Sommaruga schaut weg

Die Schweizer Verdingkinder werfen Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor, sie habe ein Versprechen gebrochen.

Von Peter Hossli

sommargunaVerheissungsvoll klang das bundesrätliche Versprechen letz­-ten November. Anfang 2012 werde ­Simonetta Sommaruga (51) mit ehemaligen Verdingkindern feierlich zusammenkommen und deren Leid in einer angemessenen Form anerkennen. Bereits im August 2011 hatte der Bundesrat den Verdingkindern eine offizielle Entschuldigung in Aussicht gestellt.

Davon will die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vorerst nichts mehr wissen. Einen Anlass gab es bisher nicht, und es sei derzeit auch keiner geplant, sagt EJPD-Sprecherin Christine Staehli.

Der Kassenschlager «Der Verdingbub» ist aus den Kinos, das Thema aus den Medien verschwunden. «Es gibt keinen Termin für einen Gedenkanlass mit Verdingkindern», so Staehli. «Das Bundesamt für Justiz ist aber im Gespräch mit den betreffenden Organisationen.»

Staehli schiebt Verdingkinder-Gruppen die Verantwortung zu. «Die verschiedenen Organisationen äussern unterschiedliche Bedürfnisse darüber, was sie wollen.»

Das erzürnt den Präsidenten des Vereins Netzwerk Verdingt. «Von Uneinigkeit zu sprechen, ist eine Zumutung», sagt Walter Zwahlen. «Ich sehe in dieser Aussage die Absicht, das Ganze weiter auf die lange Bank zu schieben. Alle verlangen eine Entschuldigung.» Zwahlen (63) hatte «von Frau Sommaruga mehr Profil und Engagement in dieser Sache» erwartet.

Nicht erstaunt ist Charles Probst (82), einst Verdingbub im Oberaargau: «Ich habe viele schlechte Erfahrungen gemacht mit den Behörden.» Auch Hugo Zingg (76), im Gürbetal (Kt. BE) verdingt, ist empört, dass «Politiker begangene Fehler heute nicht eingestehen können». Er empfindet es als «Beleidigung und enttäuschend, dass die für uns so zentrale Entschuldigung ausbleibt».

Es wäre ein «Sorry» für ein düsteres Kapitel Schweizer Geschichte. Hunderttausende Kinder sind im 19. und 20. Jahrhundert verdingt worden: aus armen Familien gerissen und als kostenlose Arbeitskräfte an Bauern vermittelt. Der Staat verordnete die Versetzungen  und hat das System somit zu verantworten. Die Kirchen tolerierten es und profitierten mit. Die Bauern erhielten kostenlose Arbeitsleistung in Höhe von über 20 Milliarden Franken, wie SonntagsBlick letzten ­November berechnete.

Nie hat die Schweiz, nie haben Bauern und Kirchen für die geleis­tete Arbeit einen Franken bezahlt. Daher fordern die Verdingkinder neben einer Entschuldigung und historischer Aufklärung auch finanzielle Wiedergutmachung. «Umgerechnet auf den heutigen Geldwert kommt man auf einen Betrag von 120000 Franken pro Person», sagt Vereinspräsident Zwahlen. Noch leben in der Schweiz 10000 einstige Verdingkinder, viele hochbetagt. Insgesamt stünden ihnen 1,2 Milliarden Franken zu.