Nur eine 17-Millionen-Schweiz sichert unsere Renten

Wir leben länger und haben weniger Kinder. Die Überalterung schwächt das Vorsorgesystem. Nun muss die Politik handeln, fordert der UBS-Chefökonom.

Von Peter Hossli

Die Schweiz braucht im Jahr 2040 rund 17 Millionen Einwohner. Erhält sie die nicht, sind unsere Renten in Gefahr. Zu diesem dramatischen Schluss kommen Ökonomen der UBS in einer soeben veröffentlichten Studie.

17 Millionen? Das wären mehr als doppelt so viele Menschen, wie momentan in der Schweiz leben. Heute sind es acht Millionen.

Und wozu sind diese Menschenmassen nötig? «Das Vorsorgesystem ist vorbildlich», sagt Daniel Kalt (43), Chefökonom der UBS Schweiz. «Aber es ist nicht gefeit gegen die Langlebigkeit.» In der Schweiz leben ständig mehr Alte und weniger Junge. Dies bringt das auf AHV, Pensionskasse und privates Sparen beruhende System in Schieflage. Mehr Menschen brächten mehr Stabilität.

Überalterung
Zwei Faktoren treiben die Überalterung an: Wir leben länger und wir haben weniger Kinder. Die Gebärfreudigkeit hat sich seit 1960 nahezu halbiert. Durchschnittlich bringt eine in der Schweiz lebende Frau bloss 1,5 Kinder zur Welt. Vor vierzig Jahren waren es pro Frau noch 2,1 Kinder gewesen – die Bevölkerung war im Gleichgewicht.

Anfang der 60er-Jahre lag die ­Geburtenrate bei beachtlichen 2,6 Kindern. Wer damals zur Welt kam, gehört zur famosen «Babyboomer»-Generation.

1960 zahlten für jeden Rentner sechs arbeitstätige Personen in die Sozialwerke ein. Mittlerweile hat sich das Verhältnis auf eins zu vier reduziert – um ein Drittel. Geht es weiter wie bisher, liegt die Quote 2050 noch bei eins zu zwei. Die Kinder der Babyboomer sorgen sich zu Recht um ihre Altesvorsorge. Rein rechnerisch könnten sich ihre Bezüge halbieren.

Zumal moderne Medizin und Evolution die Lage zusätzlich erschweren. Ein Mann, der 1968 in den verdienten Ruhestand trat, lebte im Schnitt noch 13 Jahre. Heute darf er mit 18 Jahren rechnen. Bis 2050 steigt die durchschnittliche Rentenbezugsdauer auf 20,3 Jahre, bei Frauen sogar auf 24,5. Wir werden rasant älter. Die heute 65-Jährigen leben im Schnitt bereits 3,5 Jahre länger als ihre
Eltern. Weltweit verstärkt sich die Tendenz weiter, sagen Mediziner.

Die Modellrechnung
Als Lösung schlagen manche Politiker und Demografen vor, die Grenzen zu öffnen. Zuwanderung soll die Löcher in den Sozialwerken stopfen und die Staaten verjüngen. UBS-Chefökonom Kalt hat untersucht, ob das funktioniert.

Er simulierte die Veränderung der Schweizer Alterspyramide über 28 Jahre hinweg, bis 2040. Bleibt das Rentenalter gleich, gehen dann Erwerbstätige in Pension, die heute 37 Jahre alt sind.

Kalt kalkulierte mit der aktuellen Geburtenrate von 1,5 Kindern. Ebenfalls gleich bleibt in seinem Modell die Einwanderung: eine Zunahme von netto einem Prozent. Wächst die Schweiz jährlich unverändert weiter, steigt die Einwohnerzahl bis 2040 von acht auf elf Millionen. Der sogenannte Alterslast-Quotient fällt auf unter drei: Weniger als drei Personen im Erwerbsalter tragen einen Rentner. Mit drastischen Folgen für die AHV. Bezüger erhielten 25 Prozent weniger als heute, haben die UBS-Ökonomen berechnet. Oder die Beiträge der Zahler steigen um 25 Prozent.

Noch dramatischer fällt das Szenario aus, wenn sich in der Schweiz durchsetzt, was rechte und linke Politiker fordern: striktere Schranken gegen Einwanderung sowie strengere Bauauflagen. Stagniert die Einwohnerzahl bei neun Millionen, kämen 2040 nur noch 2,5 Beitragszahler für einen Rentner auf. Die Rentenkürzung würde in diesem Fall 37,5 Prozent betragen. Es sei denn, die Lohnempfänger zahlen 37,5 Prozent mehr ein als heute.

Was aber wäre nötig, um den heutigen Alterslast-Quotienten beizubehalten, also weiterhin vier Erwerbstätige pro Rentenbezüger? «Wenn im Jahr 2040 gleich viele Personen wie heute die Rentner tragen sollen, braucht die Schweiz 17 Millionen Einwohner», sagt Kalt. Da die Geburtenrate bis dahin kaum steigen dürfte, wäre eine Verdoppelung der Einwanderung notwendig. «Das aber ist aus politischen Gründen kaum vorstellbar», glaubt der UBS-Ökonom.

Die 17-Millionen-Schweiz
Machbar allerdings wäre es. «Man kann sich eine Schweiz vorstellen, die wie ein grosses London aussieht», meint Kalt. «Das Mittelland ist dann gänzlich verbaut, Grünflächen gibt es vor allem noch in den Alpen und im Jura.»

Unser Land sei im internationalen Vergleich ausgesprochen attraktiv, eine grosse Zuwanderung sei ihm sicher. «Lässt man die Schweiz ungebremst wachsen, also ohne Umweltbedenken und Überfremdungsängste, wäre ein grosses London möglich.»

Zu alte Einwanderer
Immigration allein kann die Probleme der Altersvorsorge aber nicht lösen. Kalt: «Es ist praktisch unmöglich, die schleichende Über­alterung der Bevölkerung mittels Bevölkerungswachstum und Immigration aufzuhalten.» Zumal nicht unbedingt die richtigen Leute in die Schweiz kämen. Womit der Ökonom nicht Herkunft und Ausbildung meint. Sondern das Alter der Zuwanderer.

Die Personenfreizügigkeit lockt nämlich gut ausgebildete und daher ältere Menschen in die Schweiz. So hat seit 2001 die Einwanderung von über 35-Jährigen stark zugenommen. Vorher – zwischen 1992 und 2001 – kamen mehr Menschen, die jünger als 35 waren, also länger ins Altersvorsorge­system einzahlen.

Szenarien
Was, wenn in der Schweiz bis 2040 nicht 17 Millionen Personen leben? «Dann könnten wir die heutigen Leistungsversprechungen nicht aufrechterhalten», sagt Daniel Kalt. Und: «Dann braucht unser Vorsorgesystem dringend erhebliche Anpassungen.»

Wobei es kein einzelnes Mittel gebe, das alle Probleme zugleich behebt. «Wir müssen die Fakten ­offen auf den Tisch legen und sie breit diskutieren», mahnt der Ökonom. Es gehe um eine Kombination mehrerer Massnahmen.

Wer arbeitet, müsse höhere Beiträge zahlen, vom Lohn würde mehr abgezogen und AHV wie Pensionskassen zugehalten. Auch die Arbeitgeber müssten mehr in die einzelnen Kassen einzahlen.

Für den Ruhestand stünde dann weniger Geld bereit. Und wir würden bis zur Rente länger arbeiten müssen. Kalt geht von einem künf­tigen Rentenalter von 68 bis 70 aus – für Männer und Frauen.

Mit seinen Berechnungen hofft er, in der Schweiz eine heftige Debatte auszulösen. Bundesrat und Parlament drängt der UBS-Mann, «ein Gefühl grösster Dringlichkeit» zu schaffen. Dies sei nicht einfach. Denn die Probleme liegen in der Zukunft. Und darüber dächten viele nur ungern nach. «Umso mehr muss es uns allen bewusst werden, dass wir rasch handeln müssen», verlangt Kalt. Nur dann lasse sich durchsetzen, was politisch wünschbar sei: die Kosten der notwendigen Reformen auf sämtliche Genera­tionen zu verteilen.

Die zweite Säule
Wie wichtig das ist, zeigt ein Blick auf die zweite Säule. Bei der Pensionskasse sind finanzielle Ungleichgewichte «mittels höherer Immigration noch weit weniger abwendbar als diejenigen in der ersten Säule», resümiert die UBS-Untersuchung. Zumal bei diesem Rentensystem die Renditen entscheidend sind. Die AHV baut auf ein Umlageverfahren. «Viele Pensionskassen stellen ihren Deckungsgrad zu positiv dar», weiss Kalt. Mancher Pensionskassenausweis, wie er jährlich bei den Versicherten ankomme, sei «geschönt».

Die technischen Zinssätze, mit denen die Kassen rechnen, hätten wenig mit der Realität zu tun, sagt der Ökonom. Man gehe von Renditen zwischen 3,5 und vier Prozent aus. Obwohl eine zehnjährige Anleihe bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft gerade mal ein halbes Prozent Zins bringt. «Solch tiefe Renditen setzen das System enorm unter Druck», sagt Kalt. Sein Vorschlag: «Die zweite Säule lässt sich stabilisieren, wenn wir das Rentenalter auf 70 erhöhen oder den Umwandlungssatz auf 5,5 Prozent senken.» Die Zeit drängt, denn die Wählerschaft altert rasch. Ältere Stimmbürger sind selten bereit, Kürzungen zuzustimmen.

Laut Kalt droht ein «gefährlicher Reformstau». «Wir untergraben das System finanziell.» Drastische Umverteilungsschritte könnten dann nötig werden. Beispielsweise könnten Personen, die mehr als die obligatorischen Pensionskassenbeiträge zahlten, diese verlieren – eine eiskalte Enteignung.