Als der Harlekin übernahm

Mit Christoph Blochers Rückkehr nach Bern beginnt der letzte Akt eines grossen Dramas – er gegen Eveline Widmer-Schlumpf.

Von Peter Hossli

Gleise der Rhätischen Bahn trennen die feindlichen Lager der Schweizer Politik, parallel dazu die Autobahn, dann der eiskalte Rhein. Eine Brücke muss überqueren, wer vom Bündner Dorf Domat/Ems ins Dörfchen Felsberg gelangen will. Ein tagsüber fast menschenleerer Ort, der kurz vor Mittag auflebt, wenn Schulkinder nach Hause schlendern.

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf lebt hier.

Nebenan, in Domat/Ems, stehen stolz die Werksgebäude der Ems Chemie, aus der Christoph Blocher ­einen Weltkonzern schuf.

Hier, im Schatten des Calanda, spielt die packendste Geschichte der jüngeren Schweizer Politik.

Eine Geschichte, die alles hat, was ein Drama zum Klassiker erhebt – den kleinräumigen Handlungsort, eine Familienfehde, Abhängigkeiten, eine langjährige Beziehung, Aufstieg und Fall – und dann der Bruch. Jetzt, im wohl letzten Akt, der Versuch der Rache.

Vor vier Jahren erteilte Widmer-Schlumpf ihm eine Abfuhr, liess sich auf Blochers Kosten in den Bundesrat wählen. Nun ist er zurück im Parlament. Mit einem Ziel – ihre Abwahl.

Ein Dorf – Ems – steht hinter ihm, das andere – Felsberg – hinter ihr. Aus­ser jenen, die in Felsberg wohnen, aber seit Jahren bei der Chemie arbeiten.

Es sei «ein Drama, wie es Shakespeare nicht besser hätte schreiben können», sagt ein altgedienter Politiker, der beide gut kennt und in Bern wichtige Posten belegte.

Aufeinander prallen zwei brillante Köpfe, die Macht mögen, und die sie auch wollen. Der eine ein hemdsärmeliger Patron, die andere eine zähe Analytikern.

Jahrelang politisierten sie nebeneinander. Ihr Vater, alt Bundesrat Leon Schlumpf, hatte die SVP mitbegründet, Blocher sie mit Geld zur Blüte gebracht. Sie waren in Graubünden abhängig vonei­nander, sie als Regierungsrätin, er als Unternehmer.

Dann kam der Bruch.

Zutiefst verletzt hätte ihn die Abwahl im Dezember 2007. Tiefer als er je zugeben werde. «Blessé» sei er, sagt ein Politiker, verwundet wie angeschossenes Wild. Ebenso verletzt sei Silvia Blocher, Ehefrau und engste Vertraute, die ihn stützt und antreibt.

Nicht verstehen kann er – wie Silvia –, warum seine Mission abrupt endete. Wie er, das «animal politique», der Jahrhundertpolitiker, einer so simplen Intrige zum Opfer fallen konnte.

Wie er das nicht geahnt hatte. Wie ihn seine Gegner trotz historischen Wahlsiegs der SVP 2007 einfach abserviert hatten – mit ­einem Komplott, das die Nachbarin und Partnerin zwar nicht schmiedete, sich aber doch daran beteiligte.

Er, der grösste private Arbeitgeber im finanzschwachen Bündnerland, der stets gut war zu den Bündnern, korrekt zu seinen Arbeitern, war von Bündnern abgeschossen worden.

Von einer Regierungsrätin, deren Lohn er mit seinen Steuern bezahlt, deren Stimmen sie von seinen Angestellten erhalten hatte.

Weil ihm die Zukunft der Schweiz am Herzen liegt – und weil er diese Schmach nie überwunden hat, wollen Personen aus seinem Umfeld wissen, hat er sich nochmals in ein politisches Amt wählen lassen.

Warnungen, er und die Partei hätten erreicht, was zu erreichen ist, wischte er weg. Die Verletzung besiegte die Ratio.

Ein letzter Triumph wolle er feiern – am 14. Dezember, wenn das Parlament den Bundesrat neu bestellt, will er im Saal sitzen, live dabei sein, klatschen, wenn Eveline Widmer-Schlumpf (55) die Abwahl widerfährt und sie damit eine Abfuhr erhält. Eine, wie er sie erhalten hatte.

Für Blocher (71) sei ihr Abgang wichtiger als ein zweiter Sitz im Bundesrat für die SVP.

Nie hätte sie sich für diese Intrige zur Verfügung stellen dürfen, ist seine Meinung. Um den Verrat zu sühnen – auch deshalb begab sich Blocher erneut auf die Ochsentour ­eines Wahlkampfs.

Egal, dass dieses Comeback nicht der schweizerischen Tradition des stillen Rückzugs entspricht.

Darüber reden will er nicht. «Die Abwahl vor vier Jahren ist für Herrn Blocher kein Thema», sagt sein Sprecher Livio Zanolari. «Im Zent­rum seiner Arbeit steht die sachliche Politik und vor allem das Schicksal der ganzen Schweiz in der EU-Frage.»

Blocher war der Familie Schlumpf bereits vor Jahren unheimlich geworden. Ein Zürcher Zuwanderer, kein richtiger Bündner, der im Nachbardorf immer reicher, dann mächtiger wurde. In der Region, in der Partei, in der ganzen Schweiz.

Als Leon Schlumpf 1987 aus dem Bundesrat zurücktrat, setzte er auf Adolf Ogi. Der Berner Oberländer würde Blocher stoppen.

Doch niemand stoppt Blocher. Er stieg weiter auf, trieb die einst unbedeutende SVP zur stärksten Macht im Land. Was bei Schlumpf und Tochter Eveline das Unbehagen zusätzlich förderte. So viel Macht darf ­einer nicht haben. Die beiden sachlich politisierenden Felsberger mochten die Rüpelpolitik nicht, die lauten Kampagnen aus Zürich gegen die Ausländer und für die Isolation.

Die aggressiven Wahlplakate der SVP widerten den behäbigen Handörgeli-Spieler Leon Schlumpf an.

Dazu sagen will Widmer-Schlumpf nichts. Fest steht: Es kam ihre Chance, national an Einfluss zu gewinnen.

Ihre zierliche Erscheinung täuscht. Ein Energiebündel ist sie, ebenfalls getrieben von der Freude an der Macht. Sie lenkte ein, als SP-Nationalrat und Biobauer Andrea Hämmerle sie kurz vor Blochers Sturz angefragt hatte, ob sie sich wählen liesse. Würde sie das Parlament wirklich zur Bundesrätin küren, signalisierte sie, nimmt sie an.

Vom Friedhof der reformierten Kirche Felsberg geht der Blick über einen Teppich bunter Herbstblätter aufs katholische Domat/Ems. Ging früher ein Emser über die Brücke nach Felsberg, hänselten die Protestanten den Katholiken. Noch in den Sechzigerjahren bewarfen sich Emser und Felsberger gelegentlich mit Steinen.

Heute löschen die beiden Feuerwehren gemeinsam Brände. Musiklehrer unterrichten Kinder aus beiden Dörfern. Gläubige beider Gemeinden beten vereint.

Wie in der Silvesternacht Ende 2006 in der Kirche Felsberg. Links im Kirchenschiff, auf der Frauenseite, sass Eveline Widmer-Schlumpf, Regierungsrätin und Bundesratstochter. Vorne musizierten ihr Sohn und ihre Tochter. Christoph Blocher betrat mit Gattin Silvia und einer Enkelin das schlichte Haus Gottes. Aus Domat/Ems war der damalige Bundesrat angefahren. Wie jedes Jahr hatte er der Belegschaft der Ems Chemie am Kehraustag seine Wünsche überbracht.

Die Predigt hielt Pfarrer Fadri Ratti. «Seht, ich schaffe Neues», sprach er von der Kanzel. «Schon spriesst es, erkennt ihr es nicht?»

Später spekulierten Kirchenblätter, hinter Blochers Abwahl sei womöglich göttliche Fügung gestanden.

Ende 2007 räumte Blocher das Büro in Bern. «Den Holzfäller» von Maler Ferdinand Hodler, sein Eigentum, liess er abhängen.
Widmer-Schlumpf setzte eine subtilere künstlerische Note, mit einem bunten und melancholischen «Harlekin» von Alois Carigiet, ­einer Leihgabe aus Chur.

Fortan musste Blocher zusehen, wie sich die fleissige Nachfolgerin den Respekt der Kollegen erarbeitete, wie das Volk sie schätzen lernte. Wie sie eine populäre Bundesrätin wurde – obwohl sie mehr spröde ist als charismatisch wirkt.

Sie hat etwas vorzuweisen. Ohne sie wäre der US-Steuerdeal der UBS gescheitert. Ebenso die Abgeltungssteuer mit Deutschland.

Laut Umfragen wollen 68 Prozent der Schweizer sie im Bundesrat belassen.

Sie weiss aber – in der Schweiz werden Bundesräte nicht gewählt, weil sie gut sind, sondern aufgrund gewonnener Prozente bei Wahlen. Ihre Partei, die BDP, gehört zwar zu den Wahlsiegern, hat aber nur fünf Prozent der Stimmen – rechnerisch zu wenig für einen Sitz im Bundesrat.

Gelassen schaue sie auf den 14. Dezember, heisst es aus ihrem Umfeld. Sie brauche das Amt des Bundesrats nicht. Werde sie abgewählt, wechsle sie halt, gegen ein besseres Salär, zur Bündner Kantonalbank.

Wer sie wirklich kennt, widerspricht. Widmer-Schlumpf klammere sich an den Bundesratsitz, an das einflussreichste politische Amt im Land. Sie mag den Job.

Eine Abwahl, ist ihr klar, würde einen langen Schatten auf ihre Biografie werfen. Hängen bliebe bloss die Intrige.