Von Peter Hossli (Text) und Daniel Ammann (Fotos)
Ueli Maurer greift sich ein Glas Bier, geht in die Menge. «Ich fühle mich wie der Bär im Bärengraben», sagt er, «alle schauen mich an.»
Bei ihrem Wächter steht Simonetta Sommaruga, blickt zu Boden, als wolle sie niemanden sehen.
Doris Leuthard herzt ein Mädchen, wippt dann rhythmisch zu den Klängen der Ländlerkappelle.
Spontan legt Didier Burkhalter den Arm um eine Bäuerin, lässt sich fotografieren. «Mein Name ist Didier», sagt er, drückt ihr die Hand.
Es ist Donnerstag, kurz nach vier. Drei Bundesrätinnen und vier Bundesräte sind eben auf dem Dorfplatz von Scuol GR eingetroffen. Rund 200 Schaulustige sind da, tragen ihre besseren Kleider, die farbige Bluse, das frisch gebügelte Hemd, saubere Schuhe. Aus Fenstern hängen Flaggen. Die Sonne brennt. Kinder kühlen ihre Beine im Dorfbrunnen.
Eine Mutter ist mit zwei Töchtern hier, «damit sie die Chefs des Landes sehen». Wie jedes Jahr reist die siebenköpfige Schweizer Regierung gemeinsam in eine Landesgegend. Das «Schulreisli» wird stets zum Abbild, wie es die einzelnen Magistraten mit dem Volk können.
Hier kann es keine besser als Widmer-Schlumpf. Für sie ist es ein Heimspiel. Als Bundespräsidentin führt sie den Bundesrat nach Graubünden, da kommt sie her, sass in der Regierung, hat enge Freunde.
Die drei Sprachregionen hätten die Route vorgegeben, sagt sie. Besonders wichtig sei die italienische. Per Helikopter gelangte der Bundesrat nach Soglio ins Bergell. Bisher nie war die gesamte Regierung im engen Bündner Südtal nahe Italiens.
Die Presse ist nur sporadisch dabei. Erstmals in Stampa, wenige Kilometer nördlich vom Landeplatz, bekannt als Heimatort der Künstlerdynastie Giacometti. Einmal stündlich nur hält das Postauto. Die Stille stören die paar Töffs, die über den Maloja ins Engadin hetzen.
Es ist 11.15 Uhr. In fünf Minuten sei der Bundesrat hier, sagt der Einsatzleiter der Bündner Kantonspolizei. Wie viele Wächter hat er im Einsatz? Ist geheim. Viele seien es nicht. «Obama hat hundertmal mehr.» Warum so lasch? «Das sind zwei Tage zum Geniessen.»
Festlich ist Stampa nicht. Vielleicht zehn Alte warten neben dem Talmuseum auf der Bank. Niemand steht Spalier, keine Kappelle spielt. «So ist das in der Schweiz», sagt ein Pensionär. «Bundesräte sind Menschen wie wir, ohne Allüren.»
Endlich, die Karawane fährt vor, an der Spitze ein Streifenwagen, dahinter zwei Minibusse mit den sieben Bundesräten. Die Präsidentin steigt zuerst aus. Zaghaft der Applaus. Anzüge und Krawatten sind daheim. Leuthard trägt zur Caprihose flache Turnschuhe und eine kecke Sonnenbrille. Städtisch wirkt Alain Berset in Wildlederschuhen und modischen Jeans. Das weisse Hemd hängt lässig über das gut sichtbare Bäuchlein.
Widmer-Schlumpf weist den Weg zum Atelier von Bildhauer Alberto Giacometti. Dahinter folgt Schneider-Ammann. Alleine geht Maurer. Sommaruga weicht kaum vom Bodyguard. Berset unterhält sich rege mit Leuthard. Wer die beiden so sieht, erkennt: die mögen sich.
«Wir haben es gut», beschreibt Leuthard die Stimmung. «In der Sache sind wir uns oft uneins, reden hart, aber fair, was richtig ist.»
Als «sehr hoch» schätzt sie den Wert solcher Reisen ein. «Wir spielen befreit oft neue Ideen durch.»
Drinnen im Talmuseum bestaunen die Regenten Gemälde und Skulpturen der Familie Giacometti. Eigenartig wirkt, wenn Maurer und Johann Schneider-Ammann sich vor laufender Kamera kunstinteressiert geben. Eher spricht der Wirtschaftsminister über die Wirtschaft. «Es ist wichtig, wenig bekannte Ecken der Schweiz wie diese zu besuchen», sagt er. «Das kann wichtige Impulse geben.» Auf dem Ausflug nutze der Bundesrat «jede Minute zum Reden, von Frühstück bis Schlummertrunk, das ist zielführender als viele Sitzungen».
Vor dem Museum harren Kinder. Ein Mädchen überreicht Widmer-Schlumpf zerrupfte Rosen. Didier Burkhalter beobachtet. «Das waren die letzten Blumen, die einer aus dem Garten geklaut hat.» Sein Witz ist liebevoll, verdeutlicht wie entspannt der Bundesrat derzeit ist.
Weltmännisch wirkt der Aussenminister, legt den Pullover leger über sein kariertes Hemd. «Die Atmosphäre hier ist sehr schweizerisch», sagt er. Vor Wochenfrist noch war er Gastgeber an der Uno in Genf. Supermächte rangen um Frieden in Syrien. «Wir haben weniger Probleme als Russland und Amerika.» Zeit mit Menschen mag er. «Die Behörden müssen mit der Bevölkerung harmonieren.»
Skeptischer gibt sich der Verteidigungsminister. «Der Besuch einer Randregion bringt schon etwas», sagt Maurer. «Nachhaltig ist es aber nicht.» Aufgesetzte Treffen sind ihm zuwider. «Trifft ein Bundesrat Menschen nur auf solchen Reisen, übt er seinen Job falsch aus.»
Geht Maurer abseits, weil seine Partei, die SVP, in der Opposition ist? Das spiele heute keine Rolle. «Wer den Bundesrat sehen will, ist nicht parteipolitisch gefärbt.»
Von Stampa fahren die Bundesräte die mäandrierende Strasse zum Malojapass hoch, stoppen in Silvaplana zum Lunch – und spazieren, wo einst der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche nachdachte.
Verhalten ist der Applaus auch auf dem Dorfplatz von Scuol. Bundesräte sind keine Stars, sie arbeiten für uns. Die Bündner zollen Respekt, ohne in Ehrfurcht zu erstarren. Gehen spontan auf Widmer-Schlumpf zu, bitten um Autogramme. Sie sagt, sie bade oft in Scuol, gibt hier ein Küsschen, greift dort Hände, lässt sich gerne umarmen.
Anders Sommaruga. Sie wirkt verloren in der Menge, als laste das Leid der ganzen Welt auf ihr.
Donnergrollen, erste Tropfen fallen, als die Bundespräsidentin die Bühne betritt. Sie verspricht eine Verordnung für die Zweitwohnungsinitiative. Will alles tun, um den harten Franken zu schwächen. Den grössten Applaus aber ernten ihre rätoromanischen Worte.
Regen setzt ein, doch die Bundesräte bleiben, palavern weiter. Ihre Wächter spannen Schirme auf. Bald patschnass ist Maurers rosa gestreiftes Hemd. Berset hält den Schirm selbst – und sippt am Bier.
Anfassen lassen sich die Bundesräte – bis sie Stopp sagen. Das beachten selbst die Medien. Alle wissen zwar, wo die Regenten essen – auf Schloss Tarasp –, wo sie schlafen – im Schlosshotel Chastè. Und doch fährt kein Reporter hin.
Am Freitag früh geht es mit dem Zug durch den Vereina-Tunnel, dann mit dem Bus nach St. Antönien, einem Bauerndorf im Prättigau, das 360 Einwohnern zählt. Das Tal ist eng. Es nieselt, ist im Juli kalt.
Bauernfamilien reihen sich entlang der Strasse auf, tragen schwere Treicheln und laute Glocken. «Wir sind ein einfaches Dorf», sagt eine Bäuerin. «Speziell, dass sich Bundesräte für uns Zeit nehmen.»
Um zehn Uhr fährt der Tross vor. Tosender Applaus. Glockengeläute. Die Magistraten tragen Regenjacken. Es sind nur noch sechs. Wer fehlt? Sommaruga. «Sie verliess uns», sagt Sprecher André Simonazzi, «sie musste an eine Beerdigung.»
Nach dem Bad in der Menge verschwinden die Bundesräte in der Kirche. Ohne Medien. Ein Fotograf meckert. «Früher, mit Ogi, war der Zugang besser.» Widmer-Schlumpf sei nicht erpicht auf Medien.
Zuletzt gibt es doch ein Gruppenbild. Der Bundesrat stellt sich auf eine Anhöhe. «Bringt die Hunde aufs Bild», sagt Burkhalter, zeigt auf zwei Bernhardiner. «Mit Hunden ist es immer lustiger.» Rasch beruhigt er die nervösen Viecher. «Ich habe Hunde sehr gerne.»
Maurer trifft Bauern, redet über Mutterkühe und Kälber. Was bringt das? «Ich erfahre, ob unser Ideen mit der Praxis übereinstimmen. Berner Mühlen mahlen langsam, Menschen sind uns oft voraus.»
Derweil geht Berset zum Kameramann des Schweizer Fernsehens. «Das kann ich auch, geben Sie mal her.» Er schnappt sich die Kamera – und beginnt Kollegen zu filmen.
Freitagnachmittag, Aula der Mittelschule Schiers GR. Frauen reihen Gläser auf, füllen sie mit regionalen Weinen. Tischen Bündnerfleisch und Würste auf, Käse, Kirschen und Birnenbrot, dazu «Totenbeinli» – Bündner Nussstängeli.
Kurz vor drei hält der Tross auf dem Dorfplatz von Schiers. Ein Mädchen bringt der Bundespräsidentin Sonnenblumen. «Geht in die Aula», ruft der Gemeindepräsident. Ein Zeichen für die Schierser, ihre Scheu abzulegen. Viele klatschen.
Zwei Demonstrantinnen halten ein Schild in die Luft mit dem Schriftzug «Kein Dreck-Strom aus Graubünden». Eine Bündner Firma baue in Italien Kohlekraftwerke. Das Plakat darf nicht in die Aula. Beschneiden Polizisten hier freie Meinungsäusserung? «Das Plakat könnte einen Streit entfachen, das darf nicht sein», sagt ein Polizist.
Drinnen in der Aula stimmt der Jugendchor ein lateinisches Lied an. Ein Mädchen geht auf Leuthard zu, will sie fotografieren. Die Bundesrätin bückt sich, fragt nach dem Namen der Kleinen. Keine Kamera ist auf sie gerichtet, sie wirkt natürlich – wie eine Landesmutter. Trotz anstrengender Wochen. Sie war in Rio am Umweltgipfel, stellte die Gotthardröhre vor. «Es war sehr viel Arbeit», sagt Leuthard, «ich verspüre eine gewisse Müdigkeit.»
Eines fällt auf: Kein Bundesrat telefoniert. Bleibt das iPhone bewusst in der Handtasche? «Im Bus blicken wir drauf, um zu erfahren, was in Bern läuft», sagt sie. «Beim Volk sind wir aber beim Volk.»
Der Chor verstummt, Widmer-Schlumpf springt aufs Podium. «Ich bin zwar kein Steinbock, aber eine Steingeiss und habe das Schönwetterprogramm durchgesetzt.» Schönes hätte sie gezeigt, Wichtiges. Solaranlagen, die ob St. Antönien auf Lawinenverbauungen geschraubt werden. Über die Wirtschaftskrise hätte sie oft gesprochen. «Wir trafen viele offene, zuversichtliche Menschen, die das packen.»
Nur kurz redet sie, schüttelt Hände, prostet mit Wasser. Spricht wie ihre Kollegen mit Schiersern. Kein einziger Berater steht neben den Politikern, kein Bodyguard. «Das gibt es nur in der Schweiz», sagt eine Frau. «Darauf dürfen wir stolz sein, das gilt es zu bewahren.»