Wir weigern uns, Angst zu haben

Die Cops in New York schlürfen heute dünnen Kaffee aus Plastikbechern und hoffen, dass nichts passiert. So wie jeder in der Stadt mit der Narbe.

Von Peter Hossli

wall_streetAm Vorabend des zehnten Jahrestags von 9/11 wendet sich US­-Präsident Barack Obama ans Volk. «Die USA sind heute stärker, Al Kaida steht vor der Niederlage», sagt er in der wöchentlichen Ansprache. «Als Amerikaner weigern wir uns, Angst zu haben.»

Wenig wirken die beruhigenden Worte an der Südspitze von Manhattan. Ein weisser Lieferwagen biegt von der William Street auf die Wall Street ein, unweit der Börse. «Halt», ruft einer der fünf Polizisten an der Kreuzung. Er trägt eine kugelsichere Weste. Ein bleicher Kerl mit strähnigem Haar steigt aus und öffnet den Laderaum. Ein Labrador springt rein, schnüffelt nach Sprengstoff. Der Hund findet Tomaten und Eisbergsalate. «Drehen Sie um, die Strasse ist gesperrt», sagt der Polizist.

Einer Festung ähnelt New York. Vor Brücken und Tunneln stoppt die Polizei Autos. Wer die Subway benutzt, muss die Tasche öffnen. Beamte suchen Fähren, Hotels und Parkgaragen nach Bomben ab. Vor bedeutenden Gebäuden stehen martialisch anmutende Cops mit geladenen Maschinenpistolen. «Kein Polizist hat heute frei», sagt Polizeichef Raymond Kelly (70). «Lockdown», titelt die «Daily News» – «vollständige Abriegelung». Am Himmel kreisen Helikopter.

Sicherheit demonstriere die Polizei, sagt New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg (69). Nichts dürfe passieren. Er beruhigt: «Ich fahre mit der Subway zur Arbeit.»

Nervös ist die 8-Millionen-Metropole wegen einer Warnung aus Pakistan. Islamische Terroristen sollen beabsichtigen, in New York und Washington Autobomben zu zünden. Die Quelle sei stets «zuverlässig» gewesen, sagen die Behörden. Angeblich reisten zwei US­Bürger arabischer Herkunft letzte Woche aus Afghanistan in die USA. «Machen wir keinen Fehler: Sie werden versuchen, uns erneut zu schlagen», sagt Obama.

subwayAus «zweiter und dritter Hand» stamme der Tipp, zitiert die «New York Times» einen Sicherheitsexperten der US­Regierung. Wohl daher wirkt die Polizei entspannt. Die Cops an der Wall Street trinken aus Papierbechern dünnen Kaffee mit reichlich Zucker, beäugen Touristinnen mit Trägerleibchen. Die Angst geht nicht um. Die Bars sind abends voll. Wie immer essen die New Yor- ker auswärts, besuchen Musicals und spielen Baseball. Sie wissen mit Drohungen umzugehen.

Und sie lassen sich den besonderen Tag nicht verderben. Die Stadt hat sich herausgeputzt. Die Parkanlagen entlang von Hudson und East River scheinen sauberer als sonst. Müllmänner schieben Überstunden. Die Auslagen der Modegeschäfte entlang der Madison Avenue sind neu dekoriert. Auf der Brooklyn Bridge und am New York Stock Exchange flattern Sternenbanner – wie stets zu dieser Zeit auf Halbmast.

Am Fernsehen ist zu sehen, wie Präsident Obama mit Gattin Michelle in Shanksville, Pennsylvania eine Gedenkstätte einweihen. Vor zehn Jahren war hier die Maschine von Flug 93 in ein offenes Feld gestürzt.

Seit Tagen richten Fernsehstationen ihre Kameras auf Ground Zero. Statt im Studio lesen Moderatoren die Nachrichten von hier aus. Berührend berichtet CNN über Kinder, die an 9/11 ihre Väter verloren hatten. Autoren beschwören in Essays die unvergleichliche Kraft der New Yorker, sich nach Katastrophen wieder aufzubäumen.

Für «Time» lichtete der Fotograf Schweizer Marco Grob die zentralen Figuren von damals ab – Bush, Cheney, Rumsfeld, dazu Künstler, Soldatinnen, Feuerwehrleute. Eine Ausstellung zu 9/11 hat die «New York Times» in der Lobby des Hauptsitzes am Times Square eingerich tet. Ansonsten berichtet das Weltblatt mehrheitlich über die prekäre wirtschaftliche Lage im Land.

An der Baustelle bei Ground Zeros starren Touristen die glitzernden Stahl-und Glastürme an, die zum Himmel wachsen. Bereits 80 Stockwerke hoch ist das World Trade Center 1. Noch fehlen zwanzig, dann ist das höchste Gebäude New Yorks fertig. «Es war falsch, am Ground Zero Bürotürme zu bauen», sagt Ex­Bürgermeister Rudolph Giuliani (67). «An dieser heiligen Stätte haben Geschäfte nichts verloren.»

torresLängst nicht die einzige Kontroverse. Einige New Yorker fühlen sich ausgeschlossen, da am Sonntag nur Angehörige der Opfer geladen sind. Andere halten das Brimborium für übertrieben. Religiöse Kreise schmollen, da Bloomberg weder Priester, Rabbiner noch Imame an den Feiern wollte.

Ein paar Meilen entfernt von Ground Zero nimmt der Alltag seinen Lauf. Eltern klagen in Brooklyn über schlechte Schulen. Kleinkriminelle rauben Läden aus. Bettwanzen befallen Schlafzimmer. Viele haben die Stadt verlassen, sind ein letztes Mal an den Strand gefahren, wollen in Ruhe trauern.

Im Norden der Stadt drohen Überschwemmungen. Zumal es tagelang geregnet hat. So klar wie vor zehn Jahren, wissen die Meteorologen, wird es am 11. September nicht sein. «Grau, kalt, vielleicht Regen»,
lautet die Prognose. Wetter, um nachzudenken.