29700 Amerikaner haben Schweizer Banken verraten

Die Schweiz hat es versäumt, mit den USA beim Steuerstreit eine Lösung zu finden. Längst haben die Amerikaner genügend Beweise, um mit jeder Schweizer Bank einzeln abzurechnen.

Von Peter Hossli

Eine Gesamtlösung im Steuerstreit mit den USA stehe Ende Jahr, heisst es derzeit aus dem Eidgenössischen Finanzdepartement.

Bereits 2011 sagte Bundesbern, Ende Jahr komme die Lösung – mitsamt Verfahren für die Lieferung von Kundendaten und einer Busse, die alle Banken einschliesst.

Kommen wird sie nie. Einen universellen Schnitt um unversteuerte US-Vermögen auf Schweizer Banken wollen die Amerikaner nicht.
Jede betroffene Bank muss einzeln verhandeln. «Es gibt auf US-Seite kein Interesse an einer abschliessenden, für alle geltenden Lösung», sagt Rechtsprofessor und Bankenexperte John Coffee von der Columbia University in New York.

Er zählt zu den intimsten Kennern des Steuerstreits. «Es handelt sich um unterschiedliche Banken mit unterschiedlichen Vergehen», sagt er. «Jede einzelne Bank braucht ein separates Abkommen.»

Ein ehemaliger Ankläger des US-Justizministeriums (DoJ) teilt diese Ansicht. «Es gibt im DoJ derzeit grossen Widerstand gegen pauschale Lösungen», sagt er.

Ein Schweizer Privatbanker, der anonym bleiben will: «Aus amerikanischer Sicht wäre es taktisch falsch, jetzt eine Gesamtlösung abzuschliessen», sagt er. «Es geht ihnen um Einzeltrophäen.»

Zumal nicht bloss elf Banken im Visier der Amerikaner sind. Es soll eine weitere Liste mit 16 Banken geben. Betroffen sein sollen weitere Kantonalbanken sowie erstmals Genfer Privatbanken.

Sie alle hoffen auf eine schnelle und umfassende Lösung. Niemand soll merken, wer alles noch wohlhabende US-Kunden mit unversteuerten Geldern im Portefeuille hat.

Das ist eine naive Haltung. Denn die Amerikaner wissen längst: Auf jeder Schweizer Bank liegt unversteuertes Geld von Amerikanern.

Deshalb kann jederzeit jeder Schweizer Bank widerfahren, was letzte Woche dem Geldhaus Wegelin widerfahren ist – eine Strafanzeige in den USA einzufangen, die den sicheren Untergang nach sich ziehen würde.

Warum das? Zwischen 2009 und 2011 haben sich 33000 steuersäumige Amerikaner bei der US-Steuerbehörde IRS angezeigt. Mindestens

80 Prozent, wenn nicht 90 Prozent hatten Konten bei Schweizer Banken, sagt US-Anwalt William Sharp. Er hilft Amerikanern bei der Selbstanzeige. Der ehemalige US-Staatsanwalt bestätigt diese Beurteilung.

Wer sich stellt, muss genau offenlegen, wer ihm wie geholfen hat – die Namen nennen von Bank, Bankern, Anwälten und Treuhändern.

Das heisst: Zwischen 26400 und 29700 US-Kunden haben ihre Schweizer Bank verraten. «Die USA wissen jetzt genau, wie das Geschäft mit Schwarzgeld in der Schweiz läuft», sagt Sharp.

Deshalb sei die USA heute «weit mächtiger als vor dem Fall UBS», so Sharp. «Das Selbstanzeigeprogramm hat die USA mit einem Waffenarsenal versehen, einem Datenschatz, den man jederzeit anzapfen kann, weitere Klagen zu führen.»

Umso dringlicher ist es für das Parlament, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Kundendaten an die USA zu liefern. Erhalten die Amerikaner die Daten nicht, erzwingen sie diese.

Klagen akzeptieren US-Gerichte, falls «hinreichender Verdacht» vorliegt, eine Bank hätte systematisch Hilfe geleistet bei Steuerdelikten.

Hoch ist diese Hürde nicht. Rund 40 US-Kunden mit Schwarzgeld reichen. Bei über 26000 reuigen US-Kunden liegt der Verdacht nah, dass jede Schweizer Bank ein paar Dutzend hat oder hatte.

Klagen abwenden können die Banken mit einem sogenannten Deferred Prosecution Agreement (DPA). «Jede Bank im Visier der US-Justiz strebt jetzt ein DPA an», sagt Rechtsprofessor John Coffee. Dazu gehören die Credit Suisse, die Basler sowie die Zürcher Kantonalbank und die Julius Bär.

Ein DPA rettete vor drei Jahren die UBS vor der Strafanzeige. Nun dient das juristische Verfahren gegen die Grossbank «als Blaupause für andere Banken», sagt Coffee.

Ohne eine Schuld eingestehen zu müssen, kooperiert bei einem DPA ein angeschuldigter Konzern bei der Aufklärung eines Vergehens. Er zahlt eine hohe Busse, legt Beweise zu irregulärem Verhalten von Angestellten offen. Bei der UBS kam ein Kniefall mit öffentlicher Entschuldigung dazu – sowie die Auslieferung von 4650 Kundendossiers an die USA. Da es sich dabei um eine Verletzung des Bankkundengeheimnisses handelte, war 2009 ein Staatsvertrag nötig.

Wie geht es 2012 weiter? Die betroffenen Banken werden aus ihrem grenzüberschreitenden Geschäft mit US-Kunden aussteigen – und eine beträchtliche Busse bezahlen müssen. Wobei sie die Höhe jeweils individuell aushandeln.

Überdies werden die Banken im grösseren Masse Kundendaten ausliefern als dies die UBS getan hatte. «Bei der UBS interessierte sich das DoJ für grossen Fische, die Milliardäre, jetzt wollen sie alle», sagt der ehemalige Staatsanwalt.

Das DoJ habe die Geduld verloren. Gelingt es US- und Schweizer Beamten nicht, möglichst bald ein gängiges Verfahren für die Auslieferung zu finden, werden die US-Behörden mit weiteren Klagen die Herausgabe von Kundendaten verlangen. «Der Chefankläger des DoJ schreckt derzeit nicht mehr davor zurück, gegen weitere Banken Strafanzeigen einzureichen», sagt der Ex-Ankläger mit direktem Draht zum Justizdepartement.

Die jüngste Anzeige gegen Wegelin sei «nur ein erster Schritt» gewesen. Sie kam, weil das DoJ nicht mehr warten wollte, bis Wegelin die Namen steuersäumiger Kunden per Rechtsweg ausliefert.

Gegen Milde spricht zudem: Die Finanzbranche ist heute gesünder als Anfang 2009, als der UBS-Deal zustande kam. Das DoJ wollte der UBS damals 1,2 Milliarden Dollar abringen. Finanzminister Timothy Geithner erachtete das als zu hoch, angesichts der kritischen finanzielle Lage der UBS. Er fürchtete um UBS-Jobs in den USA – und gab sich mit 780 Millionen zufrieden.

Der Glaube an eine Gesamtlösung ist eines von vielen Missverständnissen im Steuerstreit zwischen den USA und der Schweiz.

Entweder liessen sich die Schweizer Banken und die Behörden schlecht beraten. Oder sie hörten nicht auf ihre Berater. Zumal der jetzige Schlamassel nicht überrascht. «Was jetzt passiert, war nicht nur vorhersehbar, es war angesagt», sagt US-Anwalt Sharp. «Die Schweizer haben die in gros­sen Buchstaben angekündigten Warnungen weggewischt.»

Spätestens Ende 2007, als der Fall UBS ins Rollen kam, läuteten die Alarmglocken. Statt zu reagieren, haben alle weggehört. «Eine Mischung aus Grössenwahn, Naivität und Gier blendete uns», gibt ein Schweizer Banker zu.

Der oberste Steuerkommissar der USA, Doug Shulman, wolle «gegen 20 Schweizer Banken klagen», titelte SonntagsBlick schon am 9. August 2009. Ihm diene der Fall UBS als Vorbild, «alle Schweizer Banken anzuklagen, die Amerikanern halfen, Gelder am Fiskus vorbeizuschmuggeln», sagte bereits damals US-Anwalt Sharp.

Zweieinhalb Jahre später müssen gegen 30 Banken genau das befürchten: eine Strafanzeige, die ihr Ende bedeuten würde.
Insgesamt haben Schweizer Banken mehrere Zehntausend amerikanische Kunden, die gegen 50 Milliarden Franken verwalten lassen.

Statt verstehen zu wollen, um was es den USA geht, versteigen sich Schweizer Politiker und Banker weiterhin in Rhetorik, reden von «Wirtschaftskrieg», «Grossangriff auf den Finanzplatz», «Missachtung eines souveränen Staats».

Dabei geht es den Amerikanern nicht um die Schweiz, nicht um das Bankgeheimnis, nicht um den Paradeplatz. «Sie wollen nur, dass ihre Bürger die gesetzlich festgelegten Steuern zahlen», sagt Professor Coffee. Als Doug Shulman 2008 oberster US-Steuereintreiber wurde, versprach er, resolut gegen alle vorzugehen, die Geld bei ausländischen Banken verstecken. Teure Kriege in Afghanistan und Irak sowie Steuergeschenke an Reiche leerten die US-Staatskasse. Shulman muss sie füllen.

Das macht er mit einer einfachen wie erfolgreichen Doppelstrategie: Er schürt Angst unter Amerikanern und unter ausländischen Bankern. Gleichzeitig offeriert er US-Bürgern eine Amnestie.

Marketing mit der Angst

Nur rund 100 Klagen kann das IRS pro Jahr führen. Die meisten richten sich gegen US-Bürger, die mit Hilfe von Schweizer
Banken Gelder am Fiskus vorbeischleusen. Die anderen richten sich gegen ausländische Kundenberater, Treuhänder und Anwälte, die ihnen dabei halfen.

Die detaillierten und öffentlich zugänglichen Klageschriften dienen als Pranger – und als Abschreckung. Anfänglich klagte das DoJ vornehmlich Milliardäre an, mittlerweile sind es solche mit bescheidenen Vermögen. «Sicher ist niemand», will Shulman ihnen sagen.

Damit treibt er Bankkunden ins Selbstanzeigeprogramm.

Gegen eine happige Busse und Nachzahlung der Steuern entkommen sie straffrei. Für die IRS ist das weitaus günstiger und ergiebiger als eine Klage zu führen. Bisher trugen die Selbstanzeigen dem amerikanischen Fiskus 4,4 Milliarden Dollar ein.

Wie raffiniert das Marketing mit der Angst angelegt ist, zeigt die vergangene Woche. Am Donnerstag klagte US-Staatsanwalt Preet Bharara mit der Wegelin die älteste Schweizer Bank an und erntete weltweit Schlagzeilen. Am Freitag liess er sich auf dem Titel des US-Magazins «Time» als neuer Sheriff der Wall Street feiern. Als einer, der bei illegalem Treiben aufräumt.

Je länger und je lauter solche Drohgebärden ertönen, wissen die USA, desto mehr Steuersünder stellen sich. Deshalb haben sie keinerlei Interesse an einer Gesamtlösung. Zu Ende ist der Steuerstreit noch lange nicht.