Verklemmter Diktator

Mehr als 10000 Menschen starben seit Frühjahr 2011 bei blutigen Kämpfen in Syrien. Die Welt hat sich von Präsident Bashar al-Assad und seinem ruchlosen Regime abgewandt. Wie aber tickt Assad selbst? Ein Psychiater des CIA hat ihn analysiert.

Von Peter Hossli

assadDer Psychiater nimmt es vorweg. «Verrückt ist Bashar al-Assad nicht», sagt Jerrold Post. Doch der syrische Präsident habe psychologische Probleme. «Er litt unter seinem dominanten Vater, ist ein Lückenbüsser – und weiss genau: Er war nur zweite Wahl. Daran nagt er, es macht ihn handlungsunfähig, deshalb kann er die festgefahrene Lage in Syrien jetzt nicht aufbrechen.»

Jerrold Post, 78-jährig und Amerikaner, weiss, wie brutale Diktatoren ticken. Der Psychiater berät das Pentagon und leitet die Abteilung politische Psychologie der George Washington Univer­sity. Zuvor nahm er 21 Jahre lang für die Spionage-Behörde CIA Despoten unter die Lupe – erstellte über sie exakte psychologische Abrisse. Sie halfen Diplomaten wie US-Präsidenten bei Verhandlungen und strategischen Entscheiden.

Der Analyst des Bösen erklärt das Menschliche in den vermeintlichen Übermenschen. Als «bösartigen Narzisst» beschrieb er den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi (†69). Bei Iraks Despot Saddam Hussein (†69) machte er «fehlende Mutterliebe» aus. Fidel Castro (85) sei ein von «Minderwertigkeitsgefühlen zerfressener Kubaner», der sein Volk mit dem äusseren Feind Amerika zu einen versuche. Der nordkoreanische Herrscher Kim Jong Il (†70) musste laut Post als «völlig zügellose Person» begriffen werden. Als «kleiner, hässlicher und dicker Sohn eines übermächtigen Führers kompensierte er Vaterkomplexe mit überbordendem Konsum – und mit dem Bau der Atombombe».

Post untersucht die Familien von Demagogen und Despoten. Bei vielen fand er fehlende Zuwendung der Mutter, bei Bashar al-Assad (46) aber nicht. Er war ein Muttersöhnchen, sagt Post am Telefon. Einer, der sich lange im Hintergrund halten konnte «und plötzlich ins Rampenlicht gerissen wurde».

Mit schweren Folgen für die Psyche: Einen «höchst unsicheren Menschen» nennt Post den syrischen Präsidenten. «Er ist der Notnagel, die Nummer zwei, der minderwertige Sohn, der die Macht nur erhielt, weil sein Bruder starb.» Bashar sei dies stets bewusst. «Er hat schwere Minderwertigkeitskomplexe, wenig Selbstvertrauen und verabscheut sich selbst», diagnostiziert Post.

assad_familyVater Hafez al-Assad wollte nicht ihn, sondern Basil zum Nachfolger machen. Nicht nur, weil der Bruder drei Jahre älter war. «Basil war männlich, ein echter Kerl, ein Frauenheld, charismatisch, schöner als Bashar, einer, dem fast alles gelang.» Hafez, der Syrien seit 1970 mit harter Hand führte, sah in Basil die Verkörperung eines modernen Mittelmeerstaates.

Der scheue Bashar studierte in Damaskus Medizin. Am Western Eye Hospital in London bildete er sich zum Augenarzt weiter. Nach nur 18 Monaten, im Januar 1994, brach er das Studium abrupt ab. Basil hatte einen Mercedes gegen einen Pfosten gefahren und starb. Bashar füllte die Lücke.

Die fünf Jahre ältere Schwester Bushra galt zwar als politisch agiler, zielstrebiger, talentierter – war als Frau aber chancenlos. ­Majid, der Zweitjüngste, liebte Pillen und Pulver, nicht die Politik. Er starb 2009. Maher, der kleinste, war schon als Kind blutrünstig. Er taugte nicht als Gesicht Syriens. Stattdessen hielt ihm der Vater den mächtigen Posten des Militäroberhauptes frei.

Widerwillig liess sich Doktor Bashar ab 1994 zum Staatsmann drillen. «Es war für ihn schmerzhaft, nicht mehr tun zu dürfen, was er gerne tat», sagt Post. «Es widerstrebte ihm, in die Fussstapfen des Vaters zu treten.» Als er im Sommer 2000 den Präsidentenstuhl erklomm, fühlte er sich unvorbereitet. «Vom ersten Tag an war er ein unsicherer Mann.»

Dabei setzten viele ihre Hoffnung in ihn. Zu lange hatte sein Vater die Arabische Republik unterjocht. Bashar würde sie modernisieren, näher an den Westen führen, ein Partner für Frieden im Nahen Osten sein. Zumal er eine westliche Frau hat, eine Bankerin, die wie er in London studierte. Post korrigiert: «Es war völlig falsch, ihn als westlich zu sehen. Als er nach London kam, war er schon 27-jährig, längst ein erwachsener, vom Hafez-Clan geformter Mann.»

Bald zerschlugen sich alle Hoffnungen. «Bashar leidet darunter, die Erwartungen des Westens nicht erfüllt zu haben, nagt am Scheitern.» Typisch für Lückenbüsser, sagt der Analytiker. «Sie müssen in Schuhe treten, die ihnen viel zu gross sind, sind stark gefordert, meist überfordert, was ihre Unsicherheit erhöht.»

Führt ein solcher Mann einen Konzern oder wird Präsident eines Landes, bleibt das nicht ohne Folgen. «Ersatzleute bekunden oft Mühe zu entscheiden, stattdessen hinterfragen sie alles, zögern und hadern», sagt Post. «Bashar stellt sich noch heute immerfort die Frage: ‹Was würde wohl Basil tun?› Das produziert psychologischen Stress, zumal Lückenbüsser stets fürchten, die Welt schaue ihnen über die Schultern und warte auf Fehler.»

Begegnet ist Post Bashar nie. Der Psychiater legt die Despoten gedanklich auf eine Couch – im Keller seines Hauses ausserhalb Washingtons – und analysiert sie anhand von Spionageberichten, historischen Abhandlungen und ihren Reden. Bewusst meidet er Treffen – um objektiv zu bleiben. «Die Leader sind oft sehr charismatisch und würden mich in die Irre führen.»

Nie habe Bashar eigene Wünsche erfüllt, sagt Post. Stets tat er, was der Vater befahl. Er studierte Medizin, weil Hafez dies versagt geblieben war. «So sicherte er sich die Liebe seines Vaters.»

Kaum hatte er die Arbeit im Spital schätzen gelernt, musste er sie für die Politik verlassen und erneut dem Vater gefallen. «Das schuf einen labilen, ängstlichen Mann, der seine Bedürfnisse nie befriedigen konnte. Das ist eine äusserst schlechte Voraussetzung, um Verantwortung zu übernehmen und Entscheide zu fällen», sagt Post. «Als er an die Macht kam, war er gelähmt.»

Eine Lähmung, die sich selbst jetzt nicht löst, wo die Gewalt tobt, der Präsident die Macht zu verlieren droht, eine weisende Hand dringend nötig wäre. «Bashar ist zwar der Präsident, aber er ist nicht die Regierung. Eher eine Marionette, die glaubt, alles sei unter Kontrolle», sagt Post. «Er macht leere Versprechungen an Uno-Mann Kofi Annan, während der kleine Bruder Maher die Soldaten aufs Volk hetzt.»

Gegen 10 000 Menschen starben seit Ausbruch des Konflikts. Über hundert Zivilisten wurden vorletzte Woche beim Massaker im syrischen Hula regelrecht hingerichtet. Wie kann Bashar zuschauen? «Er verdrängt es», glaubt Post. «Bashar verwendet viel Zeit und Energie, um die Realität aus seiner Gedankenwelt zu drängen. Er schaut ‹Harry Potter›, hört westliche Musik, schaut weg.» Warum? «Gesteht er sich ein, dass sein Land im Chaos versinkt, Zivilisten getötet werden, muss er sein eigenes Versagen eingestehen.»

Al-Assad schämt sich? «Scham ist ein zentraler Teil der Verdrängung. Bashar weiss, dass er sein Land knechtet, ihm nicht bietet, was es jetzt braucht: Führung.» Ein Wesenszug der Lückenbüsser sei das Schönreden. Bashars Getreue berichten ihm nie genau, was um ihn herum passiert, weiss Post. «Sie zeichnen ein zu positives Bild; sie sagen Bashar, was er hören will – alles sei gut.»

Bashar ist nicht der einzige Notnagel an der Macht. Post weist dem einstigen US-Präsidenten John F. Kennedy, dem indischen Staatsgründer Mahatma Gandhi und Israels Premier Benjamin Netanyahu ähnliche Psycho-Profile zu. Nur widerstrebend liess sich Kennedy nach dem Flugzeugabsturz seines Bruders für die Politik gewinnen. Im Weissen Haus galt er als zögerlich. Clever nutzte Gandhi seine Unentschlossenheit, um Frieden zu säen.

«Netanyahu war unter der harten Schale höchst verunsichert», so Post. Bis Ende April, als sein ­Vater 102-jährig starb. Acht Tage später stellte er eine neue Regierung vor und stoppte Neuwahlen. Gleichzeitig gestand er dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas per Brief erstmals das Recht auf einen eigenen Staat zu. «Mutige Entscheide konnte er nur fällen, weil der Vater tot ist.»

Hätte Bashar Mut, träte er jetzt zurück und verliesse Syrien, wie Frankreichs Präsident François Hollande es fordert. «Al-Assad könnte sein Land vor grösserem Unheil bewahren», sagt Post. «Aber er ist völlig blockiert.» Geht er ins Exil, verliert die Familie das Land. «Bashar will kein kompletter Versager sein.» Einzig die Macht in Syrien, so Post, gebe ihm Halt. Büsse er sie ein, sehe er sein Leben als Misserfolg. Und noch schlimmer: «Syrien zu verlassen, wäre die grosse Schmach, die er seinem Vater antun könnte.»