Von Peter Hossli
Heute wählen die USA ihren Präsidenten. Zu Ende geht der teuerste amerikanische Wahlkampf der Geschichte – und einer der farblosesten. Keiner der beiden Kandidaten war in der Lage, Amerika wirklich zu begeistern. Es fehlten Höhe- wie Tiefpunkte.
Verschwunden ist die Euphorie für Barack Obama (51) von 2008. Selbst in den Wahlkampfbüros der Demokraten ist keine echte Begeisterung spürbar.
Viele Republikaner in Texas, in Ohio und New York beschreiben Mitt Romney (65) als «den Besseren der beiden». Sie sagen: «Amerika braucht einen Geschäftsmann, um voranzukommen.» Leidenschaftliche Argumente sind auch das nicht.
Echte Visionen für die USA hatten weder Romney noch Obama zu bieten. Wett machten sie es mit Eifer. Nie hielten Kandidaten mehr Reden als bei dieser Wahl – ohne allzu viel zu sagen.
Allein gestern hetzte Romney von Florida nach Virginia, von New Hampshire nach Ohio, küsste Babys, schüttelte Hände – und beschimpfte den Präsidenten. «Er hat euch im Stich gelassen», sagte Romney. «Obama hat sich mehr für liberale Ideologie interessiert als für die Wirtschaft der USA.» Platt sein Rezept: «Amerika braucht mehr Jobs.» Heute reist er nach Ohio und Pennsylvania, bevor er die Wahlnacht in Boston verbringt. Normalerweise halten Kandidaten am Wahltag keine Reden mehr.
Obama jettete gestern von Wisconsin nach Iowa und Ohio. «Wir haben viele Fortschritte gemacht, Osama Bin Laden getötet, die Mittelklasse gestärkt, uns von der Krise erholt», so Obama. Und: «Der Kampf geht weiter, wir haben noch viel vor.»
An Bord der Air Force One flog Rocker Bruce Springsteen (63) mit. Mit hochgekrempelten Ärmeln gab der «The Boss» genannte Musiker vor jedem Auftritt Obamas ein kurzes Konzert. «Ihr seid sicher wegen Bruce und nicht wegen mir gekommen», witzelte Obama.
Abends kam der Präsident in seiner Heimatstadt Chicago an, wo er die Wahlnacht verbringt.
Stimmen die letzten Umfragen, schläft der Präsident ruhig. Zwar liegt Obama national gleichauf mit Romney. In wahlentscheidenden Staaten aber führt er. Zudem stehen mehr unabhängige Wähler hinter ihm.
Wie so oft am Schluss von US-Wahlen häuften sich gestern Meldungen über Ungereimtheiten. Insbesondere Republikaner sollen Wähler in Wackelstaaten eingeschüchtert haben. «Es ist schrecklich, wie die Demokratie untergraben wird», sagt Drehbuchautor Jonathan Stein. Er wählt in Pennsylvania. «So aggressiv wie dieses Jahr habe ich das noch nie erlebt.»
Die Demokraten haben bereits etliche Klagen eingereicht. Wird es knapp, dürfte sich das amtliche Ergebnis verzögern.
Erste Resultate sind morgen nach zwei Uhr Schweizer Zeit zu erwarten. Wer in Ohio und Florida siegreich war, wird gegen sechs Uhr bekannt sein. Nicht ausgeschlossen ist ein Unentschieden – wenn beide Kandidaten je 269 Elektorenstimmen holen. Dann müsste Romney mit Vizepräsident Joe Biden die Regierung bilden.
Sind die Wahlen vorbei, gilt die Aufmerksamkeit wieder den Nachwehen von Orkan Sandy. Viel zu langsam erholen sich New York und New Jersey. 1,4 Millionen Menschen haben nach wie vor keinen Strom. Morgen Mittwoch zieht ein neuer, eisiger Sturm auf. Dabei stehen noch immer Tausende Keller unter Wasser, sind ganze Hochhäuser unbewohnbar. 40 000 New Yorker sollen obdachlos sein. Sporadisch fahren Züge und Busse. Polizisten bewachen Tankstellen.
Nach einer Woche Zwangsferien öffneten gestern 94 Prozent der Schulen. Obwohl einige Schulhäuser ohne Heizung auskommen müssen. Bürgermeister Michael Bloomberg riet Eltern, ihren Kindern warme Pullover anzuziehen.