Um 22 Uhr 20 brach der Jubelsturm los

Ausgelassen feierten seine Anhänger in Chicago Präsident Barack Obama. Tenor im McCormick Place: Er muss anpacken, was er bisher versäumte.

Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)

Zuerst ein dumpfes Raunen, dann durchzieht ohrenbetäubendes Gekreische die Halle des McCormick Place in Chicago. Dienstagnacht, 22.20 Uhr. Zehntausend Menschen schreien, fallen sich in die Arme, tanzen. Barack Obama (51) ist Wahlsieger.

Sechzig Millionen Amerikaner gaben dem Präsidenten ihre Stimme – 50 Prozent der Wählerschaft. Auf den republikanischen Herausforderer Mitt Romney (65) entfielen 48 Prozent. Obama hat bisher 303 Wahlmänner erhalten, Romney 206. Offen ist Florida.

Um halb eins betritt Obama mit Gattin Michelle und seinen beiden Töchtern die rot-weiss-blau geschmückte Bühne. «Die Wirtschaft erholt sich», stimmt Obama optimistisch an. «Zehn Jahre Krieg sind bald vorbei.»

Seine Anhänger horchen in ihren besten Roben. Viele Männer tragen Anzug und Krawatte. Frauen schicke Kleider und adrette Schuhe. Sie wissen: Für historische Ereignisse macht man sich hübsch.

Glamourös ist die Wahlnacht. Was ihr fehlt, ist Spannung. Schon die ersten Hochrechnungen zeigen: Romney ist chancenlos. Zurück liegt er in Ohio, ebenso in Pennsylvania und Florida. Zwei dieser drei Bundesstaaten müsste er aber gewinnen.

«Nochmals vier Jahre», johlen derweil die Demokraten. An der Decke hängen riesige Sternenbanner. Satter Rock wummert. Jeder blickt hoch zu den Grossbildschirmen, jubelt, wenn Obama einen Staat gewinnt. Am lautesten, als CNN vermeldet, Romney habe per Telefon seine Niederlage eingestanden.

Eine Priesterin spricht ein Gebet, eine Soulsängerin singt die Nationalhymne. In der Luft hängt der Dunst von viel Alkohol. «Hey, das ist eine Party», sagt Perri Small, Moderatorin bei Chicagos einziger unabhängigen schwarzen Radiostation. Obama hätte bei ihr einst eine Sendung gehabt, sagt sie. «Wir haben ihn unterstützt, bevor ihn alle kannten», so Small. Sie ist zuversichtlich. «Obama wird jetzt gelöster anpacken, was er in der ersten Amtszeit versäumt hat.» Ihre Priorität? «Wahlen müssen fairer werden.»

Erneut kommt es zu Ungereimtheiten. Republikaner sollen angeblich Bürger vom Wählen abschrecken. Maschinen funktionieren nicht. Stundenlang warten viele Wähler. «Es ist absurd, wenn das Vorbild der freien Welt selbst ein solches Chaos hat.»

Mehrheitlich Frauen feiern mit Obama. Freundinnen sind zusammen da, Mütter mit Töchtern – ein Spiegelbild des Resultats. 55 Prozent der Frauen stimmten für Obama. «Obama steht für unsere Rechte ein», sagt Pat Reiter (61), Krankenschwester in Chicago, an der Seite ihre Tochter Traci Ethridge (33), eine Lehrerin. Beide hatten für Obama Geld gesammelt und unentschlossene Wähler angerufen. Dafür erhielten sie eine Karte für die Party. «Mir ist die Besetzung des Obersten Gerichtshofs sehr wichtig», sagt Reiter. Zwei Sitze dürften bald frei werden. Reiters Wunsch: «Obama soll Hillary Clinton zur Richterin machen.»

Zufrieden sind im McCormick Palace alle. Und alle wollen mehr von ihrem Präsidenten. Widerwillig nur wählte die 25-jährige Sozialarbeiterin Stephanie Renno Obama ein zweites Mal. «Das Gefangenenlager in Guantánamo Bay ist ein Schandfleck Amerikas», sagt sie. «Obama muss es schliessen.» Stoppen müsse er zudem den «hinterhältigen Drohnenkrieg», sagt sie.

«Geweint wie ein Baby» hatte Jean Raymond Desruisseaux (27) vor vier Jahren, als Obama gewählt wurde. Erstmals hatte ein Präsident die gleiche Hautfarbe wie er. «Für uns Schwarze, für das ganze Land, war das eine historische Wahl», sagt Desruisseaux. Aber: «Obama hätte für die Schwarzen mehr machen können», so der Informatiker. Er verzeiht ihm. «Eine erste Amtszeit ist oft ein Kompromiss.»

Jim Slama (52) führt in Chicago ein Lebensmittelgeschäft, verkauft Früchte, Gemüse und Fleisch von örtlichen Farmern. «Obama wird jetzt ein besserer Präsident werden», ist er überzeugt. «Er hat sich befreit von den Fesseln der ersten vier Jahre.» Heute sei kein Tag, um sich über verpasste Chancen zu grämen. «Ich bin aus Chicago wie Barack, er ist ein grossartiger Mensch und ein grossartiger Präsident, ich bin stolz auf ihn.»

Als «grandios» beschreibt er die Rede des Präsidenten. Obama verspricht darin, über ideologische Grenzen hinweg Lösungen zu finden. Mit Romney sitze er zusammen, «um unser Land voranzubringen». Seine Prioritäten: das Defizit senken, das Steuersystem vereinfachen, die verfahrene Situation bei der Immigration will er aufbrechen. «Zudem müssen wir uns befreien von importiertem Erdöl.»

Zärtlich die Liebeserklärung an die First Lady. «Michelle, nie habe ich dich mehr geliebt», sagt er. Ist stolz, «dass sich der Rest Amerikas in dich verliebt hat».

Zuletzt ruft er die Amerikaner zur Einheit auf. Sagt, was er 2004 in der famosen Rede sagte, die seine politische Karriere lanciert hatte. «Wir alle haben die gleichen Hoffnungen für die Zukunft.» Jedes Kind soll eine gute Bildung erhalten und keinerlei Schulden erben. Die Erde dürfe sich nicht weiter erwärmen, die Jobs müssten sicher und das Militär stark sein.

«Wir sind kein gespaltenes Land», so Obama, «wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika.» Keine Rolle spiele, «ob du schwarz oder weiss bist, Latino oder Asiat, jung oder alt, reich oder arm, gesund oder behindert, Homo oder Hetero.» Für die USA gelte: «Wer sich wirklich bemüht, kann es in diesem Land zu etwas bringen.»

Von der Decke fallen Konfetti. Springsteen rockt. Obama herzt Michelle, seine Töchter – und Vizepräsident Joe Biden.