Warum ist es so saukalt, Herr Professor?

Seit zehn Jahren wird die Erde nicht mehr wärmer. Das sei kein Beweis dafür, dass sich der Planet nicht aufheizt, sagt ein ETH-Forscher – und ruft zum Handeln auf.

Interview: Peter Hossli Fotos: Sabine Wunderlin

Herr Professor Knutti, können Sie schwimmen?
Reto Knutti: Selbstverständlich.

Dann waren Sie dieses Jahr schon im Zürichsee?
Nein. Der ist mir noch zu kalt.

Warum beträgt die Wassertemperatur in Zürich nur 12 Grad?
Weil die letzten Wochen ein bisschen kälter waren als im Schnitt.

Ein bisschen kälter? Es ist Pfingsten – warm war es 2013 noch nie!
Tatsächlich ist es eher kalt. Zum Durchschnitt gehören Ausschläge nach oben und unten. 2007 war der April etwa fünf Grad zu warm.

Schon an Ostern war es frostig, der März an gewissen Orten in Europa so kalt wie seit 100 Jahren nicht mehr. Wie nennen Klimaforscher diese neue Eiszeit?
Es gibt keine neue Eiszeit. Die Erde wird gesamthaft wärmer. Das zeigt uns der langfristige Durchschnitt.

Der aktuelle Winter und die letzten vier davor waren aber allesamt kälter als die Jahre 1981 bis 2010 im Mittel.
Richtig, die letzten Winter waren kälter als der Durchschnitt. Aus vier Jahren lässt sich aber keine Tendenz ableiten. Sonst hätten wir in fünf Jahren eine Eiszeit. Wir erleben die Launen des Wetters.

Warum ist das Wetter so mies?
Da müssen Sie den Bucheli fragen! Klimaforscher interessieren langfristige Entwicklungen, nicht ob es an Pfingsten kalt ist. Klima wird als dreissigjähriges Mittel bezeichnet. Alles, was darunter liegt, ist Wetter.

Klimaforscher warnen seit Jahren vor der Erderwärmung. Nun wird es aber kälter. Hat jetzt recht, wer Ihnen nicht glaubt?
Es wird ja nicht kälter. Im letzten Jahrhundert ist es klar wärmer geworden. Das Meereis ist geschrumpft. Der Meeresspiegel ist gestiegen. Gletscher sind abgeschmolzen. Die Schneebedeckung ist zurückgegangen. Die Nullgradgrenze steigt an. Die Vegetation ist anders. Die Anzeichen für eine langfris­tige Erderwärmung sind absolut eindeutig.

Warum ist es in den letzten zehn Jahren denn nicht wärmer geworden?
Wir erleben eine Atempause der Erwärmung. Allerdings nur, wenn wir die Temperaturen an der Erdoberfläche betrachten. Die Ozeane erwärmen sich sehr stark. Die gesamte Erde, inklusive Meere, ist in einer Erwärmungsphase. Flachere Temperaturkurven gibt es immer.

Das Klima ist volatil?
Das Klima verhält sich wie der Aktienmarkt. Wer Jahrzehnte Aktien hält, verdient damit Geld. Zwischendurch fallen die Wertpapiere aber, es gibt Finanzkrisen. Nervöse Anleger bringen zwar Schwankungen, der Trend aber bleibt gleich.

97 Prozent der Klimaforscher glauben an den Klimawandel, aber nur die Hälfte der Öffentlichkeit. Warum?
Es gibt viele Leute, die persönliche, politische, finanzielle und ideologische Interessen haben, den Klimawandel zu negieren. Wer höhere Energiepreise ablehnt, verneint die Klimaänderung – egal, ob Fakten das Gegenteil belegen. Die SVP sagte noch 2009 in einem Posi­tionspapier, die Klimaveränderung sei nicht von Menschen verursacht.

Die SVP allein kann es nicht sein.
Natürlich nicht. Die öffentliche Debatte ist von Meinungen geprägt, nur zu einem kleinen Teil von wissenschaftlicher Forschung. Dabei ist Klimaveränderung nicht eine Frage des Glaubens, sondern der Fakten. Es wäre schön, wenn Zweifler sagen würden: «Die Fakten stimmen, es gibt den Klimawandel, aber er ist mir egal. Mir ist wichtiger, kurzfristig Geld zu verdienen.»

Die Angst vor der Klimakata­strophe schwindet doch vor allem, weil die Temperaturen seit zehn Jahren nicht mehr steigen.
Der Stand der wissenschaftlichen Forschung ist gleich geblieben. Die Voraussagen im nächsten Klimabericht im Herbst entsprechen jenen von 2007 – die Welt wird wärmer.

Welche Belege gibt es für den Klimawandel in der Schweiz?
Viele. Weltweit hatten wir im letzten Jahrhundert ein Plus von 0,8 Grad, in der Schweiz waren es 1,7 Grad. Die Temperaturen stiegen also doppelt so stark an. Unsere Eltern lernten in Regionen Ski fahren, wo niemand mehr Ski anschnallt. Vegetationsperioden sind anders und die Seen sind wärmer.

Vorletzten Winter gab es im Wallis so viel Schnee wie seit 40 Jahren nicht mehr. In Zürich schneite es letzten Winter schon im Oktober. Im eiskalten See schwimmt momentan keiner. Das sind klare Gegentrends.
Wieder: nein! Auch das sind nur kurzfristige Abweichungen von einem klaren Trend zu mehr Wärme. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts Revolutionäres anbieten kann.

Ist es heiss, sagen alle: Das ist die Klima-Erwärmung. Ist es kalt, reden Forscher wie Sie von kurzfristigen Abweichungen.
Ein heisser Sommer reicht nicht, um die Klima-Erwärmung zu beweisen. Genauso ist es aber falsch, kalte Pfingsten als Gegenbeweis anzuführen. Wir lassen uns zu stark von Extremen leiten. An Sturm Lothar und Hurrikan Katrina erinnern wir uns lange. Für das Klima sind beide kaum relevant.

Was führt zu Klimawandel?
Hauptsächlich steigende Werte von Treibhausgasen in der Atmosphäre: CO2, Methan und N2O. Diese entstehen durch die Verbrennung von Erdöl, Gas und Kohle sowie durch Abholzung, Düngung und durch Kühe.

Von 2000 bis 2010 strömten 100 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre: ein Viertel dessen, was die Menschheit seit 1750 insgesamt abgab. Wärmer wurde es nicht. Ihre These hinkt.
Zehn Jahre reichen nicht, um eine langfristige Veränderung zu erkennen. Die Modelle bleiben klar.

Wer trägt die Verantwortung, der Mensch oder die Natur?
Mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit war der grösste Teil der Erwärmung der letzten 50 Jahre menschengemacht. Ein Beitrag kommt von der Sonne, aber der ist gering.

Wissenschaftler sagen, die Sonne habe sich verändert und bringe Abkühlung.
Die Sonnenaktivität nahm eher ab. Zu erwarten gewesen wäre eine Abkühlung. Die Erde wird aber warm.

Neue Forschungen zeigen: Der CO2-Aus­stoss ist weniger schlimm, als man glaubte.
Es ist tatsächlich so, dass wir heute die extremen Modelle als we­niger wahrscheinlich annehmen. Gross ist der Unterschied nicht.

Können wir nun wieder bedenkenlos Auto fahren?
Nein. Die Uno hat sich zum Ziel gesetzt, dass die weltweiten Temperaturen gegenüber 1850 um maximal zwei Grad steigen. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es weltweit eine massive Reduktion der Treibhausgas-Emissionen.

Seit Fukushima wollen viele Länder aus der Kernkraft aussteigen. AKW geben kein CO2 ab. Lässt sich der Klimawandel ohne Atomkraft überhaupt stoppen?
Für die Klimafrage sind Fukushima und der Ausstieg aus der Kernenergie sicher nicht positiv. Da erneuerbare Energien nicht schnell genug wachsen, reden Politiker wieder über Gas- und Kohlekraftwerke. Das bringt zusätzliche Emissionen.

Braucht es Kernenergie, um den Klimawandel zu stoppen?
Man kann auch die Nachfrage ändern. In der Schweiz bräuchte es keine fossile Heizenergie. Häuser liessen sich isolieren, mit Erdwärme heizen. Beim Verkehr könnten wir die Hälfte der Emissionen einsparen. Es gibt Autos, die mit drei bis vier Litern auf 100 Kilometer auskommen. Noch liegt der Schnitt bei sieben oder acht Litern.

Wie wissen Sie, dass ein Plus von zwei Grad das rich­tige Ziel ist?
Das Ziel kommt von der Staatengemeinschaft, nicht von Wissenschaftlern. Wir sagen nur, welches Szenario welche Folgen hätte.

Wie wählen wir denn das richtige Szenario aus?
Viele Auswirkungen sind klar. Zusätzlich geht es um gesellschaftliche Werte. Würde es uns etwa stören, wenn die Eisbären aussterben? Sie haben ökonomisch keinen Wert, keinen Einfluss auf den Menschen. Trotzdem gibt es viele, die es bedauern würden, wenn der Eisbär ausstirbt. Wir müssen uns stets fragen, was wir wirklich wollen. Oft reichen Kosten-Nutzen-Analysen nicht aus.

Wie ist das Zwei-Grad-Ziel denn zu erreichen?
Stellen Sie diese Frage Ökonomen und Politikern, nicht Klimaforschern. Das Zwei-Grad-Ziel wäre machbar, wenn wir langfristig denken, gemeinsam handeln und ein weltweites Abkommen schliessen. Schaffen wir das jetzt, wäre es sicher kostengünstiger, als nichts zu machen und später zu bezahlen. Nur: Die Kosten fallen heute an, der Nutzen kommt erst in 100 Jahren.

Was müsste konkret passieren?
Bis 2050 müssten sich die Treib­hausgas-Emissionen weltweit halbieren. Die Schweiz und andere Industrienationen müssten sie um 80 Prozent reduzieren. Bis 2020 wäre in westlichen Ländern eine Reduktion von 20 bis 45 Prozent nötig.

Wie soll das gelingen?
Das ist keine Frage der Klimaforschung. Da die Gase überall sind – sie kommen aus Heizungen, dem Verkehr, der Industrie, der Landwirtschaft –, gibt es nicht eine einzige Lösung. Die ganze Welt muss in allen Sektoren anpacken: mit technologischen Massnahmen und politischen Interventionen, also mit Vorschriften, Lenkungsabgaben und Umweltsteuern.

Das scheint unrealistisch. China will weiterwachsen, Afrika will endlich wachsen. Fossile Brennstoffe erleben eine Renaissance.
Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Situation ist das leider so. Unmöglich ist es nicht. In 100 Jahren kann einiges passieren.

Warum geschieht zu wenig?
Alle bejahen das Zwei-Grad-Ziel. Doch niemand macht den ersten Schritt. Gefragt wären vor allem die USA und China. Ein reiches Land wie die Schweiz müsste ebenfalls beweisen, dass es möglich ist.

Pessimisten gehen eher von einem Plus von vier Grad aus. Wo stehen wir im Jahr 2100?
Eine Prognose wage ich nicht anzustellen. Zumal ich nicht weiss, was Schweizer Wähler tun, was in der Weltpolitik passiert. Bleibt weiterhin alles wie bisher nur auf kurzfristiges Wachstum ausgerichtet, sind wir am Ende des Jahrhunderts bei einem Plus von vier Grad.

Und das wäre nur schlecht?
Das sagt ja niemand. Kurzfristig gibt es auch Gewinner. Wer Bratwürste und Bier am See verkauft, steigert den Umsatz, weil die Sommer länger werden, mehr Leute Bier trinken und im See baden. Der Zusammenhang zwischen Bierverkauf und Temperatur ist eindeutig. Bauern werden eine Weile lang mehr ernten – bis die Kartoffeln auf dem Feld sterben, weil es zu warm ist und es zu wenig Wasser hat.

Wie optimistisch sind Sie, dass wir das Klima in den Griff bekommen?
Persönlich bin ich nicht optimistisch. Wir kennen das Problem seit mindestens 20 Jahren. Dennoch stehen wir am Anfang. Die Emissionen steigen munter weiter an.

Professor Knutti über…

Jahreszeiten: «Schweizer Sommer werden länger, es gibt mehr Dürre, weniger Niederschlag, mehr Hitzewellen – wie 2003. Die Schneebedeckung nimmt ab. Gletscher schmelzen.»

Nordpol: «Das Eis in der Arktis ist sehr dünn geworden. 2012 hat es einen Tiefstand erreicht. In den nächsten Jahrzehnten dürfte die Arktis im Spätsommer eisfrei sein.»

Wüste: «Die trockenen Gebiete in Südafrika, den USA, in Australien und der Sahara werden tendenziell noch trockener, nasse Gebiete in Nordeuropa werden noch nässer.»

Küstenlinien: «Meeresspiegel steigen, da sich warmes Wasser ausdehnt, Gletscher und Eismassen von Antarktis und Grönland schmelzen. Bedroht sind viele der grössten Städte am Meer.»

Vegetation: «Heute hat es in  der Schweiz Pflanzen und Insekten, die es einst nicht gab. Es wird Orte geben, die trockener werden, wo nichts mehr wächst. Im heute kargen Norden wächst mehr.»