Von Peter Hossli
Längere Schlangen als sonst bilden sich im Supermarkt an der 8th Avenue/26. Strasse in Manhattan. Vornehmlich Wasser kaufen die Kunden, dazu Teigwaren, Reis und Batterien. «Wir müssen bereit sein für Sandy», sagt eine ältere Frau. Ein Packer hilft ihr, vier Gallonen Trinkwasser in einen Einkaufswagen zu heben.
New York bereitet sich vor auf Orkan Sandy, einer der mächtigsten Sturmfronten seit vielen Jahren. US-Medien tauften den Hurrikan Frankenstorm, in Anlehnung an das Monster Frankenstein.
Meteorologen erwarten, dass Sandy heute Nacht oder Dienstag früh die Ostküste erreichen wird. Sturmböen und heftige Regenfälle bedrohen ein Gebiet mit 50 Millionen Einwohnern. Die Menschen stellen sich auf Stromausfälle ein. Sogar «sieben bis zehn Tage ohne Strom» müssten gewisse Regionen in New Jersey auskommen, fürchtet der dortige Gouverneur. Bereits jetzt sind Tausende entlang der Küsten evakuiert worden. Im Städtchen Islip auf Long Island mussten alle Einwohner ihre Häuser umgehend verlassen.
Gestern um 17 Uhr schloss New York alle städtischen Parks, damit niemand von entwurzelten Bäumen und herunterfallenden Ästen getroffen wird. 65 Notschlafstellen nahmen New Yorker auf, die am Meer wohnen. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg mahnte alle Bürger, zu Hause zu bleiben und auszuharren.
Weit kämen sie ohnehin nicht. Abends um 19 Uhr stellten die Subway, alle Busse und die Nahverkehrszüge ihren Betrieb ein – auf Geheiss von New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo. Sollten Sandys Winde schneller als 96 Kilometer pro Stunde wehen, schliesst Cuomo zusätzlich die Brücken der Stadt – der gesamte Verkehr käme zum Erliegen. Züge zwischen Washington und Boston stehen still. Fluggesellschaften streichen Flüge. New Yorks Schulen bleiben am Montag geschlossen. Kaum jemand wird ins Büro gehen.
Die Gezeiten verschärfen die Lage noch. Gerade jetzt herrscht an den Küsten Flut. Überdies wird Sandy auf einen kräftigen Wintersturm treffen, der arktische Luft übers Land treibt. Das bringt Schnee in Ohio und Pennsylvania.
Rund 60 000 Soldaten stehen bereit, das drohende Chaos abzuwenden. Erwartete Kosten von Sandy: 3,2 Milliarden Dollar.
TV-Sender berichten rund um die Uhr über den Sturm – für viele Amerikaner eine willkommene Abwechslung von den permanenten Beiträgen zu den Präsidentschaftswahlen.
Und doch greift das Wetter direkt in den Wahlkampf ein. So drängt Sandy insbesondere Präsident Barack Obama (51) auf einen schmalen Grat. Der Sturm ist für ihn eine Chance – und er birgt Gefahren. Zeigen kann der Präsident in den Tagen vor dem Wahltag am 6. November, wie er Krisen meistert. Wohl deshalb liess er sich an Bord seiner Air Force One ablichten – bei der Koordination der Vorbereitungen auf Sandy.
Wie ein Präsident, der weiss, was er tut, soll er aussehen. Drei der acht wahlentscheidenden Bundesstaaten liegen in Sandys Weg: Ohio, Virginia und New Hampshire. Geht bei Hilfsaktionen dort etwas schief, verlöre Obama viele Stimmen. «Für ihn gibt es nichts Wichtigeres als die Sicherheit aller Amerikaner», so sein Sprecher. «Statt Wahlkampf zu betreiben, reist der Präsident ins Weisse Haus, um Orkan Sandy zu beobachten.»
Allerdings verpasst Obama so wichtige Auftritte. Zwei hat er bereits gestrichen, einen davon mit Ex-Präsident Bill Clinton. Dabei wäre Wahlkampf nötig. Obama liegt bei nationalen Umfragen knapp hinter Herausforderer Mitt Romney (65). Geschmolzen ist sein Vorsprung in Ohio.
Zudem mindert der Sturm die Wahlbeteiligung. Setzt Sandy wie erwartet Teile Ohios unter Wasser, hält das viele von den Urnen fern. Obama aber ist in Ohio auf jede Stimme angewiesen. Er hatte gehofft, Wähler zur frühzeitigen Stimmabgabe zu ermutigen. So stellt sein Team Busse bereit, die nach Obama-Auftritten die Leute in Wahllokale fahren. Fegt Sandy durch Ohio, stehen die Busse still.
Romney hofft auf Fehler Obamas bei der Abwicklung des Sturms, um dann den Präsidenten zu beschuldigen. Selbst ist Romney aber nicht vor Sandy gefeit. Er muss in Virginia siegen, um ins Weisse Haus einzuziehen. Nun aber musste er in Virginia alle Auftritte absagen.