“Dank mir kam Brasilien auf die Landkarte”

Sie nennen ihn «O Rei» – den König. Er war die erste echte 10, wurde dreimal Weltmeister. Eine Begegnung mit Pelé ein Jahr vor der WM in Brasilien.

Von Peter Hossli (Text) und Gustavo Manoel (Fotos)

Auf den König muss selbst der CEO warten. Es ist kurz nach Mittag, ausserhalb der brasilia­nischen Metropole São Paulo.
Nervös wippt Thomas Schmall mit seinen ledernen Schuhen. Er leitet Volkswagen do Brasil, gebietet über 24 000 Angestellte. Jetzt hat er sich zu gedulden, weil der König verspätet ist.

Der König? Das ist Pelé, der grösste Fussballer aller Zeiten.

Dreimal war er Weltmeister mit Brasilien, erzielte 1281 Tore, war die erste echte 10. Zudem schaffte er eine Karriere nach der Karriere, als Geschäftsmann, als Minister, der Korruption bekämpfte, als Schauspieler, der Nazis besiegte. Sogar einen Roman schrieb er. Ihm gelang, was Fussballern nach dem Rücktritt oft misslingt: Pelé stürzte nie ab.

Präsidentin Dilma Rousseff berief ihn in die Planungs-Gruppe der WM, die hier in einem Jahr beginnt. Sie weiss: Pelé, Fussball und Brasilien sind weltweit
Synonyme.

An diesem warmen Montag besucht Pelé (72) ein Autowerk in São Bernardo, hält eine Pressekonferenz ab, gibt Interviews an  Journalisten, die Volkswagen aus Europa eingeflogen hat.
Vorerst wippt VW-Chef Schmall noch mit den Schuhen. Wo ist Pelé? Kameras harren. Leibwächter mit Knopf im Ohr beäugen die Zufahrt. Endlich klingelt ein Telefon. Pelé kommt. Just hechten die Fotografen auf die Strasse. Ihre
Kameras surren. Vier dunkle Autos fahren vor, aus dem vordersten steigt «O Rei» – der König.

Er ist kleiner als erwartet, hat volles Haar, ist schlank, fit, nach einer Hüft-Operation hinkt er leicht.

Des Königs Kleider sind schlicht. Zur hellblauen Hose trägt er ein schwarzes Jackett und ein kitschig silbrig verziertes Hemd. Vom Hals baumelt ein goldenes Christus-Kreuz. Später nimmt er es ab.

Eine erste Hand schüttelt er noch sitzend im Auto. Er lächelt, grüsst Schmall, stellt ihm Theresa vor, eine junge Amerikanerin, die sein Image verwaltet. Ein Image, das echt scheint – und herzlich. Pelé gibt sich als einer, der für alle immer Zeit hat, egal, wer von ihm Zeit beansprucht. Der jedem das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein. Der allen etwas gibt, die etwas von ihm wollen. Eine Berührung, einen Augenblick, ein kurzes Lächeln.

Kein Wunder, ist die Pressekonferenz verspätet, die Tour im Autowerk, die Interviews. Zuerst muss er mit VW-Managern posieren, verschwindet mit ihnen im Nebenzimmer, um Sushi und Palm-Herzen zu verzehren, gebratenen Fisch und brasilianisches Rind.

Der Lunch ist Pflicht, denn Pelé arbeitet jetzt für Volkswagen. Bis 2016 hat der deutsche Auto-Hersteller die brasilianischen Rechte an ihm erworben. Pelé tritt für VW auf, wirbt in pfiffigen Spots für Autos und Fussball, nimmt Presse­termine auf sich.

Wie viel der König dafür kassiert, sagt VW nicht. Pelé sei günstiger als der britische Blondschopf David Beckham (38), heisst es nur. Was einiges sagt über den Wert von Fussballern. Der einzige dreifache Weltmeister erhält weniger als einer, der jahrelang in den USA kickte, in der fussballerischen Einöde.

VW heuerte Pelé an, um die WM zu kapern. Offizieller Auto-Sponsor ist der koreanische Konzern Hyundai. Mit oder an der WM darf sonst kein anderer Autohersteller werben. Deshalb wirbt Volkswagen mit Pelé und fünf weiteren Fussball-Grössen. Wohl nicht nur in Brasilien, sondern bald weltweit.

Am Förderband klatscht Pelé die Hände etlicher Arbeiter ab, fachsimpelt mit ihnen über die Aufstellung der Seleção, der brasilianischen Nationalmannschaft. Von Schmall lässt er sich einen VW Amarok schenken, einen Pickup-Truck mit schusssicheren Scheiben – angeblich notwendig in einer Millionen-Metropole, in der jedes Haus mit Eisengittern versehen ist.

Er gibt Interviews vor der Fabrik, in abgeschlossenen Räumen, beim Gehen und Warten. Immer lächelt er. Menschen, die er nie zuvor sah, die er nie mehr sieht, legen ihm leuchtend gelbe Seleção-Trikots hin. Gut lesbar filzt er den bürgerlichen Namen «Edson Arantes do Nascimento» hin, gefolgt und etwas schnoddrig von «Pelé», als seien Edson und Pelé nicht die Gleichen. In dritter Person redet Edson von Pelé. Ein VW-Manager bittet ihn zuletzt noch, das weisse Arbeitshemd zu signieren. Selbst da macht Pelé mit, lehnt sich an dessen Brust und kritzelt seinen Namen drauf.

Längst verstrichen ist der zugesagte Termin für das Interview. Endlich meldet sich Theresa. «Pelé hat jetzt Zeit», sagt sie. Für ein kurzes Gespräch. «Vier Fragen!»
Er wirkt nun müde. Seine Augen sind wässerig. Trotzdem lacht er, gibt nochmals, was er hat.

Schalk blitzt auf. Pelé setzt zum verbalen Dribbling an, so raffiniert, wie er einst mit dem Ball zauberte. «Englisch oder Portugiesisch?», fragt Pelé, obwohl er weiss: Der Reporter spricht kein Portugiesisch, ist ein Gringo, ein Ausländer. «Gerne Englisch.» Pelé provoziert weiter, weiss, wie lange der Reporter auf das Gespräch gewartet hat. «Der da hinten zahlt mich», sagt er in perfektem Englisch, zeigt auf einen VW-Manager. «Und er spricht Portugiesisch.» – «Sie brauchen mein Geld nicht, Sie haben doch viel mehr als ich.» Die schlagfertige Antwort gefällt Pelé. «Okay, legen Sie los», sagt er.

In Brasilien reden heute viele nur noch übers Geld. Ist es mittlerweile wichtiger als der Fussball?
Pelé: Brasilien war schon immer ein reiches Land mit vielen Rohstoffen. Unsere Landwirtschaft ernährt weite Teile der Welt. In den letzten Jahren haben es die Politiker aber geschafft, mehr Menschen an diesem Reichtum zu beteiligen. Mich macht es stolz, dass Brasilien die Armut verringern konnte.

Weil es weniger Arme gibt, ist der Fussball nicht mehr so gut?
Das Gegenteil stimmt. Brasilien hat noch nie so viele Fussballer exportiert wie heute. Jetzt muss es uns nur noch gelingen, aus den besten Spielern ein echtes Team zu formen. Dann sind wir unschlagbar.

Berauschend spielt die Seleção ein Jahr vor der WM nicht.
Sie besteht aus guten Einzelspielern. Schon 1970 hatten wir herausragende Spieler. Darunter waren drei Nummern 10. Vor der WM trainierten wir sechs Monate lang zusammen. In dieser Zeit wuchs ein ausgezeichnetes Team heran. Heute wird die Mannschaft alle sechs Monate komplett ausgewechselt. Teamgeist ist da schwierig.

Geradezu optimistisch tönen Sie ein Jahr vor der WM nicht.
Mein Vertrauen in diese Mannschaft bleibt gross.

Die Hoffnungen ruhen auf Neymar. Sie haben ihn kritisiert.
Es war ein Fehler, Neymar zu kritisieren. Er ist ein hervorragender Techniker, und er wird noch sehr weit kommen. Ich zog ihn ja nur auf, weil er sich mehr um seine Frisur als um die Seleção kümmerte.

Wie oft schalten Sie den Fernseher aus, wenn Brasilien spielt?
Habe ich Zeit, schaue ich bis zum Schluss. Es gibt aber schon Spiele der Seleção, die ich nicht aushalte. Dann gehe ich lieber spazieren.

Wer wird 2014 Weltmeister?
Aus dem Trio Deutschland, Spanien und Brasilien kommen zwei ins Endspiel.

Was ist nötig, dass Brasilien den sechsten WM-Titel holt?

Bedingungslose Unterstützung. Es ist wichtig, dass die Brasilianer im Stadion jubeln statt zu buhen. Sie dürfen nicht gewalttätig sein.

«Noch eine Frage!», ruft Theresa.

Ist Brasilien bereit für die WM?
Ich sitze im Planungsbüro der Präsidentin – und ich bin besorgt um die Weltmeisterschaft in Brasilien. Zumal sich das Land im besten Licht zeigen muss. Die Welt soll uns respektieren. Die Stadien werden zwar fertig. Probleme haben wir aber bei den Flughäfen. Es gibt immer noch zu viele Verspätungen. Zudem ist das Handy-Netz zu labil, viele Autobahnen sind nicht fertig.

Sie waren dreimal Weltmeister, gelten als bester Fussballer aller Zeiten. Was ist Ihr bedeutendster Beitrag für den Fussball?
Meine Wirkung neben dem Platz war grösser als jene auf dem Feld. Dank mir kam Brasilien auf die Weltkarte. Als wir 1958 an die WM nach Schweden reisten, wusste niemand, wo Brasilien lag. Seit unserem Sieg kennt uns die Welt.

Fussball-Idole stürzen nach der Karriere oft ab. Sie nicht. Warum?
Meine Familie gab mir den nötigen Halt, als ich aufwuchs, als ich spielte, nach der Karriere – noch heute.

Sie haben im Sport, später im Geschäft alles erreicht. Was treibt Sie noch aus dem Bett?
Meine Liebe zu den Menschen. Ich bin ja nicht besser als alle anderen. Ich bin nicht Gott.

«Das wars, Danke», sagt Theresa. Bereits stehen Männer in Anzügen bei Pelé, strecken ihm gelbe Leibchen zur Unterschrift hin. «Einen Moment bitte», gemahnt der König. «Der Schweizer Reporter will sicher noch ein Foto.»
Pelé stellt sich erneut hin, lächelt, legt den Arm um die Schulter, sein Händedruck ist sanft und doch zugreifend. Nichts wirkt angestrengt, alles aufrichtig.

Pelé unterschreibt drei Leibchen. Dann schubsen ihn die Bodyguards aus dem Raum. Er steigt ins Auto, mit dem er morgens kam, lässt die Fenster runter, winkt nochmals, fährt dann heim nach Santos, rund 55 Kilometer entfernt.

Zurück lässt er den Pickup, den ihm VW schenkte. Was passiert damit? «Den holt jemand für ihn ab.»

Ein König hat einen Fahrer.