Von Peter Hossli
Ein Belgier war der erste EU-Beamte, der das Unsagbare sagte: Die Europäische Zentralbank (EZB) «bereitet sich auf den Notfall vor, dass es Griechenland nicht schafft», so EU-Kommissar für Handel Karel De Gucht am Freitag in einem Interview. Über einen Sprecher liess das deutsche Finanzamt verbreiten, «unsere Bürger erwarten, dass wir vorbereitet sind für alle Fälle». Überdies zitiert das «Wall Street Journal» einen hohen EU-Beamten, der zugab, die EU-Kommission hätte über Griechenlands Exit aus dem Euro geredet – den «Grexit».
Zwar will die EU die Griechen im Euro behalten. Ein Austritt gilt mittlerweile aber als plausibles Szenario. «Die Albträume sind zurück», leitartikelt das Magazin «The Economist». Die Schweizer Firma Orell Füssli wäre bereit, die Ersatzwährung zu drucken.
«Die Wahrscheinlichkeit für ein Super-GAU-Szenario für den Euro ist gestiegen», sagt UBS-Chefökonom Schweiz Daniel Kalt am Freitag in einem Podcast. Er beziffert sie mit «20 Prozent».
Wie kam es dazu?
Es war ein Fehler, Griechenland 2001 in die Eurozone aufzunehmen. Nicht wirtschaftliche, politische Überlegungen ermöglichten es. Für griechische Politiker war der Beitritt eine Prestigesache, folglich schönten sie ihre Kennzahlen. Die EU schaute weg. Erstmals wirkt sich jetzt bei Griechenland der Geburtsfehler beim Euro aus: die fehlende Verknüpfung von Fiskal- und Geldpolitik.
Zahlen lügen nicht
Die griechischen Staatsschulden betragen 165 Prozent des Bruttoinlandprodukts, über eineinhalb Mal so viel wie die jährliche Leistung der griechischen Wirtschaft. Zwischen 2007 und 2012 schrumpfte die Wirtschaft um ein Fünftel. Die Arbeitslosigkeit beträgt 21,8 Prozent.
Finanzspritzen
Bisher hat Griechenland Finanzhilfen in der Höhe von 245,7 Milliarden Euro erhalten. Bis 2014 werden es 330 Milliarden Euro sein, 33600 pro Einwohner. Griechischen Banken stellt die EZB billige Kredite von einer Billion Euro bereit. Die Finanzspritzen sind an harte Sparauflagen gekoppelt.
Abfuhr an der Urne
Vom Sparen haben die Griechen genug. Zumal es die Schulden nicht reduziert hat und die Wirtschaft abwürgt. Bei den Wahlen am 6. Mai trat die radikale Linkspartei um Alexis Tsipras mit dem Versprechen an, den Sparkurs der EU zu brechen. Tsipras erhielt genug Stimmen, um eine Regierungsbildung zu verhindern. Präsident Karolos Papoulias setzte Richter Panayiotis Pikramenos an die Spitze einer Übergangsregierung. Am 17. Juni kommt es zu Neuwahlen. Trägt die neue Regierung den Sparkurs, fliessen weitere Kredite. Sonst versiegen sie. Ein Staatsbankrott wäre unabwendbar. Laut Umfragen wollen 70 Prozent der Griechen den Euro behalten.
Banken-Run
Deshalb ziehen viele Griechen ihre Euros von griechischen Banken ab, allein diese Woche waren es über eine Milliarde. Ein Drittel ihrer Einlagen haben Bankkunden seit 2009 abgehoben, das Geld ins Ausland gebracht, Gold gekauft, in Matratzen versteckt. Vor den Wahlen noch machte sich leichter Optimismus breit – im März und im April nahmen die Einlagen leicht zu. Sollte sich der Banken-Run nun ausdehnen, dürfte der Austritt aus dem Euro schneller erfolgen.
Der Grexit
Die Währungsunion kennt keinen Mechanismus, um ein Land zu verbannen. Ein Grexit und damit die Rückkehr zur Drachme müsste geheim vorbereitet und schnell abgewickelt werden. An einem Wochenende würden alle in Griechenland deponierten Euros in Drachmen gewechselt werden. Der Druck neuer Noten könnte beginnen, gefolgt von einer massiven Abwertung. Schätzungen gehen von 25 bis 55 Prozent aus. Auf einen Schlag wäre die Kaufkraft der Griechen um ein Viertel bis zur Hälfte geringer, Produkte und Dienstleistungen – Olivenöl, Wein, das Hotelzimmer auf Kos – massiv günstiger. Griechenland würde weniger importieren, aber mehr exportieren und folglich schrumpft das Leistungsbilanzdefizit. Ausländer würden wieder in Griechenland investieren. Mittel- und langfristig gesundet das Land. Kurzfristig dürfte Griechenland erstarren.
Die Banken müssten ein paar Tage lang geschlossen bleiben, da jeder Grieche versuchen dürfte, die an Wert verlierenden Drachmen in Fremdwährungen umzutauschen, am ehesten in Dollar und Franken. Eine spanische, italienische und französische Kapitalflucht könnte folgen. Stoppen lässt sich das nicht. Es fehlen dazu nötige Gesetze.
Nach dem Grexit
Optimisten nennen die Beispiele Argentinien und Island. Beide Länder erholten sich durch eine Abwertung ihrer Währung. Pessimisten fürchten, die Griechen müssten so viel Geld drucken, dass die Inflation die Vorteile der Abwertung aufhebt. Demnach dauert die Erholung Jahre. «In der kurzen Frist hätte der Austritt verheerende Folgen», sagt UBS-Ökonom Kalt. Er erwartet eine Verlängerung der Krise um bis zu drei Jahre.
Tritt Griechenland aus dem Euro aus, drohe der Flächenbrand. «Ein Austritt eines ersten Landes wäre ein Präzedenzfall, es könnte der Beginn des Zerfallprozesses des Euros sein», so Kalt. Portugal und Irland dürften dem Beispiel folgen, sogar Spanien und Italien liebäugeln mit der Rückkehr zu einer Zeit, als sie sich mit der Abwertung der eigenen Währung aus Schulden und Bilanzdefiziten stehlen konnten. 500 Milliarden Euro im Rettungsfonds reichen nur für Italien und Spanien.
Für die Schweiz
Schweizer Banken verzeichnen derzeit keinen erhöhten Zufluss griechischer Gelder, so Gross- wie Kantonalbanken. Das ändert sich beim Grexit – mit Folgen für den Frankenkurs. Knapp nur schafft es die Schweizerische Nationalbank (SNB), die Untergrenze von 1.20 zum Euro zu halten. Gestern Samstag fiel der Kurs kurz unter 1.19. Setzt nach dem Grexit ein Dominoeffekt ein, ist eine panikartige Flucht in den Franken zu erwarten. Der Franken würde stark steigen. Um das zu stoppen, müsste die SNB massiv Euros kaufen.
Das Weisse Haus
Sorgen muss sich US-Präsident Barack Obama. Bei amerikanischen Wahlen ist der Lauf der Wirtschaft entscheidend. Verdichten sich bis Herbst Anzeichen eines Rückfalls in die Rezession, könnte der Republikaner Mitt Romney im November die Wahlen gewinnen.
Kommt der König?
1964 bestieg Konstantin II. in Athen den Thron. Drei Jahre später vertrieben ihn die Militärs. Bis zur Abschaffung der Monarchie 1973 blieb er Staatsoberhaupt. Heute lebt Konstantin II. in London im Exil. Auf Facebook bitten ihn Griechen um die Rückkehr. «Bringt unseren König und unsere Königin zurück», schreibt ein Anhänger. «Nur das kann Griechenland retten.» Gross muss die Verzweiflung in der Wiege der Demokratie sein, wenn die Monarchie als Erlöserin gilt.