Von Peter Hossli (Text) und Andrew McConnell (Fotos)
Golden glänzt der Jeep, hinter dem sich Masood versteckt. «Fang mich doch», ruft der vierjährige Knabe seiner Schwester zu. Waghia (3) rennt am blauen BMW vorbei, passiert den silbernen Mercedes. Sie glaubt, Masood zu packen. Da schlüpft der flugs unter einen Geländewagen.
Die Kinder tollen rum, wo sie seit sieben Monaten wohnen – auf dem Parkplatz eines Gebrauchtwagenhändlers in Sidon, im Süden Libanons. Ihr Vater verkauft alte Autos. Schergen der syrischen Armee ermordeten kaltblütig 32 seiner Verwandten. Weil er um sein Leben fürchtete, floh er in den Libanon.
Ein bulliger Kerl ist Omar Harmoush (41). Fünfzehn Kinder haben ihm seine drei Ehefrauen geboren. Krause Haare bedecken Arme und Brust, aus dem Mund blitzt ein Goldzahn. Mürbe gemacht hat den starken Mann, was er in seiner Heimat sah. Omar war Zeuge, wie syrische Soldaten seinen Schwager erschossen, drei Cousins töteten. «Sie haben ihnen nichts angetan.» Omars Söhne desertierten. Sofort nahm die syrische Armee die ganze Sippe ins Visier. Der Patriarch befahl die Flucht. Er sandte die älteren Frauen mit zwölf Kindern in die Türkei. Mit Gattin Soraya und drei Kindern ging er nach Sidon zu Bekannten.
Schlaflos in Sidon
Zu fünft haust die Familie nun in einer mit Kleidern überquellenden, zehn Quadratmeter grossen Kammer. Der Fernseher läuft. Der einjährige Asaad schaut Trickfilme.
Nervös wippt sein Vater mit den Füssen. Ständig kratzt er am linken Unterarm. Er schläft kaum noch, erwacht nachts jeweils schweissgebadet.
Omar leidet an einem schweren Trauma – wie viele der 300000 Flüchtlinge, die seit Ausbruch des Bürgerkriegs im März 2011 Syrien verlassen haben. «Eine Flucht ist immer dramatisch», sagt die Schweizerin Caroline Nanzer von Caritas Libanon. «Sie lässt sich nicht planen. Sie führt zu Stress. Beziehungen leiden.» So würden Männer oft ihre Frauen schlagen. «Psychologische Hilfe ist so wichtig wie Essen und ein Dach über dem Kopf», erklärt Nanzer. «Omar braucht dringend Hilfe.» Findet Caritas das nötige Geld, will das Hilfswerk in der ganzen Region noch mehr Traumaopfer betreuen.
Er wolle zurück nach Syrien, sagt Omar, zurück zu seinem Job in der Kleiderfabrik. Der Autohandel liegt ihm nicht. Im einträglichsten Monat hat er fünf Wagen verkauft, im flausten nur zwei. Der kleine Asaad schmiegt sich an sein Bein, steigt ihm in die Arme. «Ich liebe mein Land», so Omar. Wann geht er zurück? Die einfache Frage überfordert ihn. Tränen kullern aus den dunkeln Augen. Dabei weinen Männer wie er nicht. «Wenn es sicher ist.» Wann? «Erst in zehn Jahren, egal, ob Präsident Bashar al-Assad bleibt oder nicht.» Seine Frau Soraya widerspricht. «Frieden ist in Syrien nur noch ohne Assad möglich.»
Omar und Soraya sind Sunniten, gehören der grössten islamischen Glaubensrichtung an – wie 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge im Libanon. Viele lassen sich in der mehrheitlich sunnitischen Küstenstadt Sidon nieder. Gastfreundlich ist jedoch der ganze Libanon. Gegen 65000 syrische Flüchtlinge beherbergt das Land zurzeit, täglich kommen 3000 dazu – bei einer Einwohnerzahl von gut vier Millionen. Grössere Probleme gab es bisher nicht. Gemischte Ehen verbinden die Nachbarländer, ebenso der rege Handel. Viele Libanesen erinnern sich an 2006, als bei ihnen israelische Raketen einschlugen. Damals nahm Syrien Flüchtlinge auf.
Allerdings treibt nun eine enorme Nachfrage nach Unterkünften die Preise in die Höhe. Selbst feuchte Ställe und Kellerlöcher kosten monatlich gegen 200 Dollar Miete. Kinder arbeiten, die Schule schwänzen sie. Syrische Frauen prostituieren sich. Angeblich werden Mädchen aus Syrien zum Heiraten nach Saudi-Arabien verkauft.
Armer Reicher in Beirut
Hupende Autos verstopfen eine enge Strasse in Beirut. Von Plakaten strahlt der Papst, daneben ein Imam der Hisbollah. Auf dem Gehsteig streckt ein untersetzter Mann die Hand zum Gruss. «Mein Name ist Ibrahim», stellt er sich vor, lächelt freundlich, trägt ein
T-Shirt der Jets, dem New Yorker Football-Team. Über eine schmale Treppe führt er in den ersten Stock eines Blocks. Die Türe öffnet sich zur kahlen Wohnung, belegt allein mit Matratzen. Sechs Kinder sitzen da. Das kleinste ist elf Monate alt, das älteste 14 Jahre. Seit zwei Monaten leben sie in der dunklen Enge.
Zu Hause in Syrien kochte Ibrahim als Chef in einem französisch-arabischen Restaurant. «Poulet war mein bestes Gericht.» Seinen Nachnamen gibt er zwar preis, er bittet aber, ihn nicht zu publizieren. Ebenso geheim bleiben soll, in welchem Stadtviertel die Familie wohnt. Nur im Gegenlicht darf der Fotograf sie aufnehmen, damit die Gesichter von Frau und Kindern unkenntlich bleiben. Beim Baby macht er eine Ausnahme. «Der Kleine verändert sich ja bald.»
Ibrahim hat Angst. «Sie wollen uns alle umbringen.»
Sie – das sei der syrische Geheimdienst. Sein Bruder diente als Oberst in der Armee, bis er desertierte. «Er wollte keine Syrer ermorden.» Kaum sei der Offizier nach Beirut geflohen, begann die Armee Ibrahims Familie zu bedrohen. Fluchtartig brachen sie auf. Ein Taxi brachte die Gruppe über die Grenze. Abgesehen von den Kleidern, die sie gerade anhatten, konnten sie nichts mitnehmen.
Der Vater erzählt vom Haus in Daara, im Südwesten Syriens, nahe der Grenze zu Jordanien. «Eine Villa», sagt er, mit drei Bade- und zwei Wohnzimmern. Für seine Kinder hatte er im Garten eine Rutschbahn aufgebaut. «Ob das Haus noch steht, weiss ich nicht.»
Wohlhabend sei er in Syrien gewesen. Sein Geld gab er einem Schlepper, der die Familie über die Grenze lotste. Für zwei spartanische Räume in Beirut, eine kleine Küche und ein defektes Badezimmer zahlt er monatlich 250 Dollar. Als Tagelöhner verdient er selten mehr als 80 Dollar. Den Rest borgt er. «Ich schulde dem Gemüsehändler an der Ecke 1050 Dollar.» Täglich bewirbt er sich in Restaurants. Syrer, die in Beirut Jobs vermitteln, helfen ihm.
Heute Koch, am nächsten Tag Flüchtling – wie verändert sich da ein Leben? Er schweigt, unterdrückt Tränen. «Es ist hart.»
Seine Kinder wollen zurück. «Sie können nicht zur Schule, weil sie da Englisch sprechen müssten», sagt er. «Sie haben nichts, keine Freunde, keine Spielsachen, keinen Garten.» Er träumt davon, dass «Syrien einmal wie Europa wird». Wie ist das möglich? «Wenn China, Russland und der Iran das Regime nicht mehr stützen.»
Der Garten Bekaa
Von Beirut führt eine kurvige, steile Strasse ostwärts hinauf auf die Bekaa-Ebene. Hier wächst der beste Wein der Region, überdies Oliven, Salate, Gurken, Mandeln und Tabak. Der Libanon-Highway teilt das Tal. Er verbindet Beirut mit Damaskus, Syriens Hauptstadt.
Vor der Grenze warten schwere Lastwagen auf Einlass nach Syrien. Von Syrien her kommen mit Koffern beladene Taxis. Täglich fahren sie hier 1000 Flüchtlinge in den Libanon. Wenige Meter von der Grenze entfernt steht auf libanesischem Boden eine erste Bank, eine zweite, noch eine. Davor parkieren amerikanische Geländewagen und deutsche Autos – alle mit syrischen Kennzeichen.
Es sind Geschäftsleute, die ihre Einnahmen einzahlen. Ausländischen Warenhandel wickeln sie über libanesische Banken ab. Wegen der Uno-Sanktionen sind internationale Zahlungen von Syrien aus nicht mehr möglich.
Eine halbe Stunde westlich der Grenze liegt das betuliche Städtchen Taalabaya. Hier gabeln sich die Strassen nach Beirut, Damaskus und Homs – der syrischen Stadt, aus der die meisten Flüchtlinge im Libanon stammen. Vor einem hellen Steinhaus bildet sich eine lange Schlange. Frauen in schwarzen Kopftüchern warten, an den Händen halten sie ihre meist schweigenden Kinder. Hinter einem Holztisch sitzt Samer Akr. «Caritas» steht auf seiner Weste. Für das katholische Hilfswerk registriert er Flüchtlinge. Akr nimmt ihre Namen auf, Mobiltelefonnummern, will wissen, wie lange sie schon im Libanon sind, welcher Religion sie angehören – und vor allen, warum sie kamen.
Wer sich registrieren lässt, erhält von der Caritas ein Lebensmittelpaket. Es enthält Reis, Teigwaren, Linsen, Bohnen, Tee, Zucker, Thon in Dosen sowie Halva, eine kalorienreiche Honigspeise. Fünf Menschen sollen einen Monat davon leben können. Das Paket kostet 50 Dollar, bezahlt von der Caritas. Bisher hat das Hilfswerk über 4000 syrische Familien registriert, rund 20000 Menschen.
Geld erhält die Caritas von der Schweizer Glückskette. Diese begann im März für Projekte mit syrischen Flüchtlingen zu sammeln. Bisher kamen 2,71 Millionen Franken zusammen – ein Klacks im Vergleich zu Naturkatastrophen. Für die Opfer des Erdbebens in Haiti etwa spendeten Schweizer über die Glückskette rund 66 Millionen. «Es ist einfacher für Not nach Naturkatastrophen Geld zu sammeln als für Elend, das Menschen verursacht haben», sagt Glückskette-Sprecherin Priska Spörri.
Dabei hätten syrische Flüchtlinge Hilfe dringend nötig. Ein frostiger Winter steht an mit Temperaturen weit unter null. Es fehlt an Geld für Decken und Heizöl. Die Wände vieler Häuser sind dünn. Tausende leben in Zelten.
Camp Dalhamiye
Rauchiger Duft liegt in der Luft. Wind wirbelt Staub, Abfall und Plastiktüten auf. Rund 200 Familien haben am Stadtrand von Dalhamiye simple Holzgestelle errichtet. Darüber gespannt sind Stofftücher und Plastikblachen.
Seit sechs Monaten bewohnt Fhada (36) eines dieser Zelte. Sie sitzt auf einem Teppich, eine Glühbirne erhellt den Unterstand. An einer Batterie hängen mehrere Mobiltelefone. Sie und ihre acht Kinder kamen von Homs in die Bekaa-Ebene. Ihr Fahrer erhielt 40 Dollar. Mit dem Geld kaufte er Benzin und etwas zu essen. Er fuhr zurück, um weitere Flüchtlinge zu holen. In der Nähe von der Grenze rollte sein Taxi über eine Tretmine. Er starb.
Ruhig erzählt Fhada ihre Geschichte. Frauen und Kinder strömen zu ihr ins Zelt, setzen sich auf den Boden. Die Männer stehen. Jeder hat etwas Schreckliches aus Syrien zu erzählen. Vom gefolterten Ehegatten, dem erschlagenen Bruder, der erwürgten Schwester, dem toten Kind.
Fasel (30) schildert, wie eine Rakete ihr Haus zerstört hat. Dass sie nicht weiss, ob ihr Mann noch lebt. Wann kann sie wieder zurück? Sie streckt beide Hände in die Höhe. «Das weiss allein Gott», sagt sie. «Erst wenn Gott Präsident Assad das Töten verbietet, können wir nach Hause.»
Fasel hat sich bei der Caritas gemeldet, nicht aber beim UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der Uno. Warum? Sie müsste mindestens drei Monate auf Hilfe warten. Zudem gilt die Uno als ausländische Organisation. Viele Syrer fürchten, sie trete ihre Daten dem syrischen Geheimdienst ab.
Schüsse in Baalbek
Noch heute zeugt ein Jupiter-Tempel in Baalbek von den alten Römern. Plötzlich fallen Schüsse, erst einzelne, dann Salven. Pick-up-Trucks rasen durch die Stadt. Sie transportieren bärtige Männer, die Kalaschnikows und gelbe Flaggen schwingen. Es sind Hisbollah-Kämpfer. Einer von ihnen fiel in Syrien. Für die Beerdigung holten sie ihn heim. Aus Trauer ballern sie nun in die Luft.
Der kleine Daham (2) klammert sich an seine Mutter Aisha (17). Er sitzt im Bauernhaus, bei dem der Hisbollah-Kämpfer beerdigt wird. Die Salven schüchtern ihn ein. Der Bub hörte Schüsse, als er vor zwanzig Tagen floh. Seine zwei Monate alte Schwester Usal wimmert unter einem Leintuch. Angst ist beiden ins Gesicht geschrieben. «Sie haben unser Haus zerstört», erzählt Aisha. Sie lässt sich nur von hinten fotografieren. «Sehen die Soldaten mich auf einem Bild, kommen sie bestimmt hierher und töten meine Kinder.»
Aisha fürchtet den Winter. Ihr Mann arbeitet als Tagelöhner. «Er verdient zu wenig, um genügend Öl für die Heizung zu kaufen.»
Ein Baby trocknet aus
Eine kleine Wohnung ausserhalb von Tyros, nahe an der Grenze zu Israel. Aus der Moschee schallen Gebete des Muezzins. Vier verwandte Familien – 18 Menschen – teilen sich drei Schlafzimmer. Ein Ventilator kühlt. In der Küche stehen Zuber mit nasser Wäsche, ein Gaskocher, ein defekter Kühlschrank. Syrische Palästinenser flüchten hierher, weil viele Palästinenser in Tyros leben, das Hilfswerk Terre des hommes ihnen mit Schweizer Spenden hilft.
Rahef ist 23. Sie hat drei Kinder, ein viertes starb. Mit 15 brachte sie ein erstes Mädchen zur Welt. Ihr Mann war in Syrien Schneider. Jetzt arbeitet er in einer Bäckerei, verkauft Kuchen.
Hochschwanger kam Rahef vor sieben Monaten in den Libanon. Da sie kein Geld hatte für die Geburt, schlich sie zurück nach Syrien, um zu gebären. Ihr Baby Hajma war zwanzig Tage alt, als sie per Taxi zurück nach Tyros fuhr. Heute ist Hajma fünf Monate alt, das Gesicht ihrer Mutter kreidebleich, die Augen leer. Isst sie genug, um die Kleine zu stillen? Sie stille nicht. Sie gibt dem Baby die Flasche. «Meine Milch ist versiegt», sagt sei. «Weil ich Angst hatte, Angst zu sterben.» Ihr Haus sei bombardiert worden, Schüsse fielen. Mehr kann sie nicht sagen über ihren Fluchtgrund. Wer den Tod fürchtet, braucht keine andere Erklärung.
Hajma liegt auf einem Kissen, bewegt sich kaum. «Ich bin krank, weil mein Baby krank ist», sagt Rahef. Sie gibt pro Woche 50 Dollar für Babymilch aus. Oft schüttet sie sie weg. Ihr Kind saugt viel zu wenig, hat Durchfall, leidet an Fieber. Was es trinkt, erbricht es. Warum ist sie nicht beim Arzt? «Wir stellen ärztliche Hilfe palästinensischen Syrern zur Verfügung, aber nicht Syrern», sagt der palästinensische Sozialarbeiter, der übersetzt und für Terre des hommes tätigt ist.
Eine Szene, die den Irrsinn der ganzen Region widerspiegelt. Ein Baby ist schwer krank. Da es ein syrisches Kind ist und kein palästinensisch-syrisches, können ihm die Palästinenser nicht helfen.
Eine Schweizerin von Caritas fragt nach, ob Rahef die Babymilch mit sauberem Wasser anrichte, ob die Windeln der Kleinen wenigstens ein bisschen nass seien, ob das Mädchen verdaue.
Hajma wimmert. Rahef legt sie in ein weisses Leintuch, hält das eine Ende, das andere packt ihre Schwester. Sanft versuchen sie es in den Schlaf zu wiegen. Zwei Mädchen – Ritash (5) und Rimas (3) – gucken ihrer Cousine zu, umsorgen sie liebevoll. Der Fotograf fragt, ob er fotografieren dürfe. «Wo erscheint das Bild?», fragt Rahef. In der Zeitung. «Auf keinen Fall.» Auch sie hat Angst, syrische Agenten könnten sie sehen – und sie bedrohen. Nicht einmal verschleiert will sie sich zeigen. Die Augen der Kinder aber darf der Fotograf zeigen.
Das Mobiltelefon der Schweizer Caritas-Mitarbeiterin klingelt. Sie hat eine gute Nachricht. Hajma kann am Nachmittag in Saida einen Notfallarzt aufsuchen. Auf Kosten der Caritas.
Wie Schweizer in Syrien helfen
Es ist schwierig für Hilfswerke, in Syrien zu agieren. Deshalb unterstützt die Glückskette vor allem Organisationen, die sich im Libanon und in Jordanien für das Wohl von Flüchtlingen einsetzen. Bisher hat sie 2,71 Millionen Franken gesammelt. Unterstützt werden neun Projekte von Caritas, Handicap International, Schweizerisches Rotes Kreuz, Solidar Suisse und Terre des hommes. Spenden unter 10-15000-6, Vermerk: Syrien.
DRS1 strahlt heute Sonntag, um 9.45 Uhr, die Sendung «Glückskette aktuell» aus. Zu hören ist eine Reportage über eine Libanesin, die in Beirut Flüchtlinge mit Essen und Kleidern versorgt.
Guter Artikel! Danke, jetti