Von Peter Hossli
Es ist Frühsommer 2000. Hillary Clinton steht oben an der Rolltreppe, die aus der Grand Central Station führt. Im New Yorker Bahnhof wimmelt es von Menschen. Sie trägt einen hellblauen Hosenanzug, lächelt, ergreift die Hand von Pendlern. «Mein Name ist Hillary Rodham Clinton, ich kandidiere für den Senat», sagt sie. «Ich bitte Sie um Ihre Stimme.» Wer Zeit für sie hat, dem gönnt sie einen Schwatz. Geduldig hört sie zu.
Die Szene ist beispielhaft für eine der kühnsten und talentiertesten Politikerinnen Amerikas. Für eine weltbekannte Frau, die ihre Anliegen auf die Strasse trägt, die Menschen mag, die sich alles selbst erarbeitet hat.
Jetzt tritt sie als US-Aussenministerin im Zenit ihrer Karriere ab – und doch erwarten alle, sie steige weiter auf, bis sie im Januar 2017 das Weisse Haus beziehen kann. Sie wäre dann 69.
Hillary (65) winkt ab. Sie wolle schlafen, fit sein, lesen, sagte sie, als sie ihren Rücktritt bekannt gab. Ihr Soll hat sie erfüllt.
Historisch war ihre erfolgreiche Bewerbung um den Senatsposten im Jahr 2000. Nie zuvor strebte eine First Lady nach Auszug aus dem Weissen Haus ein öffentliches Amt an. Als sie damals oben an der Rolltreppe stand, hätte sie genauso gut ganz unten sein können, erledigt, betrogen, gedemütigt, eine gescheiterte First Lady.
Peinliche Details der Affäre ihres Mannes Bill Clinton mit einer Praktikantin waren 1998 publik geworden. Beinahe hätten sie den Präsidenten das Amt gekostet.
Mit ihrer Kandidatur schüttelte Hillary ihr Image als Opfer eines von Sex besessenen Gatten ab. Nun war sie das politische Schwergewicht der Familie, ihr Mann bloss noch ein Anhängsel.
Sie wollte nie die Frau hinter dem mächtigen Mann sein. Mit beträchtlichen Ambitionen zog sie 1993 ins Weisse Haus ein, sah sich als erste moderne First Lady. Sie, die blitzgescheite Anwältin, die sich für Kinder und Frauen engagierte, sagte: «Wenn ihr meinen Mann wählt, kriegt ihr zwei für den Preis von einem.» Sie werde nicht «Kekse backen und Tee trinken» – und stiess damit jede bisherige First Lady vor den Kopf.
Ihr Büro richtete sie im Westflügel des Weissen Hauses ein, dort, wo das Team des Präsidenten sitzt. Sie wirkte, agierte, andere sagten: Sie wuselte ziellos – und scheiterte kolossal dabei, das marode amerikanische Gesundheitssystem zu sanieren.
Sie enttäuschte ihre Freunde. Feinde begannen sie zu hassen. Am republikanischen Parteitag im Jahr 2000 bot einer Türmatten mit Clintons Antlitz feil, «damit sich jeder den Dreck von den Schuhen auf ihrem Gesicht abreiben kann», sagte der Verkäufer.
Mit stoischer Ruhe steckte sie alles weg. Es machte sie stärker, offenbarte, was sie letztlich ist: eine Patriotin. Immer stellte sie das Land vors eigene Wohl. Nie stand eine persönliche Niederlage ihren hehren Zielen im Weg. Stets machte sie einfach weiter.
Sie war First Lady von Arkansas, als Gerüchte über ihren angeblich untreuen Gatten auftauchten. Hillary liess sie abperlen. Denn sie wusste: Bill kann mit ihr Präsident werden und so die USA voranbringen. Sie schwieg – und kämpfte für ihn.
Nie zeigte sie mehr Grösse und weniger Eigensinn als 2008 – als Barack Obama Präsident wurde. Dabei hätte es ihr Jahr sein sollen. Zuvor mühte sie sich auf der Hinterbank des Senats ab. Tat alles, um Präsidentin zu werden. Sie wollte für Amerikas Frauen im Weissen Haus die letzte Hürde nehmen.
Sie war erfahrener als Obama, viele sagten: klüger. Ihr Wahlkampf aber war verhalten. Amerika hatte nach den Bush-Jahren genug von politischen Dynastien. Die Botschaft des jungen und agilen Obama war frischer. Knapp unterlag sie in den Vorwahlen. Andere Politiker hätten sich beschämt zurückgezogen. Hillary aber stellte selbst in der bittersten Niederlage die Partei voran. Obama bot ihr kulant das Aussenministerium an. Sie nahm an und vermied einen jahrelangen kräfteraubenden Streit zwischen den Clintons und Obamas.
Sie rackerte, holte für die US-Diplomatie den Einfluss zurück, den sie unter Bush verloren hatte. Weltweit hob sie das Ansehen Amerikas, feierte Erfolge in China, im Nahen Osten, in Afrika. Scheinbar ruhelos flog sie um die Welt, nahm für jährlich 186 600 Dollar Lohn matte Augen, stumpfes Haar, einen fülligen Körper in Kauf. Sie erarbeitete sich den Status einer «Rock-Star-Diplomatin», so die «New York Times».
Was gemeint ist, war letzten Sommer in Genf zu erleben, als die Schweiz Gastgeberin einer Konferenz zum Krieg in Syrien war. Clinton bestimmte die abschliessende Pressekonferenz. Sie gab den Aussenministern Russlands, Grossbritanniens, Frankreichs und Chinas – alles Männer – zu verstehen, wer befiehlt. «Assad muss gehen.» – «Niemand mit Blut an den Händen darf der syrischen Regierung angehören.» – «Täglich verlieren in Syrien mehr als hundert Menschen ihr Leben. So viele, wie hier Journalisten sitzen.»
In einem Raum voller Diplomaten zieht sie die Augen und Ohren aller auf sich. Wer sie in Verhandlungen erlebt, beschreibt sie als «unerbittlich». Sie nerve, «bis sie ihr Ziel erreicht und die Gegner allesamt entkräftet aufgeben», sagt ein US-Diplomat.
Nun ist sie selbst knapp bei Kräften. Im Dezember erkrankte Clinton auf einer Europareise an einer Magendarm-Grippe, fiel in Folge in ihrer Wohnung in Washington in Ohnmacht. Beim Fall schlug sie den Kopf an, erlitt eine Hirnerschütterung. Später stellten die Ärzte ein Blutgerinnsel im Hirn fest. Feinde feierten bereits ihr Ende, streuten Gerüchte, sie hätte einen Tumor oder simuliere, um Anhörungen im Senat zum Attentat auf den US-Botschafter in Libyen auszuweichen.
Und Hillary? «Sie freut sich, nächste Woche ins Büro zurückzukehren», sagt ihre Sprecherin. Ihren letzten Arbeitstag hat sie am 20. Januar. Ausruhen wird sie nachher kaum.