Von Peter Hossli (Text) und Remo Nägeli (Fotos)
Bern bricht auf ins lange Wochenende. Eilig verschwinden Beamte unter den Lauben. «Frohe Ostern», wünscht Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann einem Passanten vor dem Bundeshaus. Wind und Regen zerzausen sein Haar. Dann ist auch er weg.
Einer nur scheint am Gründonnerstag, um 16 Uhr, noch zu arbeiten: Peter Maurer, Staatssekretär im EDA, liest in seinem Büro im Bundeshaus West Akten. Als einer der fleissigsten Staatsdiener gilt die Nummer zwei im Aussenamt. Nie schläft er länger als vier Stunden. Sagt von sich, Stress nicht zu kennen, da er täglich 20 Stunden wache Zeit habe.
Den «Marathonmann», wie ein Magazin ihn einst nannte, verliert die Schweiz. Maurer, seit 25 Jahren beim Bund, tritt in zwei Wochen ab. Anfang Juli übernimmt er als Präsident das IKRK, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz – den Olymp der globalen Diplomatie.
Die Bodenhaftung hat der Thuner mit dem Bürstenschnitt und dem Asketengesicht nicht verloren. Blitzgescheit ist er, weltgewandt – und stets höflich. «Bringen Sie uns doch bitte je einen Espresso und ein paar Stückchen Schokolade», sagt er zur Mitarbeiterin.
Es war eine schwierige Woche für den obersten Schweizer Diplomaten. Unter Dauerbeschuss scheint das Land. Der Steuerstreit mit Deutschland eskalierte in wüste Worte, mit den USA tobt er seit vier Jahren – ohne Ende in Sicht.
Ob die Diplomatie es verlernte, «hartnäckig die Landesinteressen zu verteidigen», frotzelte die NZZ. «Die Zitrone ist ausgepresst!» Die Schweiz, so das Blatt, sei eine saure Frucht, abgekanzelt von allen.
Maurer (56) widerspricht. «Es ist eine völlig einseitige Perspektive zu meinen, die Schweiz stehe unter Dauerbeschuss», sagt er. «Ich habe ein ziemlich grosses Mass an Unverständnis für die gesamte Rhetorik.» Spannungen und Probleme zwischen Nachbarn seien normal, sie nähmen eher noch zu. Warum? «Heute sind einzelne Gesellschaften und Länder enger miteinander verbunden. Folglich müssen internationale Entwicklung und nationale Befindlichkeit aufeinander abgestimmt werden, das erzeugt Spannungsfelder – überall.»
Was die Schweiz betrifft, sei man sich halt nicht einig, wie Steuern zu erheben sind, Banken zu regulieren, Daten auszutauschen. «Die jetzigen Abkommen zeigen: Es ist möglich, zwischen verschiedenen Orientierungen zu vermitteln.»
Den Vorwurf der Schwäche weist der Diplomat zurück. «Nie waren unsere Interessen wesentlich besser oder schlechter vertreten als heute.» Er bekundet «grösste Mühe mit Begriffen wie ‹ausgequetschte Zitrone› und ‹unfähige Diplomaten›». Nennt es undiplomatisch deutlich «eine Kakofonie».
Deutschland ist nicht die einzige Baustelle. Warum zieht sich der Streit mit den USA in die Länge? «Politisch ist es wichtig, rasche Lösungen zu verlangen», sagt Maurer. «Diplomatische Verhandlungen erfordern aber Geduld, da aussenpolitische Verhandlungen zuerst innenpolitische Abstützung brauchen.» Das Ergebnis mit den USA stehe dann, «wenn wir ein Ergebnis haben».
Maurer wird dann kaum mehr beim Bund sein. Weshalb der Wechsel zum IKRK? «Man hat mir die Stelle angeboten», sagt er. «Das ist ein Job, den man nicht ausschlägt.» Warum? «Jeder, der täglich viel Energie in die Arbeit steckt, sucht zwei Dinge», sagt er. «Wirkung und Relevanz.» Als IKRK-Präsident kann er bewirken, was relevant ist.
Und vertiefen, worum er sich seit 25 Jahren bemüht: menschliche Sicherheit und Schutz der Bevölkerung in Konflikten. Niemand tut dies direkter als das Rote Kreuz.
Brillant sei der Maurer, heisst es. Chef aber war er nie. Hatte stets einen Staatssekretär vor sich – als Staatssekretär eine Bundesrätin.
Hatte er es satt, die Nummer zwei zu sein? Wollte er endlich mal Chef sein? «Zwischen der Lust, Verantwortung zu übernehmen, und es satt zu haben, die Nummer zwei zu sein, liegen Nuancen», sagt Maurer und teilt nuanciert mit, wie unklug die Frage war. «Beim EDA gab es für mich kein Unbehagen», sagt Maurer. «Primär hatte ich den Wunsch, selbst einmal Chef zu sein.» Ab Juli führt er eine global aufgestellte Organisation – mit 12000 Angestellten, verteilt in 80 Ländern.
Er kennt aktuelle und einstige Staatschefs, Lenker und Denker globaler Konzerne, Gestalter, Bill Clinton, Kofi Annan. Kontakte, die viel wert sind. Warum verkauft er sie nicht der Privatwirtschaft? «Es hat mich durchaus gereizt, zu einem Konzern zu gehen», sagt er. «Aber nicht wegen des Geldes, ich verdiene genug, sondern weil die Arbeit attraktiv wäre», sagt Maurer. «Geld ist nie eine Motivation.»
Die Sache packt ihn, nicht der persönliche Erfolg. Worauf ist er stolz? «Mit dem Begriff Stolz habe ich Mühe», sagt er. «Insgesamt bin ich zufrieden mit den vielen Dingen, die ich gemacht habe.» Gab es ein Highlight? «Nein, ich fühle mich eher wie der Affe, der auf Bäumen rumturnt, von einem Wipfel zum anderen.» Diebisches Grinsen überzieht das Gesicht. «Es hat nur spannende Baumkronen gegeben, auf denen ich rumturnen konnte.»
Mit 27 erhielt er die Doktorwürde von der Universität Bern, für eine Arbeit zum Anbauplan Wahlen im Zweiten Weltkrieg. Der Nationalfonds hatte das Stipendium für die Habilitation bereits bewilligt, als er ins EDA eintreten durfte. 24 Stunden überlegte er. Und wechselte in den Staatsdienst.
Ist seither dort, wo die Welt bebt und es wichtig ist für die Schweiz.
Er begann in Südafrika, als Apartheid das Land quälte. Als in Berlin die Mauer fiel, betreute er das Ressort Osteuropa. Er führte in New York die Schweizer Uno-Mission. Mit Bravour. «Es gibt kein Land, das proportional zur Bevölkerung so viel Einfluss bei der Uno hat wie die Schweiz», sagte damals Japans Uno-Botschafter Kenzo Oshima.
Ein Höhepunkt kam im Sommer 2010, als der Staatssekretär in Tripolis den ABB-Mitarbeiter Max Göldi aus der Geiselhaft des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi befreite. Maurer führte die Gespräche. Und stapelt tief: «Es war eine meiner einfachsten Verhandlungen. Bei Geiselbefreiungen weiss man stets, was auf der anderen Seite geschieht, die Thematik ist begrenzt, das Ziel eindeutig – entweder es wird jemand frei oder eben nicht.» Mit der EU zu verhandeln, sei «weit komplizierter».
Wie redet der rationale Diplomat mit dem irrationalen Diktator Gaddafi? Er habe mit Gaddafis Gesandten gesprochen. «Ich hatte nie den Eindruck, Gaddafis Verwaltung bestehe aus einer Horde irrationaler Verrückter », sagt Maurer. «Sie tickten anders, aber die Regierung war lesbar. Sie bewegte sich zwar jenseits der Grenzen dessen, was wir Anstand nennen, aber nicht untypisch für eine Diktatur.» Wie ging er vor? «Trotz hoher Emotionalität wollte ich eine vernünftige Gesprächskultur aufbauen.» Diese sei eher «unterkühlt» gewesen, sagt Maurer. «Wir schrien uns nie an.»
Er hatte Hilfe. «Das Thema wurde internationalisiert, die EU unterstützte die Schweiz, Deutschland und Spanien vermittelten. Das Regime verlor sein Interesse an den Geiseln, selbst Scharfmacher merkten: Der Konflikt läuft ins Leere.»
Zwei Genfer Bedienstete von Hannibal Gaddafi lösten die Krise aus. Das EDA versteckte sie später in der Washingtoner Botschaft. Im Herbst tötete einer der beiden eine Passantin bei einem Autounfall. Die Tarnung flog auf. «Grösste Dummheit» schimpfte SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli das Manöver.
Maurer widerspricht. «Der Entscheid hat sich doch bewährt», sagt er. «Niemand wusste während des Gaddafi-Regimes, dass die beiden in Washington waren.»
Partout nicht preisgeben will der Staatssekretär, wie die beiden in Pakistan festgehaltenen Schweizer unlängst freikamen. Diskretion ist Kern jeder Diplomatie. «Ein Staat darf sich nicht erpressen lassen und nie Lösegeld zahlen», sei aber oberstes Gebot bei Geiselbefreiungen.
Maurer ärgern Touristen, die trotz Warnung in Krisengebiete reisen. «Nur weil jemand einen roten Pass hat, heisst das nicht, er sei sicher.» Erstaunt sei er, «wie unverletzlich sich Schweizer fühlen». Dabei stören ihn nicht primär die Kosten der Geiselbefreiung. «Ein Staat darf nicht erpressbar sein, weil gewisse Leute unvorsichtig sind.»
Kein Dossier ist für die schweizerische Aussenpolitik wichtiger als die Europäische Union. Maurer hat ein «grundsätzlich positives Bild von der Leistung der EU, in Europa und weltweit». Er hätte «lieber schneller, breiter und tiefer mit der EU verhandelt», sagt er. «Es ist aber irrelevant, was ein Staatssekretär persönlich gerne möchte, er muss stets bestmöglichst die Interessen der Schweiz vertreten.»
Maurer ist sicher: «Die Schweiz könnte als EU-Mitglied ihre Interessen und ihre Identität verteidigen und wahren.» Er weiss: «Diese Einschätzung hat keine Mehrheit, deshalb ist die Diskussion über die EU-Mitgliedschaft jetzt abstrakt.»
Es könnte der Eindruck entstehen, Maurer sei ein globaler Nomade, eher zu Hause in diplomatischen Zirkeln in Genf und New York, bei Cocktails in Brüssel. Er wiegelt ab. «Ich bin verankert in der Schweiz.» Er lebt in Bern, wo seine zwei Töchter die Schulen besuchen. «Die Personen in meinem privaten Leben sind schweizerisch.» Die internationale Tätigkeit sei «mein Beruf und meine Berufung. Es ist das, was ich gerne mache, womit ich mich jeden Tag beschäftige.»
Längst sei die Schweiz Teil der Welt geworden – mit Konsequenzen. «Sie ist objektiv in internationalen Ranglisten gesunken», sagt er. Vor 20 Jahren war sie die Nummer 14 im Welthandel, heute die 20, stand auf Rang 6 beim Reichtum, heute auf Rang 11. «Das ist ein erfreuliches Phänomen», sagt Maurer. «Da die Schweiz nicht abgestiegen ist, andere aber haben grosse wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht.»
Beim IKRK folgt Maurer auf Jakob Kellenberger (67), zuvor ebenfalls EDA-Staatssekretär. Maurer war zeitweise sein Berater. Beide gelten als brillante Diplomaten, schätzen Theodor Fontane. Wäre es nicht an der Zeit, sich vom Ziehvater zu emanzipieren? Maurer mag die Frage nicht: «Weder der eine noch der andere muss sich vom anderen emanzipieren. Wir sind Erwachsene, mögen einander, tauschen uns aus, haben ein enormes Interesse an der internationalen Welt.»
Kellenberger bezeichnet Somalia am Horn von Afrika als grösste humanitäre Krise. «Ich kann in meiner heutigen Funktion keine Rangliste erstellen», sagt Maurer. «Der Gürtel der Instabilität reicht durchgängig von Westafrika bis zum Himalaya.» Ein Gürtel, zehntausend Kilometer lang und ein paar Tausend Kilometer breit. «Dort können Sie Ranglisten erstellen, die ändern sich ständig.» Schwach seien die politischen Systeme in der Region. Konflikte und Klimawandel begünstigen Elend. «Es ist eine explosive Mischung», sagt Maurer.
Zumal die Region ideologisch aufgeladen ist, die humanitäre Hilfe im islamischen und somit kulturell schwierigen Umfeld erfolgt.
Um verletzte Soldaten zu versorgen, gründete Henri Dunant 1863 das IKRK. «Heute wird anderswo gestorben», sagt Maurer. «Niemand ist im Krieg sicherer als Soldaten.» Es sind Zivilisten, die sterben – von Drohnen beschossen, auf Tretminen, an Seuchen. «Diesem Trend wirkt das IKRK entgegen», so Maurer. Es schütze die Bevölkerung, stärke das humanitäre Völkerrecht. «Wir bringen zuerst das zerbrochene Geschirr zusammen, dann übernehmen die anderen Akteure.»
Wie will er Konflikte schlichten? «Es gibt keine fixe Anleitung, jede Situation ist anders.» Er erklärt, warum ein militärischer Schlag in Libyen möglich war, in Syrien trotz humanitärer Krise nicht. «Gaddafi verkrachte sich mit der gesamten arabischen Welt, diese hatte die Nase gestrichen voll, was eine Resolution im Uno-Sicherheitsrat begünstigte – und somit eine legitime Aktion gegen Libyen.» In Syrien gelang es bisher nicht, alle einflussreichen Mächte auf einen Nenner zu bringen. «Es ist eine Illusion, so zu tun, als würde das System der internationalen Sicherheit funktionieren. Es gibt viel Doppelmoral.»
Der Weg sei in der Diplomatie oft so wichtig wie das Ziel. «Man muss die Ziele aber genau kennen.»
Welche persönlichen Ziele hat er? Erstmals nippt er im zweistündigen Gespräch am Espresso. Der Denker gerät ins Stocken. «Über private Ziele spreche ich nicht.» Zwei Monate nimmt er sich Zeit, um Ziele fürs IKRK zu definieren.
Er wird nie sagen, wo er Konflikte beendet, Hunger lindert, Kriege stoppt. «Ich habe eine gesunde Skepsis gegenüber der Ankündigung nicht erreichbarer Ziele.»