Paradies Nottwil

Gleich neben dem famosen Paraplepiker-Zentrum in Nottwil betreibt der Bund seit dieser Woche in einem unterirdischen Militärspital eine Asyl-Unterkunft. Die Gemeinde heisst die Afrikaner Willkommen.

Von Peter Hossli (Text) und Thomas Lüthi (Fotos)

Schnee bedeckt die Strasse, als die Schwarzen vorfahren. Der Reisecar hält am Metallzaun, der Fahrer steigt aus, öffnet die Gepäckfächer. «Verlasst den Bus! Holt euer Zeugs! Folgt mir!», geheisst er seine Fracht – 37 Afrikaner, die in der Schweiz um Asyl bitten, alles junge Männer in bauchigen Jeans, Pullovern und zu dünnen Jacken.

Einer grinst. «Hello everybody», sagt Kwaku (35), schnappt sich den Plastiksack mit seiner Habe. Er ist Ghanaer. Ein Senegalese steigt aus, ein Gambier, einer aus Guinea-Bissau – dazu 33 Nigerianer. «Ich liebe Schnee», witzelt Kwaku, trottet fröstelnd vorbei am Zaun und am dickhalsigen Wächter der Securitas, verschwindet im dunklen Loch, das in den Untergrund führt.

Seit Donnerstag leben 37 Afrikaner im unterirdischen Militärspital der Gemeinde Nottwil LU, neben dem famosen Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Nächste Woche kommen weitere Asylbewerber hier an, ebenso die Woche darauf – und in der Gemeinde Nottwil hat kaum jemand etwas dagegen.

Regt sich landesweit Widerstand gegen Asylzentren, geht Nottwil pragmatisch vor. «Es gibt eine Notsituation im Asylwesen», sagt Gemeindepräsident Walter Steffen. «Eine ablehnende Haltung bringt uns nicht weiter», sagt er. «Wir wollen Hand bieten.»

«Nottu», wie Einheimische Nottwil nennen, sei «eine tolerante Gemeinde». Das Gegenteil: Letzte Woche gab der Chef der Laaxer Bergbahnen an, Steuern zu verweigern, sollte in seiner Region ein Asylzentrum realisiert werden.

Anders Nottwil. «Wir helfen – unter gewissen Bedingungen», so Steffen. Das Bundesamt für Migration (BFM) sagte ihm Sicherheit zu. Er liess das Dorf in offene und geschlossene Gebiete aufteilen. Für Asylbewerber gesperrt sind das SPZ, die Schule, das Alters- und Pflegeheim, ebenso der Camping-Platz. Wächter sichern die «sensiblen Zonen», wie die Tabu-Orte offiziell heissen. Rund um die Uhr patrouilliert die Securitas.

Es ist Freitag, bitterkalt. Die Sonne scheint. Eine erste Nacht unter Tag haben die Asylbewerber hinter sich. «Klar, hatte ich Angst», sagt Kenneth (31), Nigerianer, eine Wollmütze bedeckt seinen Kopf. Er ist Maurer, arbeitete jahrelang als Tagelöhner in Libyen. Als im Sommer 2011 das Regime von Diktator Gaddafi zerbrach, floh er im Boot über das Mittelmeer, landete auf der italienischen Insel Lampedusa. Nach eineinhalb Jahren in Italien kam er letzten Dezember in Chiasso TI an.

Er klagt nicht, obwohl er das Gefühl hatte, hinter Gittern zu schlafen. «Die Leute sind fantastisch, ich fühle mich willkommen.» Er bittet den Reporter, ihm ein paar deutsche Worte beizubringen. «Ich möchte mit den Schweizern reden können.»

Bauernhäuser mit Ziegeldächern säumen die Hauptstrasse. Handbemalte Schilder werben für Eier, Süssmost, Cheminéeholz. Das Bild vom bäuerlichen Idyll täuscht: Der 3600-Seelen-Ort ist weltweit bekannt für die Pflege Querschnittsgelähmter. Kommen Asylbewerber und Behinderte aneinander vorbei? «Wir können damit sehr gut leben», sagt SPZ-Stiftungsratspräsident Daniel Joggi. Die Anlage dürfe die Therapie nicht stören, das sei vereinbart. «Asyl hat eine lange Tradition in der Schweiz», sagt er. «Heute gibt es sehr viele Asylsuchende, und die grosse Mehrheit kommt nicht hierher, um uns Probleme zu machen, sondern flüchtet aufgrund einer Notsituation.»

Das Militärspital eigne sich gut. «Sich dagegen zu wehren, löst das Problem nicht.» Er erinnert sich: «Paraplegiker wurden 1985 von dieser Gemeinde willkommen geheissen, was nicht überall so war.»

Silo-Ballen liegen auf der Wiese neben dem Spital, in Gehegen hoppeln Hasen, Gänse und Ziegen suchen nach Grashalmen unter dem Schnee. Unter dem Boden herrscht das Diktat der strengen Hausordnung. Tabak wie Alkohol sind verboten, ebenso Handys. Beim Eintritt in die Anlage sind die Asylsuchenden strikten Kontrollen ausgesetzt. Türen schliessen um 17 Uhr. Bricht einer die Regeln, entfällt das Sackgeld von täglich drei Franken.

Keiner war in der Schweiz kriminell. Die meisten bleiben drei, vier Wochen, bis zum Entscheid. «Es ist eine komfortable Anlage», sagt Urs von Däniken, Projektleiter Bundesunterkünfte beim BFM. Das Spital biete bis zu 750 Patienten Platz. Maximal seien 186 Asylsuchende hier, in Zimmern mit bis zu 18 Betten.

Es ist die siebte militärische Anlage, die das Bundesamt für Migration für Asylbewerber nutzt, die dritte unterirdische. Insgesamt sind 600 Asylsuchende in Unterkünften der Armee untergebracht. Ein Klacks. Jede Woche gehen beim Bund gegenwärtig 400 Asylgesuche ein. Von Däniken rechnet vor: «Nottwil deckt nicht einmal den Bedarf einer Woche ab.»

Vierzehn Personen betreuen die Aslybewerber in Nottwil, alle im Sold der Privatfirma ABS. Sie nehmen Körperkontrollen vor, verteilen die Hausordnung, Shampoo, Zahnpaste und -bürsten sowie Rasierschaum und -klingen. Zum Mittagessen gibt es Poulet an süsssaurer Sauce, Reis und Salat. «Wir bestellten das Doppelte», sagt Zentrumsleiter Samuel Friedli. Aus Erfahrung. «Afrikaner essen viel.»

Sein Team richtet das Frühstück her – Milch, Butter, Brot, Konfitüre, Kaffee. Köche des SPZ kochen Mittag- und Abendessen. «Wir sorgen für Ruhe und für Ordnung», erklärt Friedli seinen Auftrag. «Wir sind nett, solange die Asylbewerber nett zu uns sind. Macht einer Probleme, machen wir ihm Probleme.» Er ist zuversichtlich: «Es kommt gut.»

Eines fürchtet der Gemeindepräsident: wenn sich die jungen Kerle langweilen. «Liegt Schnee, können sie Wege räumen», sagt Steffen. «Es ist uns aber nicht möglich, 180 Männer zu beschäftigen.»

Zumal sie nur gemeinnützig tätig sein dürfen. Sitzbänke entlang des Sees sollen sie streichen, Wanderwege sanieren. Asylbewerber könnten Feuerstellen, das Seeufer und Bäche reinigen. Wer arbeitet, erhält pro Tag 30 Franken. Bereits hat Steffen die Afrikaner aus Nottu benachbarten Dörfern angeboten.

Vor dem Eingang des Militärspitals wartet Bruno Hübscher. Er ist katholischer Diakon in Nottwil. Ein Stirnband schützt seine Ohren vor der Kälte. Der Seelsorger lädt die Asylsuchenden ins Vikariatshaus. Einen «warmen Ort» will er anbieten. «Wo der Kaffee gratis ist, wohlgesinnte Leute da sind.»

Vier Nigerianer gehen an ihm vorbei. Lust auf Kuchen der Kirche haben sie nicht. «Wir schauen uns lieber das Dorf an», sagt einer. Kennt er die Schweiz? «Sie schlug uns 2009 an der Junioren-WM.» Zwei Fussgänger sprechen sie an, erst französisch, dann englisch, raten ihnen, sich an die Sonne zu stellen statt im Schatten zu schlottern. Nichts hätten sie gegen das Zentrum, betont einer. «Reisen wir zu ihnen, sehen sie doch, wie reich wir alle sind», sagt er. «Kein Wunder, wollen sie zu uns kommen.»

Zwanzig Asylbewerber verlassen das Spital, folgen der Einladung. Frierend marschieren sie ins Oberdorf, zu dünn sind die Sohlen ihrer Schuhe. Tief ins Gesicht gezogen hat Cool seine Kapuze. Er ist 35, sieht aus wie 50, stammt aus Nigeria, kam aus Libyen nach Italien, dann nach Chiasso. Auf dem Boot traf er den Tischler Emmanuel. «Wie überlebt einer in der Schweiz?», fragt Emmanuel. Cool lacht. «Eine schwierige Frage», sagt er. «Die Schweiz ist ein Paradies, im Paradies darf aber nicht jeder sein.» Beide wollen bleiben – hoffen wohl vergebens. «Die Chance für Nigerianer, in der Schweiz Asyl zu erhalten, ist erfahrungsgemäss sehr gering», sagt von Däniken.

Cool giesst im Vikariatshaus Tee auf, Emmanuel löslichen Kaffee. Einer greift die Gitarre, ein anderer die Trommel, Rasseln gehen um, zwei setzen sich ans Klavier. Afrikanische Rhythmen beleben Nottu, bis Seelsorger Hübscher das Volkslied «Es Burebübeli mag I nid» anstimmt. Zum Fest gibt es Apfelkuchen, Schokolade- und Zitronencake. Männer spielen Memory und Jenga. «Wenn es euch gefällt, könnt ihr jeden Freitag kommen», sagt Hübscher. Er weiss: Wer Respekt sät, erntet ihn. Nach dem Essen tragen die Gäste Gläser und Tassen weg, wischen die Tische ab, entfernen die Krümel der Kuchen.

Acht Jahre lebte Kwaku in Ita­lien. Zuvor floh er, weil seine Familie in Ghana gefährdet war. «Jetzt bin ich aus Italien geflüchtet», sagt er. «Dieses Land ist voller Rassisten und Faschisten – als Schwarzer bist du bedroht, für jeden ein Drogendealer, sieht dich ein Polizist mit Weissen reden, greift er dich an.»

Hier in Nottwil hätte ihm jemand nach einem Tag Kuchen und Kaffee angeboten. «Das ist mir in acht Jahren Italien nie passiert.»

Lange hält dieses Idyll kaum. Am 6. Juli schliesst das Spital, das Zent­rum ist temporär. Dann kommen drei Jahre keine Asylbewerber mehr nach Nottwil. Grund wohl, warum alle gelassen mit der Unterkunft im Untergrund umgehen.