“Wir hatten riesige Angst”

Reporter Carl Bernstein beschreibt, wie er zusammen mit Bob Woodward den Watergate-Skandal aufdeckte. Und erklärt, was der heutige investigative Journalismus daraus gelernt hat.

Interview: Peter Hossli

bernsteinMister Bernstein, warum ist Watergate eine gute Geschichte?
Carl Bernstein: Eine gute Geschichte packt die Leser, sie wirft Fragen auf – und beantwortet sie.

Aber Watergate ist doch mehr.
Ja – im Zentrum stand der amerikanische Präsident, die mächtigste Person der Welt. Richard Nixon hatte die Verfassung in ungeheuerlicher Weise verletzt und kriminelle Akte verübt. Dennoch hat das amerikanische System funktioniert: Die Presse erfüllte ihre Aufgabe, ebenso die Justiz und das Parlament. Zuletzt musste der Präsident zurücktreten.

Wann merkten Sie, dass Watergate eine wichtige Story ist?
Bereits am Anfang. Es war aussergewöhnlich, dass in den Einbruch einflussreiche Leute der US-Regierung involviert waren.

Das Weisse Haus nannte Watergate einen «drittklassigen Einbruch».
Es ist wichtig zu verstehen, dass Watergate nicht nur ein Einbruch ins Büro der Demokraten war. Es ging um politische Spionage und Sabotage – orchestriert vom Präsidenten. Er versuchte, das wertvollste Gut unserer Freiheit zu behindern – demokratische Wahlen.

Was war für Sie der Höhepunkt der Recherche?
Als wir die geheimen Konten entdeckten. Über sie wurden nicht nur die Watergate-Wanzen finanziert, sondern viele geheime Aktionen. Als wir herausfanden, dass Leute im Umfeld von Nixon solche Konten kontrollierten, überkam mich ein Adrenalin-Rush, wie ich es nie zuvor erlebte hatte. Ich sagte zu Woodward: «Mein Gott, gegen den Präsidenten wird ein Amtsenthebungsverfahren eröffnet.» Woodward sagte: «Mein Gott, du hast Recht, aber wir dürfen dieses Wort auf der Redaktion nie verwenden, sonst glaubt noch jemand, wir führten einen Kreuzzug gegen Nixon.»

Sie recherchierten bei der mächtigste Macht der Welt, der US-Regierung. Wie legten Sie da ihre Angst ab?
Vieles im Leben ist nur möglich, wenn man die Angst ablegt. Natürlich ist das einfacher im Alter von 28 oder 29. Wir hatten den Rückhalt der grossartigen und mächtigen «Washington Post». Chefredaktor Ben Bradlee und Verlegerin Katharine Graham gaben uns Sicherheit.

woodward_bernstein_bradleeSie nahmen Ihnen alle Angst?
Nein. Wir hatten riesige Angst, Fehler zu machen.

Wie erlebten Sie Watergate?
Es war wie der Einstieg in eine Badewanne. Als wir rein gingen, brühte das Wasser noch nicht. Schnell wurde es heisser, unsere Körper aber passten sich den steigenden Temperaturen an. Reporter lieben gute Geschichten. Diese Geschichte war grossartig, egal welche Gefahren sie barg.

US-Reporter scheinen oft furchtloser als europäische. Warum?
US-Medienhäuser verpflichten sich, ihren Lesern und Zuschauern die best mögliche Version der Wahrheit zu beschaffen. Genau das ist guter Journalismus. Diese Tradition ist in Europa weniger verbreitet. Viele Zeitungen und Magazine sind dort aus Parteien und ideologischen Bewegungen herausgewachsen.

Sie nannten ihren anonymen Informanten Deep Throat. Dahinter verbarg sich FBI-Agent Mark Felt. Wie wichtig war er?
Die Mythen, die sich um Deep Throat ranken, sind letztlich übertrieben und aufgeblasen. Es gab nur rund ein halbes Dutzend geheimer Treffen zwischen Woodward und Deep Throat, dazu ein paar Gespräche am Telefon. Er lieferte uns wenige neue Informationen. Viel eher bestätigte er Fakten, die wir woanders herhatten.

mark_feltGleichwohl – Deep Throat ist der bekannteste Informant aller Zeit.
Dafür gibt es zwei Gründe. Zwar ist der Film «All the President’s Men» sehr genau, aber er stellt die Treffen mit Deep Throat dramatischer dar als sie waren. Zum zweiten war seine Identität während dreissig Jahren geheim. Nur vier Leute wussten ja, wer Deep Throat war: ich, Woodward, Bradlee, Felt.

Ihre Arbeit nach Watergate wird immer mit Watergate verglichen. Ist die Geschichte für Sie und Woodward nicht eine Belastung?
Das ist Unsinn. Bob und ich haben später ähnliche Sachen getan wie bei Watergate, nämlich Macht und Machtmissbrauch aufgedeckt.

Aber keine Ihrer Geschichten kam an Watergate heran.
So etwas wie Watergate passiert nur einmal in deinem Leben. Ich habe versucht, etwas dabei zu lernen und das bei anderen Geschichten anzuwenden.

redford_dustinSie trennten sich nach Watergate von Woodward. Warum?
In den späten Siebzigerjahren gab es ein paar Unstimmigkeiten. Beide benötigten Distanz voneinander.

Und heute?
Heute stehen wir uns näher denn je. Wir telefonieren mehrmals die Woche, schicken einander ständig Mails – und zwar seit vielen Jahren. Dieses Jahr haben wir gemeinsam ein Dutzend Vorträge gehalten.

In wie weit hat Watergate den Journalismus beeinflusst?
Die Geschichte hat die Grundregel des Recherchejournalismus bestätigt – immer die bestmöglich Version der Wahrheit abzubilden.

Wie findet man diese Version?
Man muss an viele Türen klopfen, die Schuhsohlen abtreten – und sich auf grossartige Chefredaktoren und Verleger verlassen können. Es braucht Raum zum Denken zwischen einzelnen Geschichten und den Luxus, mit einem Partner zu recherchieren, dazu die Zeit, eine Geschichte mit unterschiedlichen Informanten abzusichern. Es braucht immer mindestens zwei Quellen.

woodward_bernsteinHat Watergate den Journalismus auch negativ beeinflusst?
Viel Möchtegernjournalisten und ein paar echte glauben heute, es sei die Aufgabe des Journalismus, Ganoven zu überführen und Kontroversen herbeizuschreiben. Zunehmend bestimmen deshalb überhöhte Kontroversen, fehlende Einordnung, Klatsch und Sensationsgier die Presse. Die beste Version der Wahrheit bleibt da auf der Strecke.

Reporter recherchieren vermehrt mit Google, Facebook und Twitter. Was halten sie davon?
Social Media hat seinen Platz. So können die Leute von Schauplätzen Videos übermitteln und kurze Beobachtungen schildern. Aber es ist nicht dasselbe wie echte Recherchen von echten Reportern, finanziert von Medienhäusern mit echten Standards, bei der die Wahrheit wichtig ist, nicht die Ideologie.

Wie beurteilen Sie den investigativen Journalismus von heute?
Es gibt noch immer hervorragende Recherchen, vor allem in den USA. Zunehmend ist in den Medien aber Geschwindigkeit zentral, nicht mehr Genauigkeit und Einordnung.

Glauben Sie, dass Zeitungen überleben werden?
Es ist für mich keine Frage mehr, ob gedruckte Zeitungen überleben. Das Internet ist eine grossartige Plattform für Journalismus. Jetzt braucht es aber Modelle, um damit Geld verdienen können. Das ist die grosse Herausforderung.

watergate_resignsFür wen würden Sie als junger Reporter denn heute arbeiten?
Die beste Zeitung der Welt ist zweifellos die «New York Times». Sie ist mit der Zeit gegangen, hat sich angepasst und verpflichtet sich doch journalistischen Prinzipien.

Was ist eine gute Zeitung?
Eine, die nicht langweilig ist. Gute Zeitungen liefern grossartige Unterhaltung – und halten sich an journalistische Standards.

Und die «Washington Post»?
Es hat dort ein paar gute Reporter. Das Blatt steht noch immer zum investigativen Journalismus. Es hat aber die Redaktion ausgedünnt, alle Auslandskorrespondenten abgezogen und spielt längst nicht mehr in derselben Liga wie die «New York Times».

Warum verliessen Sie 1977 die «Washington Post»?
Ich wollte weg von der Tageszeitung, hin zu Magazinen. Nach meinem Austritt schrieb ich eine 25000-Wort-Geschichte für «Rolling Stone» über das Verhältnis von CIA und Presse. Danach arbeite ich eine Weile beim Fernsehen.

nixonIhre Karriere verlief weniger gradlinig als jene von Woodward. Sind Sie mutiger als er?
Da bin ich mir nicht sicher. Wir sind unterschiedliche Typen. Aber der Respekt, die Zuneigung und die Verbundenheit, die wir füreinander empfinden, kommt von Watergate.

Was denken Sie heute über Nixon?
Er war besessen davon, sich an Leuten und Behörden zu rächen, die er als politische Feinde sah – statt sich um das Land zu kümmern.

Sie und Woodward verdanken Nixon ihren Star-Status.
Es gibt eine eindeutige Verbindung. Nixon, Woodward, Bernstein werden noch dann untrennbar sein, wenn wir alle längst tot sind.

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