Mythos Sozial-Partnerschaft

Gewerkschaftsstudie belegt: Nur die Hälfte der Schweizer Büezer arbeitet mit GAV. Ein Drittel hat einen Mindestlohn.

Von Peter Hossli und Claudia Gnehm

Es ist das wichtigste Selbstverständnis auf dem Schweizer Arbeitsmarkt: Büezer streiken nicht. Dafür erhalten sie ein angemessenes Gehalt. Bei Konflikten verhandeln sie mit den Arbeitgebern und bleiben der Strasse fern.

Diese Sozialpartnerschaft gilt als Grundpfeiler der Schweiz. Bundesräte, Gewerkschaftsbosse und Patrons preisen sie. Sie geht auf den Generalstreik von 1918 und den Frieden in der Metall- und Maschinenindustrie im Jahr 1937 zurück.

Die Lohnbildung in der Schweiz basiere «auf einer starken und verantwortungsvollen Sozialpartnerschaft», schreibt der Bundesrat in der Botschaft, mit der er gegen die Mindestlohn-Initiative antritt. Gesamtarbeitsverträge (GAV) hätten eine 100 Jahre alte Tradition. Und: «Die Mindestlohnfestsetzung ist den Sozialpartnern zu überlassen.»

Dabei arbeitet nur knapp die Hälfte des Personals – 49 Prozent – unter einem GAV, schreibt der Bundesrat. Bei 1,29 Millionen von 3,6 Millionen Angestellten sieht der GAV einen verbindlichen Mindestlohn vor. Damit widerlege die Regierung die eigene Argumentation, sagt die grösste Schweizer ­Gewerkschaft Unia: «Bei nur 36 Prozent der Arbeitnehmenden erfolgt die Festsetzung des Mindestlohns durch die Sozialpartner, bei 64 Prozent bestimmen allein die Patrons.»

Wobei es vorbildliche Branchen gebe – und «Antisozialpartner», wie die Unia in ei­nem internen Papier schreibt, das SonntagsBlick vorliegt. Nur 20 Prozent des Personals der Textil- und Kleiderbranche arbeiten unter einem GAV. Resolut dagegen sperren sich der Unterwäsche-Riese Calida und die Kleiderketten H&M sowie C&A.

Den ersten sozialen Frieden in der Schweiz schlossen Arbeiter der Metall-, Elektro- und Maschinenindustrie mit den Unternehmern. Heute untersteht nur die Hälfte der 280 000 Angestellten einem GAV. Nicht ­dabei sind etwa Von Roll oder Kudelski. Als guten Sozialpartner hebt Unia den ehemaligen SVP-Nationalrat Peter Spuhler und dessen Firma Stadler Rail hervor.

Stark sind Sozialpartnerschaften in der Uhrenindustrie. 80 Prozent der Firmen hätten einen GAV, der aufs Jahr 1936 zurückgeht. Allerdings profitierten viele Uhrmacher von Zulieferern ohne GAV. Mondaine, bekannt für Bahnhofsuhren, lässt keine Gewerkschaften zu.

Unia lobt Bierbrauer und Schokoladenhersteller. Hingegen stellt sich Milch-Riese Emmi gegen Gewerkschaften. Der Schweizerische Bauernverband gibt lediglich unverbindliche Lohnempfehlungen ab – für Erntehelfer minimal 2510 Franken im Monat. Ohne GAV sind die Guetsli-Fabrikanten Kambly und Hug. Nestlé beschäftigt das Thomy- und Frisco-Personal mit einem GAV, das von Nespresso nicht.

In der Baubranche liegt die GAV-Abdeckung laut Unia bei 80 Prozent. Alle Verträge sehen Mindestlöhne vor. Hingegen hätten Chauffeure im Transportwesen selten einen GAV. «Ein anständiger Arbeitgeber braucht keinen GAV», sagt Transportunternehmer Ulrich Giezendanner. «Wir haben viele Angestellte, die 10 und 20 Jahre bei uns sind. Wir leben echte Partnerschaft, dazu brauchen wir keine staatlichen Vorschriften.» Sein Prinzip: «Gute Leistung – gute Bezahlung.»

In der Finanzbranche haben Gross- und einige Kantonalbanken einen GAV – nicht aber Privatbanken wie Notenstein und Vontobel. Zudem weigerten sich die Kantonalbanken von Zug, Tessin und Waadt.

Fast das gesamte Personal im Gastgewerbe – 200 000 Angestellte – untersteht dem Landes-GAV. 100 Jahre alt wird im Januar der GAV des Detailhändlers Coop. Schweizweit haben aber von 320 000 ­Verkäuferinnen und Verkäufern 200 000 keinen GAV, so die Unia.

Bis vor kurzem lag das Gesundheitswesen in der Schweiz in öffentlichen Händen. Ärztinnen und Pfleger hatten ähnliche Bedingungen wie Beamte. Heute gibt es etliche Privatkliniken – mit 100 000 Beschäftigten ohne GAV. Dazu gehöre die Hirslanden-Gruppe.

Es grenze an «mutwillige Irreführung», wenn der Bundesrat schreibe, Mindestlöhne würden sozialpartnerschaftlich festgelegt, so die Unia. Thomas Daum, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, entgegnet: «Es greift zu kurz, wenn die Gewerkschaften für die Beurteilung der Sozialpartnerschaft nur auf den GAV abstellen.» Die geltende dezentrale Lohnfindung sei gut für die Schweiz.

Wenn Gewerkschaften und Linke dies «mit der Brechstange» ändern wollten, richte das «erhebliche ­Kollateralschäden» an.