Stimmts, Herr Stimmenzähler?

16 000 Wahlhelfer stehen heute im Dienste der Demokratie. Einer von ihnen erklärt, warum Schummeln praktisch unmöglich ist.

Von Peter Hossli (Text) und Jorma Müller (Foto)

bruno_eberleLeicht zerknittert sind die Zettel, die vor Bruno Eberle liegen. Aufmerksam beäugt er jeden einzelnen. Von Hand beschriebene Blätter legt er links zur Seite, unveränderte rechts. Danach schichtet er daraus Häufchen mit jeweils 50 der leicht zerknitterten Zettel.

Es ist Samstagmorgen und Eberle bereinigt Wahllisten im Rathaus der Stadt St. Gallen. Wie er dies seit 38 Jahren an Wochenenden mit Wahlen und Abstimmungen tut.

Der pensionierte Bänkler ist einer von rund 16 000 freiwilligen Wahlhelfern, die gestern und heute die Demokratie in der Schweiz ermöglichen. Sie werten den Willen der rund 2,5 Millionen Stimmberechtigten aus, die wirklich wählen gehen. Stapeln, sortieren, scannen und – zählen Wahlzettel. Dank ihnen ist heute Abend schon klar, welche Partei im Dezember wie viele National- und Ständeräte ins Bundeshaus schicken kann.

Aus «Lust an der Politik» zählt Eberle (59). Und weil er ein echter Demokrat ist. «Es ist wichtig, dass jede gültige Stimme gezählt wird.» Seine politische Gesinnung? «Am Wahltag muss der Stimmenzähler neutral sein.»

Mit ehrverletzenden Worten versudelte Listen erklärt er für ungültig. Sätze wie «Wählen ist sauteuer» toleriert er. Beschimpfungen einzelner Kandidaten lässt er nie durchgehen. Stehen auf einer Liste mehr als zwölf Namen – die Anzahl St. Galler Sitze im Nationalrat – streicht er die überzähligen von unten weg. Hat eine Wählerin einen Namen zwar richtig eingetragen, sich aber bei der Kandidatennummer geirrt, korrigiert er die Nummer. Stets eine Frage leite ihn: «Was war der Wille des Wählers?»

Nicht der Bund, die 26 Kantone und die 2551 Schweizer Gemeinden führen die Wahlen durch. Für Zürich – den bevölkerungsreichsten Kanton – zählen 2500 Personen. In Bern sind es 600, wovon 60 vollamtlich bei der Stadt arbeiten. Zugelassen sind in der Regel Schweizer im Alter von 18 bis 70 oder gar 75 Jahren.

Hundert Personen zählen in St. Gallen. Sie öffnen alle Couverts, die im Rathaus eintreffen – mehr als 95 Prozent per Post, der Rest über Urnen. Zuerst überprüfen die Zähler die Gültigkeit der Wahlzettel. Fehlt die Unterschrift auf einem Wahlausweis, scheidet das dazugehörige Couvert aus. Ebenso, wenn mehrere Listen beiliegen, oder eine Liste verunstaltet ankommt.

Durch Notenzählmaschinen rattern alle unveränderten Zettel. Wahlhelfer tragen die Namen von Kandidaten und Parteien der abgeänderten Listen im Computer ein.

Laufend übermittelt das Stimmbüro die eruierten Daten an die Verwaltungsrechenzentrum AG. Die Ostschweizer Firma berechnet heute Sonntag die Wahlresultate von einer Million Schweizern. Gemeinden und Kantone publizieren sie online. Erst als Hochrechnungen, dann als Schlussresultate. Die letzten Resultate sollten gegen Abend um 22 Uhr vorliegen.

Nach der RS trat Eberle dem Landesring der Unabhängigen (LdU) bei, der Partei von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler. Damals stellten die Parteien die Stimmenzähler im Verhältnis ihrer Wähleranteile.

Als Eberle 1973 erstmals zählte, bekam er 20 Franken pro Tag. Kollegen berichteten, wie sie noch für einen Fünfliber im alten Rathaus 50er-Häufchen schichteten. Heute zahlt St. Gallen 100 Franken pro Tag, eher wenig im eidgenössischen Vergleich. Wettingen im Ostaargau etwa entlöhnt seine 67 Stimmenzähler mit 30 Franken pro Stunde. Sogar 40 Franken stündlich bringt der Dienst am Sonntag.

Gewandelt hat sich die verabreichte Kost. Assen Eberle und seine Zählkumpane einst auf Staatskosten ausgiebig zu Mittag, mit Suppe und Salat, Haupt- und Nachspeise, dazu ein Dreier Kalterer, gibts dieses Jahr ein Sandwich und eine Flasche Mineralwasser, in der Pause ein Espresso. «Alkohol ist beim Zählen verpönt», sagt Eberle. Früher störten Promille beim Ermitteln der Prozente weniger.

Mit Strichlisten behalf sich Eberle jahrelang bei Nationalratswahlen. Seit Ende der Achtzigerjahre erleichtern Computer die Aufschlüsselung kumulierter Wahllisten. Bei Ja- und Nein-Abstimmungen zählen Scanner aus. Nicht mehr Faxgeräte, schnelle Leitungen übermitteln nun Resultate.

Das Gros der Arbeit erledigen die Wahlhelfer jedoch von Hand. Gerade deshalb seien die Chancen zum Schummeln sehr gering, sagt Eberle. Durch zu viele Hände gehen die Zettel, zu viele Augen schauen zu.

Vier Personen sitzen gemeinsam am Tisch, packen Couverts aus. «Jeder kontrolliert jeden», sagt Eberle. Stets zwei Wahlhelfer sortieren Listen. Zu zweit erfassen sie die Wahlzettel am Bildschirm. Einer tippt, der andere diktiert. Oft werden die Paare ausgewechselt.

Zusätzlich überprüfen dieses Jahr acht OECD-Beobachter aus sieben Ländern, ob die Schweiz wirklich demokratisch wählt.

Bereits bei den nächsten nationalen Wahlen 2015 wählt die Mehrheit der Schweizer wohl elektronisch – was das Zählen erleichtern, Betrüger aber beflügeln dürfte.

Eberle befürwortet E-Voting, aber er warnt: «Es ist einfacher, Software zu manipulieren als Papierzettel falsch zu zählen.»