So erfolgreich und doch verzweifelt

Warum schied der beliebte Ricola-Chef aus dem Leben? Liegen die Gründe im Unternehmen? Fest steht: Es gab «finanzielle Unregelmässigkeiten».

Von Peter Hossli, Daniel Meier, Roland Gamp, Mario Gertschen

Donnerstag früh, noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Um 6 Uhr verlässt ein Neigezug den Bahnhof Grenchen Nord SO. Bald tauchen die Waggons in den Tunnel ein. Der Lokomotivführer sieht schon dessen Ende, als er einen Schlag wahrnimmt. Um 6.07 Uhr stoppt er den Zug im Bahnhof von Moutier, meldet den Vorfall sofort seinem Fahrdienstleiter.

Der Lokführer befürchtet Schlimmes: dass ihm ein Mensch vor den Zug gekommen ist. Ein Verdacht, der sich bestätigt. Der Führer des nachfolgenden RegioExpress – Abfahrt Grenchen 6.22 Uhr – erhält den Auftrag für eine Kontrollfahrt. Auf der Nordseite des Tunnels bei Moutier im Berner Jura entdeckt er den Körper eines Mannes mit grauem Haar.

Polizei und Ambulanz rücken aus. Sie bergen die sterblichen Überreste von Adrian Kohler (53), dem Chef des basellandschaftlichen Kräuterzuckerfabrikanten Ricola.

Über 25 Jahre arbeitete er bei ­einer der weltweit bekanntesten Schweizer Firmen. In Mumbay, Berlin oder Beirut – die Ricola-Bonbons mit Alpenkräutern geniessen einen hervorragenden Ruf. Der Werbespruch «Wer hats erfunden?» wird oft und gern in Witzen verwendet.

Die Erfolgsgeschichte beginnt 1930. Emil Wilhelm Richterich gründet die Firma in Laufen BL. Stets lenken Familienmitglieder die Geschicke bei Ricola – eine Abkürzung für Richterich & Co. Laufen. 1991 übernimmt Felix Richterich. Nach 13 Jahren an der Spitze tut er, was zuvor undenkbar schien: Er übergibt die Leitung an eine familienfremde Person – Adrian Kohler, den langjährigen Finanzchef.

Der Wechsel klappt. Das Führungsduo mit Konzernchef Kohler und Verwaltungsratspräsident Richterich (52) funktioniert bestens. In den letzten 20 Jahren stieg der Umsatz von 100 auf über 300 Millionen Franken. Mehr als 400 Mitarbeiter beschäftigt die Firma heute, die meisten in Laufen.

Ricola gilt weitherum als Vorzeigebetrieb. Rund 1000 Tonnen frische Kräuter, die pro Jahr verarbeitet werden, stammen von 200 Schweizer Bergbauern. Weil 90 Prozent der Zeltli in den Export gehen, hat Ricola mit dem harten Franken zu kämpfen. Dennoch ist eine Produktionsverlagerung kein Thema. «Wir stehen zum Standort Schweiz», stellte Richterich im vergangenen Jahr erneut klar.

Ricola tickt anders. Bekannt und beliebt sind Jass- und Fussball-Turniere mit der Belegschaft. Oder die überdurchschnittlichen Sozialleistungen.

Auch deshalb wurde Richterich Anfang Jahr mit dem Swiss Award in der Kategorie Wirtschaft ausgezeichnet. Zu der feierlichen Verleihung nahm er Kohler mit – Anerkennung für dessen Anteil am Erfolg. Aus dem Umfeld der Firma heisst es, Kohler zähle nach all den Jahren fast schon zur Familie.

Jetzt ist er tot, hinterlässt zwei erwachsene Kinder, eine Ehefrau – und viele offene Fragen.

Am Donnerstagmorgen, kurz nachdem der Lokführer Alarm geschlagen hatte, rückte auf dem Lagergelände in Laufen die Polizei ein. Sie brachte Spürhunde mit. Die Beamten, bewaffnet, trugen volle Montur. Arbeiter der Frühschicht wiesen sie an, im Gebäude zu bleiben. Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft hatte «vage Hinweise aus dem Umfeld der Person, dass sie vielleicht eine unbedachte Handlung zuungunsten der Firma hätte machen könne», sagt Sprecher Michael Lutz. Gemeint ist Kohler. Der Hinweis «bestätigte sich in der Folge nicht», sagt Lutz. Beim Polizeieinsatz handelte es sich um eine Suchaktion, sagt Ricola-Sprecher Bernhard Christen. «Weder die Familie noch wir wussten, wo sich Adrian Kohler aufhielt. Deshalb wandten wir uns an die Polizei.»

Zwei Tage vor dem Suizid, am Dienstag, fand bei Ricola eine brisante Sitzung statt. «Adrian Kohler hat den Verwaltungsrat darüber informiert, dass es zu kleineren Unregelmässigkeiten im finanziellen Bereich gekommen ist», sagt Sprecher Christen. «Er hat dieses Thema von sich aus zur Sprache gebracht.»

Derzeit lägen «keine Hinweise auf Unterschlagung oder Veruntreuung vor», betont Christen. Die finanzielle Basis der Firma Ricola sei «in keiner Weise in ­Frage gestellt». Ob es zwischen den von Kohler angesprochenen Unregelmässigkeiten und seinem Tod einen Zusammenhang gebe, «können wir momentan nicht sagen», sagt Christen.

Unklar ist, ob Kohler nach der Sitzung vom Dienstag freigestellt worden ist. Nach Firmenangaben hat es keine «definitive Entlassung oder Suspendierung» ge­geben. Zu der Frage, ob provisorische Massnahmen gegen Kohler verhängt wurden, gibt es keine Auskunft.

Am Tag nach seinem Tod wurde Kohler in der Medienmitteilung von Ricola explizit gelobt: «Er hat das Unternehmen mit grosser Umsicht und Sorgfalt erfolgreich geführt.»

In Laufen, wo Kohler aufwuchs und zur Schule ging, kann man den Selbstmord nicht verstehen. Die Ricola-Chef war beliebt. «Es hat mir imponiert, dass er so bodenständig und freundlich geblieben ist», sagt der Wirt des Restaurants Tännli, Urs Fleury, der mit Kohler die Schulbank drückte. Täglich kam der Manager am Tännli vorbei, grüsste freundlich. Anfang Woche sah Fleury den Schulfreund ein letztes Mal. Dass er traurig oder gar depressiv wirkte, kann er nicht sagen. Mit dem Freitod Kohlers hätte er «nie gerechnet».