Von Peter Hossli und Claudia Gnehm
Die kleine braune Pille heisst Glivec. Sie schafft, was nur wenige Medikamente schaffen. Sie zähmt einen bösartigen Krebs.
Bis zu zehn Jahre überleben Krebspatienten, die Glivec schlucken. Als Geniestreich gilt die Arznei. Das Magazin «Time» nennt sie «die Wunderwaffe gegen Krebs».
Entwickelt haben Glivec US-Forscher für den Schweizer Pharmakonzern Novartis. Auf den Markt kam das Medikament 2001. Jetzt, elf Jahre später, reibt die Kapsel die Pharmaindustrie auf.
Vor dem höchsten indischen Gerichtshof erstreitet Novartis für Glivec den Patentschutz. Indien will ihn den Baslern nicht gewähren, da Glivec bloss eine leicht modifizierte Tablette sei.
Der Entscheid fällt wohl im Juli, mit weitreichenden Folgen. Für Patienten, insbesondere arme. Für Pharmakonzerne, insbesondere für den Wert ihrer Forschung. Und für Indien als Forschungsstandort.
Hängig ist der Fall in Neu-Delhi. Obsiegen die Basler, ist die Rolle Indiens als «Apotheke der Armen» gefährdet. Für chronisch Kranke in Entwicklungsländern könnten lebensrettende Medikamente unerschwinglich werden, fürchten Hilfsorganisation. Fortan gelangten sogenannte Generika um Jahre später auf den Markt, günstigere aber ebenso wirksame Kopien.
Als «sehr wichtig für Novartis», beschreibt der ehemalige Forschungschef Paul Herrling (65) den Rechtsstreit. «Wir wollen klären, welche Innovation sich in Indien überhaupt rechtlich schützen lässt, und welche nicht.»
Nur nebensächlich sei Geld. 4,7 Milliarden Dollar setzt Novartis mit Glivec jährlich um. Der Umsatz in Indien ist minimal. «Uns geht es ums Prinzip», sagt Herrling. Novartis möchte zeitlich schützen, was Forscher im Labor heraustüfteln, und zwar weltweit. Patente laufen in der Regel 20 Jahre lang.
Den Indern geht es ebenfalls um Prinzipien. Sie werfen den Baslern sogenanntes Evergreening vor. Das dulden ihre Gesetze nicht.
Lebensrettend
Gemeint ist die missbräuchliche Verlängerung von Patentfristen. Wissenschaftler versuchen das mit kleinen Veränderungen der Pillen zu erreichen. Haben sie Erfolg, verhindern sie Generika und behalten ein Monopol für ihre teuren Mittel. Folglich unerschwinglich sind Therapien für Patienten ohne Geld.
Genau das bewirke die Klage in Indien, sagen einflussreiche Hilfsorganisationen. «Erhält Novartis recht, steht die Generika-Industrie vor dem Aus», sagt der Genfer Direktor von Ärzte ohne Grenzen, Tido von Schoen-Angerer. «Bei Glivec sehen wir keine Innovation, auch nicht betreffend der Wirksamkeit.»
Herrling widerspricht. «Wir sind ebenfalls gegen missbräuchliches Evergreening.» Bei Glivec sei dies nicht der Fall. Die erste patentierte Version sei nie verkauft worden, die aktuelle erfülle indische Anforderungen. Indien stellt bloss dann neue Patente aus, wenn die neue Formel die Wirksamkeit steigert. Herrling: «Glivec ist heute 30 Prozent verträglicher als früher.»
Der Wirkstoff von Glivec heisst Imatinib. Er lindert Leukämie, ein bösartiger Krebs, der Blut und Knochenmark angreift. Er wirkt bei Tumoren in Magen und Darm. Und er hält das Ebola-Virus in Schach.
Bei neun von zehn Leukämiepatienten wirkt die Behandlung – mit erträglicheren Nebenwirkungen als bei Chemotherapien. «Glivec ist ein lebensrettendes Medikament», sagt Herrling. Nicht um Monate verlängere es Leben von Krebspatienten, sondern bis zu zehn Jahre.
Das hat seinen Preis. Ein Patient in den USA muss für Glivec rund 70000 Dollar pro Jahr bezahlen. Indische Generika schlagen mit rund 2500 Dollar zu Buche. Das ist zu teuer für indische Patienten.
Ihnen helfen die Basler. Eine unabhängige Stiftung beurteilt die Lebensumstände von Krebspatienten. Ist für jemand die Kapsel unerschwinglich, erhält er sie kostenlos. Davon profitieren 15000 indische Patienten. «Seit 2002 hat Novartis Glivec im Wert von 1,7 Milliarden an indische Patienten geliefert», sagt Herrling. «Wir begannen damit lange vor dem Rechtsstreit.»
Allein um Glivec geht es den Indern nicht. Sie wollen einen Präzedenzfall verhindern, der ihre In-dustrie schwächt. Kein Land produziert mehr Generika als Indien. Dutzende Pharmafirmen mit Tausenden Angestellten kopieren Pillen, Pulver und Kapseln. Der Jahresumsatz: zehn Milliarden Franken.
Für Kranke in armen asiatischen und afrikanischen Ländern sind diese Kopien lebenswichtig.
So liefert Indien rund 80 Prozent der Arzneien gegen Aids nach Afrika – allesamt Generika. Können Konzerne die dazugehörigen Patente durch Evergreening verlängern, entgeht vielen armen Patienten die medizinische Pflege – weltweit. «Novartis gefährdet die Gesundheitsversorgung in allen Entwicklungs- und Schwellenländern», sagt von Schoen-Angerer.
Vielzahl von Projekten
Seit vierzig Jahren steht Indien mit Big Pharma im Clinch. 1970 entschied die Regierung, keinerlei Patente für Medikamente mehr zu gewähren. Folglich entfaltete sich auf dem Subkontinent die Generika-Industrie. Kaum kam ein Medikament auf den Markt, kopierten es die Inder – und belieferten damit Spitäler in Entwicklungsländern.
Um die Jahrtausendwende änderte sich das Bewusstsein. Indische Forscher entwickelten zusehends eigene Pillen, für die sie Patente erwirken wollten. Überdies stieg der Druck der Welthandelsorganisation WTO. 2005 führte Indien das Patentrecht wieder ein.
Es sieht keine Patente für Arzneien vor, die vor 1995 entwickelt wurden. Hierin liegt die Krux im Streit mit Novartis. Glivec sei zu alt für ein Patent. Zwar kam es 2001 auf den Markt. Eine erste Version liess Novartis 1992 patentieren.
Mit der Klage greift Novartis Regeln der WTO an. Diese erlauben, die Patentvergaben einzuschränken – falls das im Interesse der öffentlichen Gesundheit steht.
Der Entscheid beeinflusst, wo Pharmakonzerne in Asien künftig forschen. Heute sehen sie ihre Rechte in China und Singapur besser geschützt. «Sollten wir gewinnen, steigt die Wahrscheinlichkeit, das Pharmafirmen in Indien Forschung betreiben», sagt Herrling von Novartis. «Indien hat viele talentierte Wissenschaftler.»
Patentschutz beflügle zudem die indische Pharmaindustrie. Statt Generika zu produzieren, würden sie selbst Medikamente entwickeln – und damit mehr Geld verdienen.
Ärzte ohne Grenzen widersprechen. «Bereits heute erhält in Indien problemlos ein Patent, wer ein neuartiges Medikament entwickelt», sagt von Schoen-Angerer.
Seine Organisation fürchtet den Entscheid. «Wenn wir gegen Novartis verlieren, bleibt nichts übrig, was wir verteidigen können», sagte Leena Menghaney zur «New York Times», die Neu-Delhi-Direktorin. Menschen würden sterben.
«Es nervt mich, wenn jemand sagt, wir lassen Menschen sterben», sagt Herrling. «Wir sehen unsere Verpflichtung gegenüber allen Patienten, nicht nur den Reichen.» Herrling: «Wir haben Medikamente, die Leben retten. Novartis hat eine Vielzahl von Projekten, die den erschwinglichen Zugang zu diesen Medikamenten ermöglicht.»
Jährlich gebe Novartis dafür 1,7 Milliarden Franken aus. Zudem investiere der Konzern in die Entwicklung von Pillen, mit «denen wir nie etwas verdienen werden», sagt Herrling – «mehr als die meisten anderen Pharmakonzerne.»
Ohne Aussicht auf Profit forscht Novartis im Bereich von Malaria, Denguefieber und Tuberkulose. «Um das zu finanzieren, ist Novartis auf Gewinne angewiesen», sagt Herrling. «Die erzielen wir nur mit patentierten Medikamenten.»
Der gute Doktor bei Novartis
Paul Herrling ist ehemaliger Forschungschef des Pharmakonzerns Novartis. Er leitet das in Singapur ansässige Institut für tropische Krankheiten, wo Novartis in den Bereichen Malaria, Tuberkulose und Denguefieber forscht. Herrling kam 1975 nach der Doktorarbeit an der Universität Zürich zu Sandoz. Seither ist er für die Basler tätig. Zudem lehrt er als Professor für Biopharmakologie und Arzneistoffwissenschaften an der Universität Basel.