Von Peter Hossli
Sanft gleitet der Airbus auf den Flughafen von Agadir zu, hinweg über unzählige Gemüsefelder. Auf manchen sind bleiche Blachen aufgespannt. Wie längliche Weisswürste liegen sie in der Landschaft.
Nach der Landung ist rasch klar: Die Weisswürste sind marokkanische Gewächshäuser. Was jedoch überrascht: Unter ihrem Plastik gedeiht Schweizer Gemüse.
Östlich der Küstenstadt Agadir zieht die holländische Firma Grow Group Lauch- und Tomatensetzlinge für Schweizer Gemüseproduzenten. Zwölf Wochen stecken die Lauch-Babys im afrikanischen Boden. Danach karrt ein Lastwagen 30 Zentimeter lange Pflänzchen in die Schweiz. Gemüsebauern im Seeland, der Ostschweiz, im Tessin legen sie in die Erde. Nach der Ernte gelangt das würzige Kraut in die Regale von Migros und Coop – als Schweizer Lauch.
24 Tonnen Setzlinge importierten Schweizer Gemüseproduzenten und Bio-Bauern letztes Jahr aus dem nordafrikanischen Königreich. Marokko ist längst nicht die einzige Geburtsstätte von Schweizer Gemüse. Fast das gesamte konventionelle Sortiment entwächst fremden Keimlingen – ausser Rüebli. «Ohne ausländische Jungpflanzen würde in der Schweiz kein Gemüse wachsen», sagt Franz Krifter, Geschäftsführer der Firma Hawalo Swiss. Er handelt mit Setzlingen aus Holland, Portugal, Frankreich und Marokko.
500 Millionen konventionell gezogene Jungpflanzen gelangten jedes Jahr in die Schweiz, schätzt er. 90 Millionen werden hierzulande gezogen. «Doch selbst diese sind nicht einfach schweizerisch», so Krifter. «Die Keimlinge spriessen aus ausländischem Saatgut und wachsen in ausländischer Erde.»
Holländische Jungpflanzen-Konzerne wie Grow Group oder Beekenkamp züchten jährlich Milliarden von Setzlingen. Sie liefern sie an Gemüsebauern in ganz Europa. Identisch sind demnach Kopfsalate aus Belgien, der Schweiz oder Österreich. Heimisch werden Kohl und Gurken, Tomaten und Broccoli erst durch lokale Hege und Pflege. Schweizer spritzen anders als Belgier, und sie behandeln die Böden nachhaltiger als Deutsche.
Gleichwohl isst Adoptivgemüse, wer Schweizer Gemüse kocht. Ausländer stecken ausländische Samen in ausländische Erde. Wochenlang wachsen sie zu Sprösslingen heran. Bis sie einer in dunklen Kühlwagen auf Reise schickt. Schweizer Gemüseproduzenten nehmen sich ihrer an, ziehen sie liebevoll auf, zu reifen Tomaten, Gurken oder Kohl.
Diese Arbeitsteilung macht Sinn. Boden ist in der Schweiz knapp. Statt für Jungpflanzen nutzen ihn Bauern für hochwertigeres Gemüse. Wie der Gemüsebetrieb Eymann in Winkel ZH. Freitagnachmittag, knapp über null Grad. Zwei Traktoren fahren auf einem Feld auf und ab. Geladen haben sie gelbe Kisten voller Salatsetzlinge: Zarte Pflänzchen, deren Wurzeln in Torfwürfeln stecken. Acht Männer legen sie aus. Darüber spannen sie später wärmende Fliessmäntel. Sind die Salate erntereif, verkauft sie die Migros unter der Marke «Aus der Region. Für die Region». Was der Kunde nicht erfährt, steht auf den gelben Kisten: Holland ist die Ursprungsregion der Salate.
Neu oder illegal ist das nicht. Seit den Siebzigerjahren gelangen ausländische Gemüsesetzlinge in die Schweiz. Nur weiss es keiner. Wer heute bei Coop und Migros Nüsslisalat postet, sieht auf den Plastiksäckchen weisse Schweizerkreuze der Marke Suisse Garantie – und denkt an fleissige Thurgauer Gemüsebauern, die Samen kaufen, sie aussähen, Salate pflücken. «Das ist vorbei», sagt Setzling-Händler Krifter. «Die Ansprüche an Gemüse sind heute sehr hoch.»
Gärtner müssten ihre Ware zu festgelegten Terminen in festgelegten Mengen und festgelegten Grössen an Grossverteiler liefern – stets in Topqualität. Möglich ist das dank hochwertigen Saatguts aus holländischen und deutschen Labors. Auf Hightechsetzlinge setzen Schweizer Gemüsler – krankheitsresitent und ertragsreich.
Ins Land kommen sie aus aller Herren Länder, in grosser Anzahl. Laut Zollverwaltung importierten Gemüseproduzenten letztes Jahr 43326 Tonnen Setzlinge mitsamt Erde für 35,5 Millionen Franken.
Die später eingebürgerten Pflanzen reisten aus 13 Staaten an, darunter Marokko und Spanien, Belgien, Portugal und Frankreich. Wobei Holland und Deutschland klar die wichtigsten Lieferanten sind.
Afrikanische Länder wie Dschibuti, Niger und Mali liefern schon mal Wurzeln, Knollen und Keime in die Schweiz. Ebenso die Kapverdischen Inseln mitten im Atlantik.
Warum aber trägt Adoptivgemüse das Gütesiegel Suisse Garantie? Wegen der Richtlinie E 3.2. «Erwünscht» sei zwar die Verwendung von Schweizer Setzlingen, heisst es. «Wenn importiertes Saat- und Pflanzengut verwendet wird» – eigentlich immer –, «muss mindestens 80 Prozent des Zuwachses des Ernteguts (Frischgewicht) in der Schweiz entstehen». Selten ein Problem. Wenige Gramm wiegen Setzlinge, die in Winkel aufs Feld gelangen. Bis zu 500 Gramm bringen Migros-Kopfsalate auf die Waage.
Um Schweizer zu werden, muss einzig Nüsslisalat nicht zwanghaft zunehmen – sondern 21 Tage in helvetischen Böden ausharren.
Es gebe in der Schweiz «praktisch keine Setzlingsproduktion», erklärt der Präsident Agro-Marketing Suisse Urs Schneider. «Sie ist nicht wirtschaftlich, und sie wird nicht staatlich gefördert.»
Für die Marke Suisse Garantie sieht er kein Problem. «Konsumenten akzeptieren ein Produkt als Schweizer Produkt und die Verwendung des Schweizerkreuzes, wenn die 80-Prozent-Grenze eingehalten ist.» Bei Uhren etwa sollen nur 60 Prozent schweizerisch sein.
Das Gesetz stützt Suisse Garantie. «Als vollständig in der Schweiz erzeugt gelten pflanzliche Erzeugnisse», besagt eine Verordnung, «die in der Schweiz geerntet worden sind.» Aus niedergelassenem Lauch, Salat und Broccoli werden so waschechte Papierli-Schweizer.
Als einer der ersten Schweizer Betriebe begann Eymann in Winkel 1976 Setzlinge aus Holland zu importieren – und blieb dabei. «Es ist hochwertige Ware», sagt Brigitte Schurter-Eymann. Sie führt den Betrieb in dritter Generation. «Müssten wir sie in der Schweiz heranziehen, wäre das viel zu teuer.»
Marokkanische Lauch-Jünglinge lehnt die Gärtnerin aber ab. «Sie wachsen dort in Wärme heran, gelangen in die Kälte, sind gestresst, schiessen aus und gehen kaputt.»
Gemüseesser sollten erfahren, wo die Jungpflanzen herkommen, verlangt Konsumentenschützerin Sara Stalder. «Sehen Konsumenten im Laden das Schweizer Kreuz, glauben sie, die Tomate stamme aus dem Gemüsegarten im Seeland, wo eine Bäuerin Samen aussäte.» Da dieses Idyll passé sei, fordert Stalder: «Die Gesetzgebung muss strenger werden und die Konsumenten müssen wissen, wenn das Gemüse nicht vollständig in der Schweiz gewachsen ist.» Sie findet es «absurd, Lebensmittel durch ganz Europa zu transportieren».
Wobei marokkanische Setzlinge ökologisch eher besser abschneiden als schweizerische. 980 Liter Diesel verbraucht ein Lastwagen, der 40 Tonnen Fracht von Agadir nach Aarau fährt. Um die Setzlinge in beheizten Schweizer Gewächshäusern zu ziehen, wäre mehr Brennstoff nötig. Unter marokkanischer Sonne braucht es kaum Heizöl.
Bei Bio-Gemüse ist das Bild ähnlich. Immerhin stammt rund die Hälfte der Setzlinge aus heimischer Produktion. Bei Warmpflanzen wie Tomaten, Peperoni oder Aubergine sind jedoch alle importiert. «Ausländische Setzlinge werden nach Vorschriften von Bio Suisse gezogen, den strengsten der Welt», sagt Stefan Müller vom Bio-Betrieb Müller Steinmauer. Tatsächlich ist etwa die holländische Grow Group zertifiziert, Bio-Suisse-Setzlinge zu ziehen. Viele Bio-Setzlinge stammen von der Insel Reichenau.
Schweizer Grossverteiler deklarieren die Herkunft der Jungpflanzen nicht, weder bei konventioneller noch bei Bio-Ware. «Eine Deklaration ist vom Gesetzgeber nicht vorgesehen», so die Migros. «Eine Deklarationspflicht für Jungpflanzen wird seitens Gesetzgeber nicht verlangt», heisst es bei Coop. «Eine Deklaration wäre wahrscheinlich mit sehr hohem Aufwand verbunden.» Coop wäre zumindest bereit, sich für eine Deklaration einzusetzen, wenn dies «einem Kundenbedürfnis entspricht und auch umsetzbar ist».
Letztlich wegen uns Kunden gelangen Fremdlinge auf hiesige Felder. Früher kauften wir, was saisonal im Laden lag. Heute wollen wir jederzeit alles günstig und Bio. Schweizer Tomaten müssen schon im Mai im Regal sein. Standardpflanzen reichen da nicht mehr, es braucht ausgeklügelte Jungpflanzen. Die dafür nötige Heizenergie und das Personal sind in der Schweiz zu teuer.
Gleichwohl zieht die Firma Swissplant im Seeland heimische Jungpflanzen. «Unsere Kunden zahlen gerne mehr», sagt Geschäftsführer Martin Löffel. Sie hätten mehr Flexibilität, Gurken weniger Stress. «Bei uns holen Bauern die Setzlinge, wenn sie pflanzen», so Löffel. «Stresslos dringen sie in die Erde ein.»
Anders ergehe es den Ankömmlingen aus dem fernen Afrika. «Marokkanische Setzlinge sind 14 Tage unterwegs, haben 14 Tage kein Licht, sie kommen geschwächt in der Schweiz an», sagt Löffel.
Südlich von Frankfurt (D) zieht Simone Trübenbach Jungpflanzen: Salate, Blumenkohl, Broccoli. Jährlich liefert sie rund 100 Millionen Pflanzen in die Schweiz. Ihre Kunden sind im Seeland daheim, in der West- und der Zentralschweiz, in Zürich und im Tessin. «Es gäbe in der Schweiz einen Markt für heimische Jungpflanzen», sagt Trübenbach. «Aber die Schweizer haben den Anschluss verpasst.» Statt zu investieren, überliessen sie das Geschäft Holländern und Deutschen. Und eben den Afrikanern.