“Entschuldigung reicht uns nicht. Wir wollen Geld”

Bund, Bauern und Bischöfe sagten gemeinsam Sorry zu Verdingkindern. Für ihre Arbeit bedankte sich niemand. Nun verlangen Opfer vier Milliarden Franken.

Von Peter Hossli

verdingkinderFast ein Menschenleben lang hatte Charles Probst (83) auf Worte der Reue gewartet. Bis sie am  11. April kamen. «Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga (52). Einstige Verdingkinder wie Probst hörten ihr im Berner Kursaal zu.

Mit sechs kam Charly 1936 zu ­einer Pflegefamilie auf einen Bauernhof im Oberaargau BE. Zu arm war seine Mutter für ein Kind. Beamte nahmen ihr den Kleinen weg.

Je nach Jahreszeit schuftete er zwölf bis 14 Stunden täglich im Stall, auf dem Acker, sechs Tage die Woche. Zehn Jahre lang erhielt er keinen Rappen Lohn. Oft hungerte er. Muckte er auf, gab es Prügel.

Worte einer Bundesrätin fangen solches Leid nicht auf. «Ihre Rede überzeugte mich nicht», sagt Probst. «Eine Entschuldigung reicht nicht, es braucht Entschädigungen.»

Hugo Zingg (76) kam mit sechs auf einen Bauernhof im Gürbetal BE. Von früh bis spät arbeitete er, erhielt täglich Hiebe, hat noch heute sichtbare Narben. Der Gedenkanlass enttäuschte ihn. «Niemand hat ein Dankeschön für die geleistete Arbeit über die Lippen gebracht.» Zingg verlangt: «Für Leistungen auf Bauernhöfen und in Heimen muss endlich Geld bezahlt werden.»

Historiker schätzen die Zahl der zwangsplatzierten Verdingkinder in der Schweiz auf über 500000. Noch leben 10000. Viele rackerten sich für Bauern ab. Dahinter stand ein System, «bei dem sich niemand Lorbeeren holte», sagte der einstige Präsident des Schweizerischen Bauernverbands, SVP-Nationalrat Hansjörg Walter, als er sich 2011 bei den Opfern entschuldigte. «Nicht der Staat, nicht die Kirche, nicht Familien, bei denen ein Teil der Kinder ausgebeutet wurde.»

Der Staat verordnete die Versetzungen von Kindern. Kirchen tolerierten sie, profitierten mit. Bauern erhielten kostenlose Knechte.

Sie alle sollen nun dafür geradestehen – mit ihrem Geld. «Wer den Schaden anrichtet, muss ihn wiedergutmachen», sagt Zingg. «In diesem Fall die Kirche und der Staat.» Rasch soll Geld fliessen, so der Präsident des Vereins Netzwerk-verdingt, Walter Zwahlen (64). «Zahlungen müssen erfolgen, solange die Opfer noch leben.»

Dass es mit dem Sorry nicht getan ist, weiss Sommaruga. Sie lancierte in ihrer Rede im April einen runden Tisch, an dem über alle ­Aspekte gesprochen werden soll, juristische, historische und «auch finanzielle», wie sie sagt.

Bürgerliche National- und Ständeräte aber lehnen Zahlungen ab. Nicht der Bund, sondern Gemeinden und Kantone seien für den Vollzug verantwortlich gewesen.

Zwahlen hat es so erwartet. «Wie eine heisse Kartoffel wird die finanzielle Verantwortung vom Bund an die Kantone und Gemeinden geschoben.» Seit Jahren blockiert Bundesbern. Der einstige Justizminister Christoph Blocher nannte das Verdingkinderwesen «ein System, welches früher nicht nur als rechtens, sondern manchmal gerade als besonders sozial und fürsorglich empfunden wurde».

Aus Angst, ein Präjudiz für Verdingkinder zu schaffen, lehnte die Regierung einst Zahlungen für Zwangssterilisierte ab. Ein von SP-Ständerat Paul Rechsteiner (SG) entworfenes Rehabilitierungsgesetz für administrativ Versorgte sieht keine finanzielle Wiedergutmachung vor. Geld für Verdingkinder will keiner haben. Kantone, Gemeinden und Bischöfe verweisen auf den bevorstehenden runden Tisch, den der Urner alt CVP-Ständerat Hansruedi Stadler (59) als Delegierter des Bundesrats leitet.

Bei ihm sitzen werden Vertreter von Behörden, Kirchen und Bauernverband. Verdingkinder aber fehlen. «Wir setzen uns nicht an den runden Tisch», sagt Vereinspräsident Zwahlen. Die Gruppe sei zu gross. Er nennt sie ein «untaugliches, parteipolitisch inspiriertes Konstrukt». Es brauche «eine Expertenrunde statt reaktionäre, ewiggestrige Kräfte, Bremser und Profiteure.»

Zwahlen befürchtet ein ähnliches Szenario wie beim runden Tisch für Heimkinder in Deutschland: «Dort wurden die Betroffenen über den Tisch gezogen und mit kläglichen 190 Millionen Euro abgespeist.» Stoisch weigerten sich Bund wie Bauern, die Leistung der Verdingkinder aufzurechnen. «Ist diese Zahl einmal ausgesprochen, lassen sich Reparationszahlungen kaum vermeiden», so Zwahlen.

Angespannt ist das Verhältnis zum Bauernverband. Als der neue Bauernpräsident Markus Ritter (46) beim Gedenkanlass sprach, buhten und pfiffen viele Verdingkinder ihn aus. Auf finanzielle Abgeltung angesprochen, ziert sich der St. Galler CVP-Nationalrat. Er habe drei eigene Kinder, die auf seinem Hof Hand anlegten – als wäre das Schicksal zwangsplatzierter Verdingkinder gleichzusetzen mit jenem von Bauernkindern, die in liebenden Familien aufwachsen.

Schriftliche Fragen nach der effektiven Leistung der Verdingkinder beantwortet er nicht. «Weil wir für die Beurteilung nicht über die nötigen Grundlagen verfügen», so Ritter. Weder sei bekannt, «wie viele Verdingkinder in der Landwirtschaft platziert wurden noch in wie vielen Fällen von Seiten der Bauernfamilien unrechtes Verhalten oder unrechter wirtschaftlicher Gewinn im Spiel war».

Die Verantwortung schiebt er weiter. «Verdingkinder wurden ja von den Behörden platziert. Und zwar nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in anderen Gewerbebetrieben und sonstigen Familien», schreibt Ritter.

«Grotesk» seien diese Aussagen, sagt Zwahlen. «Der Bauernverband hätte schon lange im eigenen Interesse eine Studie in Auftrag geben sollen, um sich über die Rolle der Bauern Klarheit zu verschaffen.»

Einiges sei historisch erwiesen. «Die Kinderarbeit ist geleistet worden, nie sagten die Bauern Danke, nie zahlten sie Lohn,» sagt Zwahlen. «Der Bauerverband ist ein Zechpreller.» Zumal Schweizer Bauern allein seit 1960 rund 165 Milliarden Franken stattliche Zuschüsse erhalten haben – pro Jahr über drei Milliarden.

Der wirtschaftliche Wert der Kinderarbeit ist bekannt. Ein Ökonom der UBS kalkulierte ihn im Herbst 2011 für SonntagsBlick. Demnach hatte die Schweizer Landwirtschaft kostenlose Leistungen von mindestens 20 Milliarden Franken erhalten. Umgerechnet auf den heutigen Geldwert entspricht das einem Betrag von 120000 Franken pro Person. Bei 10000 noch lebenden Verdingkinder beträgt die Schuld 1,2 Milliarden Franken. Wobei nur Saläre, nicht aber erlittenes Unrecht berücksichtigt sind. «Total stehen uns vier Milliarden Franken zu», sagt Zingg.

Er mähte, säte, setzte und molk – von Hand. Weil Verdingkinder fast nichts kosteten, zögerte mancher Bauer die Anschaffung teurer Maschinen hinaus. Nicht zuletzt wegen der Verdingkinder, so Historiker, erfolgte die Mechanisierung der Schweizer Landwirtschaft später als in anderen Ländern Europas.

Kost und Logis der kleinen Knechte zahlte der Staat. Während des Zweiten Weltkriegs bekamen die Bauern für sie Lebensmittelkarten. Die Rationen assen die Familien selber. «Vieh erhielt besseres Essen als Verdingkinder», sagt Zwahlen. «Bauern waren mehrfache Profiteure des Unrechtssystems.»

Die Schulbank drückte Zingg von April bis Oktober kaum. Dann war Ernte. Lehrer und Pfarrer schauten weg, Oft sah Zingg, wie Priester den Hof mit Zöpfen, Früchten und Würsten verliess. Er hätte sie gerne selbst gegessen.

Laut Bischof Markus Büchel (63) sei nicht Geld, sondern die Verarbeitung des Unrechts wichtig. «Dort, wo das notwendig ist, kann das auch mit materiellen Mitteln sein.»

Geld zumindest hätten die Geistlichen. Allein die katholische Kirche nimmt jährlich eine Milliarde Franken ein, so das SRF-Wirtschaftsmagazin «Eco». Das Vermögen der Kirchgemeinden? 1,5 Milliarden Franken.