie schüttelt Hände, geht durch die Reihen, unterhält sich, lächelt, als wolle sie zeigen: Hier im hohen Haus bin ich die Chefin.
Der Kandidat, der das ändern will, würdigt sie keines Blickes. Er putzt die Brille, feilt an seiner Rede.
Über Syrien spricht Merkel, das G-8-Treffen, die Zukunft der EU, Hochwasser im Osten und freien Handel unter Ländern im Westen. Redet über Themen, die Steinbrück besetzt: Jugendarbeitslosigkeit im südlichen Europa, wie sie Steuerschlupflöcher stopfe, preist den automatischen Austausch von Daten.
Steinbrück horcht, angespannt wie ein Boxer am Rand des Rings.
Kaum ist sie fertig, räumt ein befrackter Saaldiener ihr halb volles Glas ab, bringt es an Merkels Platz und stellt am Rednerpult ein neues hin – für Steinbrück. Der beginnt angriffig. «Ihre Regierungserklärung sagt nichts, sie tönte nur gut.» Schon drei, vier Mal habe er sie gehört. «Wir brauchen keine Stehsätze mehr.» Merkels Aussagen stünden krass im Widerspruch zu Fakten. «Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist eine direkte Folge einseitiger Sparpolitik, die Sie massgeblich betrieben haben.» Sie eile von EU-Gipfel zu EU-Gipfel, die alle nichts brächten. «Vermeiden Sie eine weitere Show, die unerfüllte Erwartungen auslöst.» Auch haushalte Merkel mies. «Sie können nicht mit Geld umgehen», sagt Steinbrück. «Regieren Sie in der Wüste, wird der Sand knapp.»
Solch kernigen Sätze hoben ihn einst an die Spitze der deutschen Sozis, bewogen Altkanzler Helmut Schmidt (94), dem «Spiegel» zu sagen: «Er kann es.» Kanzler werden und sein.
Floskeln kann er auch: «Von dieser Bundesregierung haben wir nichts mehr zu erwarten, es ist Zeit für einen Wechsel.» Sieger tönen kühner. Artig applaudieren die Genossen.
Zehn Autominuten entfernt, im Hotel Ellington, soll Steinbrück um 11.30 Uhr vor Gemeindepolitikern sprechen. Um 11.28 Uhr fährt die VW-Limousine vor. «Ich komme direkt aus einem Rededuell mit der Frau Bundeskanzlerin», grüsst er. «Ich war jedenfalls der Unterhaltsamere», bildet er sich ein. «Merkel hielt zum tausendsten Mal die gleiche Rede. Es war wie ‹Und täglich grüsst das Murmeltier›.»
All das wirkt platt, verloren, nicht ganz aufgeräumt. Die Hose ist zerknittert, die Jacke zu lang. Er hat abgenommen – auch an rhetorischem Gewicht. Trat er einst gerne in Fettnäpfchen, verstrickt er sich heute ängstlich in Gemeinplätzen.
Immerhin: Er kämpft, gestern gegen den Schlaf, heute um Stimmen. «Lauft, macht Wahlkampf!», ruft er. «Da draussen sind zehn Millionen Frauen und Männer, die uns einst wählten. Gewinnen wir die Hälfte zurück, gewinnen wir die Wahl.»
Dagegen sprechen Zahlen. «Umfragen gehen mir am Buckel vorbei.» Er meint: Fällt ein echter Reiter vom Ross, rappelt er sich wieder auf.
Deutschland sucht die Koalition
Heute in zwölf Wochen wählt Deutschland den neuen Bundestag. Keine Partei wird die Mehrheit holen. Je nach Ausgang müssen CDU/CSU oder SPD eine Regierungskoalition bilden. Möglich ist auch eine grosse, rot-schwarze Koalition. Gemäss einer neuen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen kommen CDU/CSU derzeit auf 43 Prozent der Stimmen, die SPD liegt bei 26 Prozent. So dürfte Kanzlerin Merkel erneut mit der FDP die Regierung bilden. Die SPD mit Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hofft auf ein Bündnis mit den Grünen und den anderen Linksparteien.
Geprägt ist der Wahlkampf von der Europa-Politik. Merkel will sparen, Steinbrück mit noch mehr Zuschüssen die Wirtschaft in Südeuropa beleben.
Er drängt auf mehr europäische Integration. Rot-Grün beklagt eine Spaltung der Gesellschaft und will Gutverdiener höher besteuern. Das, kritisiert Merkel, schwäche die Wirtschaft.