Interview: Peter Hossli und Claudia Gnehm, Fotos: Sabine Wunderlin
Für Bundesrat Schneider-Ammann (60) war es eine erfolgreiche Session. Vier Vorlagen brachte er durchs Parlament: Landwirtschaftsreformen, flankierende Massnahmen, liberalere Ladenöffnungszeiten, bessere Arbeitsbedingungen für stillende Mütter. Am Freitagnachmittag sprach er in Basel an der Gedenkfeier für den verstorbenen FDP-Nationalrat Peter Malama. Kurz vor 17 Uhr betrat der Volkswirtschaftsminister das Basler Hotel Trois Rois zum Interview.
Herr Bundesrat, Sie gelten als Sieger der Session. Feiern Sie?
Johann Schneider-Ammann: Ich habe Freude am Ergebnis, denn es ist gut für die Landwirtschaft und den Werkplatz. Als persönlichen Erfolg sehe ich das aber nicht. Setzt sich ein Bundesrat durch, ist das gesamte Kollegium siegreich.
Wie kann sich ein Ex-Industrieller für Landwirtschaft erwärmen?
Ich wuchs mit der Landwirtschaft auf. Mein Vater war Tierarzt. An schulfreien Tagen habe ich ihn begleitet. Stimmte der Bauer zu, erlaubte mir mein Vater, bei Kälbergeburten jeweils den Kaiserschnitt zu machen. Durfte ich nicht schneiden, «schnurpfte» ich die Naht zu. Vermutlich könnte ich es noch heute.
Ihre Familie besitzt einen Bio-Bauernhof in Madiswill. Warum?
Es ist kein spezifischer Bio-Hof. Er produziert Milch, Obst und Gemüse. Der Betriebsleiter zählt bei der Landwirtschaft zu meinen wichtigen Beratern und Kritikern.
Sie haben gesagt, Sie würden sich dereinst auf diesen Hof zurückziehen und Tiere züchten.
Um einen Familienzwist zu verhindern: Ich habe nie gesagt, ich wolle auf diesen Hof. Einen eigenen Hof aber möchte ich haben. Mein Vater schaute sich als Pensionär für mich nach einem schönen Hof um. Leider ohne Erfolg.
Sie haben die Tierbeiträge gestrichen. Bauern sollen Wiesen anlegen statt Produkte herstellen. Warum dürfen sie keine Unternehmer mehr sein?
Im Gegenteil, sie werden mit der neuen Landwirtschaftspolitik noch mehr zu Unternehmern. Sie werden besser für ihre Leistungen bezahlt. Was sie tun, bestimmen sie selbst.
Wie soll sich die Landwirtschaft noch weiterentwickeln?
Die Landwirtschaft wird besser, wenn sie wettbewerbsfähiger wird. Die Grenzen werden sich weiter öffnen. Konsumenten sind nicht nur qualitäts-, sondern preisbewusst. Finden sie ein Produkt hier nicht, suchen sie es im Ausland.
Bauern wollen sich abschotten.
Den Landwirten hilft man am besten, wenn man ihnen zeigt, wie sie wettbewerbsfähiger werden. Wie erhöht man die Wettbewerbsfähig? Vor allem durch höhere Qualität.
Unsere Qualität ist nicht hoch?
Die Landwirtschaft arbeitet hochwertig. Aber diese Reise ist nie zu Ende. Man muss sich weiter verbessern.
Der Käsehandel ist bereits liberalisiert. Welche Bereiche folgen?
Der Nationalrat verlangt einen Bericht zur Liberalisierung des Milchmarkts. Das ist ein guter, notwendiger, mutiger Auftrag. Wir können unsere Märkte nicht abschliessen.
Rühren Schweizer Kinder die Ovi künftig mit belgischer Milch an?
Am liebsten wäre es mir, sie tun es mit Schweizer Milch. Es geht nicht um Schweizer gegen belgische Milch. Wir müssen die heimische Qualität stärken. Rührt die Mutter dem Kind eine Ovomaltine, muss für sie das Preis-Leistungs-Verhältnis der Schweizer Milch stimmen.
Wie hoch ist der Anteil ausländischer Angestellten im EVD?
Das weiss ich ehrlich gesagt nicht.
Gesamtschweizerisch ist der Anteil auf 28,5 Prozent gestiegen. Die Zahl der Schweizer stagniert. Warum hat die Wirtschaft Mühe, Schweizer zu beschäftigen?
Sie hat keine Probleme, Schweizer zu beschäftigen, sofern es sie gibt. Um vor allem die Frauen zu einer Rückkehr in ihre Berufe zu motivieren, habe ich 2011 die Fachkräfte-Initiative gestartet.
Seit 2002 wuchs der Anteil der Schweizer Erwerbstätigen um sieben Prozent, jener der ausländischen um 25. Wann bricht der Trend?
Dieser Trend lässt sich kaum brechen. Die Kluft kann man aber verkleinern. Allein in den letzten zwölf Monaten wurden 45000 neue Stellen geschaffen. Da reicht der einheimische Arbeitsmarkt nicht aus.
Gibt es eine kritische Grösse?
Ich unterscheide nicht zwischen Schweizern und Ausländern. Wer zu uns kommt, soll sich integrieren, Perspektiven haben. Derzeit haben wir kaum Arbeitslosigkeit. Es ist unerheblich, ob jemand in der Schweiz oder im Ausland ausgebildet worden ist. Hauptsache, er ist gut.
Was bedeutet es für unser Land, wenn fast ein Drittel der Arbeitskräfte aus dem Ausland kommt?
Dadurch entsteht ein Wettbewerb zwischen auswärts und hier Ausgebildeten. Wettbewerb befördert! Es hilft uns allen, uns zu bewegen. Das bringt das Land weiter.
Schweizer fürchten, Ausländer nehmen ihnen die Jobs weg.
Wettbewerb ist stets unangenehm.
Eigenartig, wenn ein Unternehmer wie Sie so etwas sagt.
Geht es uns so gut wie jetzt, besteht das Risiko, bequem zu werden. Wettbewerb aber fordert uns. Er hält uns wach, fit, interessiert. «Gwunder» ist ein zentraler Treiber.
Sie sind wohlhabend – und könnten es sich gut gehen lassen.
Dagegen stemme ich mich. Wenn wir uns zurücklehnen würden, wäre es eine Frage der Zeit, bis die Schweiz in die falsche Richtung geht. Es braucht den Wettbewerb.
Wettbewerb drückt Löhne. Wann werden in der Schweiz keine Schweizer Löhne mehr bezahlt?
Die Industrie ist dem Wettbewerb ja extrem ausgesetzt. Trotzdem kann man in der Schweiz mit hohen Preisen und hohen Löhnen international erfolgreiche Produkte gestalten, diese entwickeln, produzieren, vermarkten. Weil das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Wer Qualität liefert und ganzheitlich arbeitet, kann gute Preise verlangen.
Sind wir gut, können wir die hohen Löhne halten?
Wer in den Markt geht und sein «Füdli lüpft», verdient einen rechten Lohn. Einfach nur auf Kunden zu warten, können wir uns nicht leisten.
Dann sind die Schweizer Löhne gerechtfertigt?
Es geht um Preise, Lohn und Kaufkraft. Entscheidend ist, dass die Kaufkraft gleich bleibt. Gehen die Preise zurück, kann sich niemand über einen stagnierenden Lohn beschweren.
Sie fordern oft «Ordnung im Stall». Lässt sich diese angesichts des steigenden Ausländeranteils in der Schweiz halten?
Ich habe höchsten Respekt vor Arbeitslosigkeit. Ordnung im Stall heisst, alles zu tun, um de facto Vollbeschäftigung zu haben.
Noch haben wir sie. Was aber bedroht die Erfolgsinsel?
Die internationale Konjunktur ist bedrohlicher als unsere hohen Kosten. Bricht auf dem Weltmarkt die Nachfrage ein, spüren wir das. China hat noch ein Wachstum von sieben Prozent. Für uns wären jedoch 8,5 Prozent wünschenswert.
Die 1.20 Franken/Euro-Untergrenze besteht seit über einem Jahr. Wie wichtig ist sie noch?
Dieses Land sähe anders aus, hätte die Nationalbank nicht gehandelt. Der Schweizer Franken ist nach wie vor überbewertet, vielleicht nicht mehr so stark wie im Sommer 2011. Exportfirmen brauchen die Planungssicherheit der Untergrenze.
Macht sie das nicht bequem?
Es bereitet mir Freude, wie Firmen aller Industrien das letzte Jahr genutzt haben, um innovativer und effizienter zu werden. Sie sind besser vorbereitet, sollte das Auffangnetz wegfallen. Es braucht die Untergrenze jedoch noch immer – ohne Wenn und Aber.
Den Mindestkurs zu halten, ist teuer. Wann kann ihn die SNB aufgeben?
Das muss nicht ich beurteilen, sondern die Nationalbank. Ich will Vollbeschäftigung. Wir haben Vollbeschäftigung, wenn man sich trotz hohen Kostenniveaus mit Schweizer Löhnen mehr leisten kann.
Wegen der Inflationsunterschiede könnte der Franken-Euro-Kurs bald der Kaufparität entsprechen. Ein Mindestkurs ist dann nicht mehr notwendig.
Das geht noch lange. Die Inflationsunterschiede liegen etwa bei zwei Prozent. Die Kaufkraftparität ist noch immer zehn oder mehr Prozent über dem Wechselkurs. Firmen müsse Aufträge heute einholen. Es nützt nichts zu glauben, dass die Kluft in fünf oder sechs Jahren kleiner wird.
Der Bundesrat will bis 2035 den Energieverbrauch pro Person um 35 Prozent senken. Gibt es dann noch eine Industrie?
Ich trage die Energiepolitik des Bundesrats mit. In bundesrätlichen Sitzungen melde ich aber immer an, dass bei jedem Schritt alle Industrien und Sektoren an Bord sein müssen. Unsere Energiekosten dürfen gegenüber anderen Standorten nicht überdurchschnittlich steigen.
Das fürchtet die Industrie. Sie warnt vor einer Abwanderung ins Ausland. Da sind Sie als Ex-Industrieller kaum dafür.
Nein, definitiv nicht. Ich kämpfe gegen die Deindustrialisierung der Schweiz. Unternehmer müssen Politiker frühzeitig für negative Folgen der Energiewende sensibilisieren. Die Politik darf keine ideologischen Ritte reiten, die Firmen Wettbewerbsvorteile nimmt. Darüber müssen wir offen reden.
Kann der Industriestandort ohne AKW überleben?
Falls es gelingt, die Gestehungskosten der hydraulischen Energie und anderer Formen auf das Niveau der Nuklearenergie zu bringen, handeln wir uns mit dem Atomausstieg keine Nachteile ein.
Sie wollen ein Freihandelsabkommen mit China. Die Bauern sind dagegen.
Falsch. Auch die Bauern wissen, wie wichtig das Freihandelsabkommen für die Schweizer Wirtschaft ist. Sie stehen nicht einfach im Weg. Sie warten derzeit das Ergebnis ab.
Warum braucht es das Abkommen?
Gelingt es, zwei oder drei Jahre vor der EU mit den Chinesen im Industriebereich die Zölle herabzusetzen und andere Handelshemmnisse zu beseitigen, hätten wir grosse Vorteile gegenüber den EU-Ländern.
Ein Abkommen auf Ende Jahr scheint kaum mehr möglich.
Es bleibt mein Ziel. Mit Chinas Wirtschaftsminister Chen Deming habe ich am WEF 2011 eine Verhandlungszeit von zwei Jahren vereinbart. Er hat mir im Juli dieses Ziel bestätigt. Die vorerst sechste Verhandlungsrunde verlief im guten Verständnis.
Nun stocken die Verhandlungen.
Es kommt die entscheidende Runde. Da werden alle ein bisschen nervös, das gebe ich zu. Es wird konkreter, ernsthafter – und somit etwas harziger. Meine Chefunterhändler haben aber ein gutes Gefühl.
Die Bauern blocken. Muss man sich im Zweifelsfall für die Industrie entscheiden? Sie verdient ja die Subventionen der Landwirte.
Eines garantiere ich: Wir legen keinen Sektor unserer Volkswirtschaft auf den Tisch, damit ein anderer bessere Bedingungen erhält. Ich erwarte von den Landwirten aber, dass sie nicht a priori Nein sagen. Das tun sie nicht, zumal wir keine Kompromisse bei gesundheitlichen Vorschriften und der Qualität eingehen.
Vor Ihrer Wahl hiess es, der Bundesrat brauche wieder Unternehmer. Können Sie unternehmerisches Denken denn einbringen?
Selbstverständlich bringe ich meine unternehmerischen Erfahrungen im Bundesrat ein. Aber es ist klar: Anders als in der Privatwirtschaft kann man nicht einfach unternehmerische Entscheide fällen.
Stattdessen tun Sie was?
Ausdiskutieren und austarieren. Das ist aufwendiger, aber auch nachhaltiger.
Sie schützen die Privatsphäre Ihrer Familie. Geht es denn, gleichzeitig Landesvater zu sein und Privatmann zu bleiben?
Bei Homestory s mache ich nie mit. Bin ich im Amt, steckt die Familie zurück. Bin ich mit der Familie zusammen, gehört die Zeit jeweils ihr.
Es heisst, der Schneider-Ammann sei nicht «volkstümlich».
Ich weiss nicht, was Sie unter volkstümlich verstehen. Kommen Sie am Wochenende doch mit mir ins Berner Oberland. Dort sehen Sie, wie Landwirte sich spontan an meinen Tisch setzen. Die wissen genau, dass ich keinerlei Berührungsängste habe. Es gibt keine Distanz. Was ich nicht mache, sind medienwirksame, womöglich aufgesetzte Aktionen, um volkstümlich zu wirken.
Es ist 17.45 Uhr. Für mehr Fragen reicht ihm die Zeit nicht. Schneider-Ammanns Helikopter muss bis um 18 Uhr in Basel abheben.