Was der Whistleblower wirklich wollte

Der mutmassliche Datendieb im Fall Hildebrand wollte eine juristische Klärung der Dollarkäufe. Gegen seinen Willen kamen die geklauten Bank-Dokumente in die Presse – weil SVP-Drahtzieher ihn hintergingen.

Von Peter Hossli, Marcel Odermatt und Roman Seiler

Freitag, 19 Uhr. Das Telefon des Reporters klingelt. Es meldet sich eine Person, die den Schlüssel zu einem zentralen Rätsel in der Dollar-Affäre Hildebrand hält.

Es ist der Tag, nachdem Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand (48) Fehler eingestehen musste – und sich öffentlich entschuldigte für Devisentransaktionen von ihm und seiner Frau Kashya (50).

Auslöser dieser Affäre war ein 39-jähriger IT-Experte aus der Ostschweiz. Er hat sich die Kontodaten von SNB-Präsident Hildebrand beschafft – illegal. Er heisst Reto T.* und wohnt in Amlikon TG.

Publik gemacht hat Hildebrands Bankdaten vergangene Woche die «Weltwoche» – sie bezeichnete den Notenbanker als «Gauner». Es war der Thurgauer Anwalt und SVP-Kantonsrat Hermann Lei, der dem Blatt die Kontoauszüge zugespielt hatte.

Offen war bisher die Frage, ob T. damit einverstanden war. Oder ob das jemand gegen seinen Willen tat. Oder noch schlimmer: Ist er sogar für ein politisches Komplott missbraucht worden?

SonntagsBlick weiss: «T. wollte die Kontoinformationen der Familie Hildebrand nicht über die Presse öffentlich machen», sagt die Person am Telefon. Er fühle sich «hintergangen». Lei habe die Daten der «Weltwoche» ohne das Einverständnis von T. zugespielt. Eine zweite, absolut verlässliche Quelle bestätigt die Aussage.

Zudem: Für T. ist die Veröffentlichung heute «schlimmer als die Dollarkäufe von Hildebrand», so die Person. T. habe dafür gekämpft, «dass es eine ordentliche Untersuchung gibt. Andere Kräfte drängten parallel dazu in die Medien».

Das sind brisante Informationen. Losgelöst vom höchst problematischen Verhalten des Notenbankchefs stützen sie zwei entscheidende Umstände.

Zum einen erhärten sie den Verdacht eines politischen Komplotts gegen Hildebrand.

Zum anderen testen sie die journalistische Seriosität der «Weltwoche». Entweder hat das Blatt die Absichten des Geheimnisträgers nicht gekannt – oder aber bewusst nicht respektiert.

Diese Fragen klärt derzeit die Zürcher Staatsanwaltschaft ab. Ihr hat T. am vergangenen Donnerstag die Fakten geschildert.

Die Person am Telefon kennt die Details aus nächster Nähe. Mit SonntagsBlick redet sie nur nach Zusicherung absoluten Quellenschutzes.

So wollte der mutmassliche Datendieb unbedingt «juristisch korrekt» abklären lassen, ob Hildebrand ein strafrechtlich relevantes Insidergeschäft getätigt hatte.

Ein edles Motiv, gesteht selbst SNB-Präsident Hildebrand. «Ich habe durchaus Verständnis für diesen Mitarbeiter», sagte er am vergangenen Donnerstag vor versammelter Presse. «Vielleicht meinte er ja tatsächlich, etwas gefunden zu haben, was stinkt.»

T. hatte als IT-Mitarbeiter der Basler Privatbank Bank Sarasin die Dollarkäufe über das Konto von Philipp Hildebrand gesehen. Ein Anblick, der ihn besorgte. Er vermutete eine ungerechtfertigte Bereicherung durch den Notenbankchef.

Ob T. aktiv nach Hildebrands Kontoinformationen gefahndet hatte oder ob er zufällig darauf gestossen war, ist offen und Gegenstand strafrechtlicher Abklärung. Ebenso, ob er allein gehandelt hatte – oder ob ihm jemand bei der Suche nach den Kontodaten geholfen hatte.

Mittels Handy-Kamera oder ­eines digitalen Fotoapparats fotografierte er einen Bildschirm innerhalb der Bank – das steht fest. Er zeigte die Bilder Hermann Lei, einem geradezu fanatischen Gegner der Währungspolitik von Hildebrand. So geisselt er in Texten die Festsetzung eines Mindestkurses des Frankens zum Euro als Unterwerfung unter die EU.

Am 3. Dezember trafen sich Lei und T. erstmals mit SVP-Nationalrat Blocher. Zwei Wochen später ging der alt Bundesrat zu Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey und zeigte ihr die Dokumente.

Das löste zwei Untersuchungen aus. Aufgrund derer publizierte die SNB am Freitag vor Heiligabend eine Pressemitteilung und erteilte ihrem Präsidenten einen Persilschein. Dieser warf mehr Fragen auf als er beantwortete.

Am nächsten Tag schon hatte T. erstmals Gelegenheit, an die Presse zu gehen. Er traf sich mit zwei BLICK-Reportern auf dem Parkplatz des Hotels Hilton in der Nähe des Flughafens.

Wie das Treffen zustande kam, spricht Bände. Gegen Mittag jenes Tages rief ein Informant im Newsroom der Blick-Gruppe an, ein Mitglied der SVP. Der Anruf erfolgte ohne das Wissen von T. Zum Kontakt kam es, weil BLICK als einzige Zeitung kritische Fragen zu den Dollarkäufen gestellt hatte.

Der Informant bot ein Treffen mit einem Mann an, der Kenntnis habe zum Fall Hildebrand. Dass es sich bei ihm um den IT-Experten der Bank Sarasin handelte, das sagte der Informant damals nicht. Erst nach einigen telefonischen Gesprächen willigte T. zur Begegnung mit den Journalisten ein. Er kam vermummt, trug eine dicke Winterjacke und eine Wollmütze. Sprach ruhig und überlegt – und er machte nicht den Eindruck, als wolle er die Journalisten davon überzeugen, die Story an die Öffentlichkeit zu bringen. Zumal er keine Dokumente besitze, wie er damals gegenüber den BLICK-Reportern behauptete.

T. aber wollte an Heiligabend gar nicht im Auto sitzen. Er fühlte sich dabei unwohl und besorgt. Da er den Reportern keine konkreten Beweise vorlegte, brachte der SonntagsBlick die Geschichte nicht.

Seit Donnerstag ist bekannt, dass Hermann Lei die Bankdaten an die «Weltwoche» lieferte. Bankratspräsident Hansueli Raggenbass nannte ihn an der Pressekonferenz erstmals öffentlich. Am selben Tag bestritt Lei, der Anwalt des Whistleblowers T. zu sein.

Das ist nur die halbe Wahrheit. Noch vorletztes Jahr hatte Lei den Ostschweizer T. vor Gericht vertreten – die beiden kennen sich seit der Schulzeit.

Der mittlerweile entlassene Sarasin-Mitarbeiter hatte im Sommer 2009 Probleme mit der Justiz. Eine Frau hatte ihn beim Bezirksgericht Weinfelden TG wegen Drohung und Nötigung angezeigt. Ein Richter verpflichtete T. im März 2011, sich der Frau nicht mehr zu nähern und keinen Kontakt mehr aufzunehmen.

Weil die Frau innert Monatsfrist keine Klage einreichte, stellte das Bezirksgericht den Fall ein.

Was stimmt: Heute ist Lei nicht mehr der Anwalt von T. Die beiden haben sich überworfen, das Mandatsverhältnis ist aufgekündigt. Ein anderer Jurist vertritt die Interessen des mutmasslichen Datendiebs. «T. fühlt sich von Lei hintergangen», sagt die Person, die zu SonntagsBlick den Kontakt suchte.

Hinter seinem Rücken habe Lei die Bankauszüge von Hildebrand der «Weltwoche» zugänglich gemacht. «T. wollte damit nicht zur Presse», sagt die Person. Dazu Lei: «Der Informant war hin- und hergerissen, einmal sagte er, er wolle den Fall öffentlich machen, einmal nicht.»

Gemäss der Person gingen über 50 E-Mails zwischen Lei und T. hin und her. Nur in ein paar wenigen sei über den Gang an die Presse gesprochen worden. Nie aber hätte T. eine eindeutige Einwilligung dazu gegeben.

Anwalt Lei: «Wir hatten regelmässig Kontakt und haben alles besprochen. Seit drei Tagen habe ich keinen Kontakt mehr mit dem Informanten.»

T. sei der Ansicht, SVP-Stratege Christoph Blocher habe mit seinem Gang zum Bundesrat richtig gehandelt. Denn: «T. wünschte sich eine korrekte juristische und allenfalls eine parlamentarische Untersuchung», sagt die Person. In seinem Sinn ist etwa eine von SVP-Nationalrat Hans Kaufmann am 23. Dezember eingereichte Interpellation. Kaufmann will abklären lassen, ob bei privaten Wertschriften- oder Devisentransaktionen in der SNB die gleichen Regeln gelten wie bei Privatbanken.

Bevor Parlamentarier ihn befragen konnten, bestürmte ihn die «Weltwoche». T. aber wollte sich nicht als Quelle hergeben. Das bestätigt «Weltwoche»-Autor Urs Paul Engeler in der gestrigen «Basler Zeitung»: Ein Gespräch mit T. sei ihm versprochen, aber kurzfristig abgesagt worden. Versprochen hatte es Anwalt Hermann Lei.

Wer aber ist T.? Sicher keine kaltblütig kalkulierende, sondern eher eine labile Persönlichkeit. So zeichnet die Frau, die ihn 2009 anzeigte, das Bild eines besessenen Mannes. Während Monaten habe er sie mit SMS und Telefonanrufen belästigt. Sei fixiert auf sie gewesen. Eines Abends ging T. laut den protokollierten Aussagen der Frau so weit, dass er sie nach einem Barbesuch mit einem anderen Mann auf der Strasse abfing. Es brach ein böser Streit aus. Sie habe das Gefühl gehabt, einen verwirrten Mann zu sehen. Sie empfahl ihm, «Hilfe anzunehmen».

Von der Justiz fühlte sich T. damals ungerecht behandelt. Der Fall bestärkte sein Gefühl, in der Schweiz laufe etwas falsch. Jetzt ist er seinen Job los, fristlos gekündigt. Gegen Dritte und gegen T. hat Sarasin nun eine Strafanzeige eingereicht – wegen Verletzung des Bankkundengeheimnisses und wegen Ausnützung des Verrats des Geschäftsgeheimnisses.
Gleichwohl hilft Sarasin dem mutmasslichen Datendieb T. wieder Tritt zu fassen. «Wir haben dem ehemaligen Mitarbeiter einen Coach zur Verfügung gestellt», sagt Sarasin-Sprecher Benedikt Gratzl. «Die Bank unterstützt ihn in seiner beruflichen und privaten Zukunft.»

Unabhängig vom Komplott ist das Image Hildebrands und somit das der Schweizerischen Nationalbank schwer ramponiert. Aufpolieren lässt sich dies nur mit mehr Transparenz.

Diese Ansicht teilt der Bankrat der Nationalbank. Er will sämtliche Banktransaktionen der Mitglieder des Erweiterten Direktoriums zwischen Anfang 2009 und Ende 2011 unter die Lupe nehmen.

T. wollte ein potenzielles Verbrechen aufdecken. Heute sei er der Meinung, dies rechtfertige es nicht, «ein anderes zu begehen. Nämlich das Verbreiten von vertraulichen Daten», sagt die Person.

Lei begründet seine Weitergabe der Daten an die «Weltwoche» so: «Wenn einer jemandem politisch unsympathisch ist, ist die Beisshemmung natürlich kleiner, ihn anzugreifen.»

Gestern machten unbestätigte Berichte die Runde, T. habe einen Selbstmordversuch unternommen.

*Name der Redaktion bekannt