Von Claudia Gnehm und Peter Hossli (Text) und Daniel Ammann (Foto)
Die Amerikaner kennen wie die meisten Länder keine Lehrlingsausbildung. Sie besuchen die High School, bis sie 18 Jahre alt sind, anschliessend das College. Dann kommt gleich der Job – oder das Arbeitsamt. Im Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit (22 Prozent) und den Fachkräftemangel interessieren sie sich neuerdings sehr für das Schweizer Berufsbildungssystem.
Im Juni empfahl die OECD den USA, sich an der Schweiz und deren dualem Ausbildungsmodell zu orientieren. US-Präsident Barack Obama möchte acht Milliarden Dollar investieren, um die Anzahl der jungen Fachkräfte mit Praxiskenntnissen auf zwei Millionen zu erhöhen.
Bevor die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den USA die Vorzüge der Schweizer Lehre offenbarte, profitierten schon viele Entwicklungs-, Schwellenländer und Staaten auf dem Balkan von unserem Know-how.
Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann startete vor sechs Jahren zusammen mit dem Bundesamt für Berufsbildung (BBT) ein Berufsbildungsprojekt in Pune (Indien); damals war er noch Swissmem-Präsident. An dem Projekt sind etliche Schweizer Industriefirmen wie Sulzer und ABB beteiligt. Schneider-Ammann zu SonntagsBlick: «Die Firmen hatten vom ersten Tag an ein Fachkräfteproblem. Wir sagten uns: ‹Wenn wir schon wissen, wie man Fachkräfte ausbildet, dann können wir das auch auf Indien übertragen.›» Die Massnahme sollte zuerst den Schweizer Firmen in Indien nützen und später für lokale Firmen ausgebaut werden.
Letztes Jahr nahmen die ersten jungen Inder das Zertifikat «Multiple Skilled Production Technician» entgegen. Es basiert auf der Swissmem-Grundausbildung zum Polymechaniker. Weitere Zertifikate sollen folgen – mit dem Ziel,in den nächsten zehn Jahren eine Million Fachkräfte in Indien nach dem Modell der dualen Schweizer Berufsbildung auszubilden.
Das aber ist laut Schneider-Ammann erst der Anfang: «Pune war das erste solche Auslandsprojekt, das man jetzt kopieren könnte. Zum Beispiel im spanischen Saragossa; dort gibt es 80 Prozent Jugendarbeitslosigkeit.»
Der ehemalige Unternehmer betont, er habe in seinem Betrieb, der Ammann Group, pro Jahr jeweils 30 Lehrlinge ausgebildet – aber nicht uneigennützig, sondern mit der Absicht, den Konzern am Markt zu halten. Dass Firmen von ihren Lehrlingen durchaus profitieren, zeigen die Zahlen. Sie geben pro Jahr 4,7 Milliarden Franken für die Auszubildenden aus. Die erbringen im Gegenzug produktive Arbeit im Wert von 5,2 Milliarden.
Schneider-Ammann weiss von seinen Wirtschaftsminister-Kollegen in Frankreich und Spanien, dass sie sich für unsere Berufsbildung interessieren, weil sie neue Wege gegen die Jugendarbeitslosigkeit suchen. Er habe angeboten, ihnen das Schweizer System zu zeigen. Denn: «Die Schweizer Berufsbildung ist ein Erfolgsrezept.» Ein wichtiger Akteur im Berufsbildungsexport ist Swisscontact, eine von Privatfirmen wie Nestlé geschaffene Entwicklungsorganisation, die von der Entwicklungshilfe des Bundes, der Deza, unterstützt wird. Die Ausbildungslehrgänge von Swisscontact haben jährlich rund 50000 Teilnehmer. Allein in Albanien sind es 5000 Jugendliche pro Jahr, in Burkina Faso schliessen jährlich rund 600 Jugendliche ihre Ausbildung im dualen System ab.
Sehr viele Berufsbildungszentren in Asien, Lateinamerika und Afrika von nationaler Bedeutung gehen auf Swisscontact-Projekte zurück. Zum Beispiel das Pak-Swiss Training Center in Karatschi (Pakistan) oder das Sri Lanka Swiss Training Center.
Die Deza wiederum ist in 18 Ländern in der Berufsbildung tätig. In Peru etwa trägt sie mit lokalen Institutionen, dem Erziehungsund Arbeitsministerium zur Reform des peruanischen Berufsbildungssystems bei. Programme der Deza haben bisher mehr als 8000 Teilnehmer absolviert. Insgesamt bildet die Schweiz im Ausland jährlich fast genauso viele Lehrlinge aus wie im Inland: 68 300 waren es im Jahr 2011.
Der gute Ruf der Schweiz im Ausland stützt sich zunehmend mehr auf ihre Ausbildungskompetenz als auf Schokolade- und Käseexporte oder den Finanzplatz. Der bedeutendste Wunsch an die Schweiz, den die burmesische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi bei ihrem kürzlichen Besuch in Bern äusserte, war denn auch: mehr Hilfe in der Berufsausbildung.
Die Schweizer Berufsbildungs-Tradition ist laut Schneider-Ammann wegweisend: «Unsere Arbeitslosigkeit ist im internationalen Vergleich so gering, weil in unserem dualen Berufsbildungssystem die Firmen beteiligt sind und Arbeitskräfte ausbilden, die sie nutzen und weiterbeschäftigen können.»
Die Welt lernt unsere Lehre, wir schaffen sie mit dem Bologna-System ab. Früher lachten wir über Fächer, die in den USA studiert wurden und werden, während sie in der Schweiz nebenberuflich von Praktikern gelernt wurden. Heute gibt’s all diese Fächer als Studiengänge in der Schweiz … wer beruflich bestehen möchte, benötigt Maturität plus mindestens Bachelor – ansonsten ziehen viele Arbeitgeber in der Schweiz einen europäischen Ausländer mit den notwendigen Diplomen vor, zumal sie dabei auch noch Arbeitskosten sparen.