“Das ist alles eine grosse Lüge”

Der Botschafter der iranischen Mullahs in Bern über Gaddafi – und das gestörte Verhältnis seines Landes zur Schweiz.

Von Peter Hossli (Interview) und Philipp Zinniker (Fotos)

salari2Herr Botschafter, Muslime massakrieren in Libyen Muslime. Wer soll das stoppen?
Alireza Salari: Alle müssen sich jetzt zurückhalten. Und wir müssen sofort aufhören, die Diktatoren zu unterstützen. Verantwortlich für das Chaos sind Grossmächte, die seit Jahrzehnten Despoten helfen.

Ein bekanntes Argument. Das Volk scheint anderer Meinung zu sein. Amerikanische Flaggen brennen keine.
Weil Kolonialisten vortäuschen, dem Volk zu helfen, die Diktatoren zu verjagen.

Droht in Libyen ein zweites Ruanda mit Tausenden von Toten?
Das ist zu befürchten. Deshalb müssen die Diktatoren durch echte Demokratien ersetzt werden.

Alle wollen Demokratie. Zuerst geht es aber darum, das Töten zu stoppen. Die Nato überlegt sich, in Libyen zu intervenieren.
Das würde die Lage zusätzlich verschlimmern. Ausländer müssen jetzt aussen vor bleiben, sonst richten Sie ein noch grösseres Blutbad an. Die Menschen sollen selber entscheiden, welche Staatsform sie erhalten.

Was raten Sie denn Gaddafi?
Er soll den Willen des Volkes respektieren. Am besten beruft er eine Interimsregierung ein und setzt möglichst rasch Neuwahlen an.

Vermutlich ist Gaddafi bald weg. Mubarak ist nicht mehr Ägyptens Präsident. Ben Ali hat Tunesien verlassen. Warum konnte sich Irans Präsident Ahmadinedschad 2009 bei den Unruhen in Iran an der Macht halten?
Die beiden Situationen sind nicht vergleichbar, mein lieber Freund. Die Unruhen in Iran haben ausländische Mächte geschürt nach den demokratischsten Wahlen in Iran seit 30 Jahren. Das gab es weder in Ägypten noch in Libyen.

salari4Mubarak stellte das Internet ab, weil sich seine Gegner mit Hilfe von Twitter organisierten. Iran blockierte 2009 Websites.
Das machen auch die USA, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist.

Das ist mir neu. Kann Iran den Fluss von Information noch steuern, wenn die Leute twittern?
Iran ist sehr offen für interne Kritik. Die Regierung von Präsident Ahmadinedschad ist die am härtesten kritisierte …

… Regierung der Welt.
Falsch. Die am härtesten kritisierte Regierung in der Geschichte des Iran – und zwar von der eigenen Presse. Wenn das keine Demokratie ist, was ist es sonst?

Eine religiöse Diktatur!
Das kann nicht sein. Jede Diktatur wird von aussen von einer Supermacht unterstützt. Alle Supermächte sind gegen uns.

Das macht Iran noch nicht zur Demokratie.
Nach 30 Jahren Herrschaft des Schahs entschieden sich 98,2 Prozent der Iraner für eine islamische Regierung. Bei den jüngsten Wahlen beteiligten sich 85 Prozent der Iraner. Keine Demokratie der Welt ist beim Volk breiter abgestützt als die iranische.

Was schreiben Sie auf Twitter?
Dafür habe ich leider keine Zeit.

Die EU streitet, wer Flüchtlinge aus Nordafrika aufnehmen soll. Wie viele nimmt Iran?
Iran hat sein Soll erfüllt. Derzeit leben drei Millionen Flüchtlinge bei uns, die meisten aus Afghanistan. Wenn die Europäer mit uns über Flüchtlinge reden wollen, könnten wir uns durchaus vorstellen, an der iranischen Grenze ein Camp zu errichten.

Chaos breitet sich in der Region aus – und ausgerechnet jetzt schickt Iran zwei Kriegsschiffe durch den Suezkanal. Das ist eine Provokation, die von internen Problemen ablenkt.
Wenn das eine Provokation ist, provozieren uns die Amerikaner, Franzosen und Briten seit dem Beginn der Revolution. Deren Flottenverbände kreuzen seither im Persischen Golf. Sogar israelische U-Boote tauchen dort, obwohl sie zu keinem der Golfstaaten Beziehungen unterhalten. Wir haben zwei unbewaffnete Schiffe ins Mittelmeer geschickt, um das befreundete Syrien zu besuchen.

Der Zeitpunkt ist ungeschickt, die Situation hochexplosiv.
Nennen Sie mir einen Moment in den letzten 40 Jahren, der in dieser Region nicht explosiv war.

salari5Iranische Schiffe vor der Küste Israels hat es seit 1979 nicht mehr gegeben.
Dieses Ding, das Sie erwähnen, ist der Hauptgrund für die Unruhen und die Probleme dieser Region.

Warum bezeichnen Sie den Staat Israel als «Ding»?
Weil wir – wie viele andere Länder auch – es nicht anerkennen.

Auf dem Gebiet des heutigen Israel lebten zuerst Juden. Später kamen Christen, noch später Muslime dazu.
Die Juden waren dort, sie sind dort, und sie werden immer dort sein. Viele leben in Iran. Das Judentum ist eine angesehene Religion, ebenso das Christentum. Was in dieser Einheit passiert, entspricht aber nicht der jüdischen Religion. Das Judentum ist gegen staatlich gesponserten Terrorismus, genau wie der Islam.

Der islamische Iran unterstützt terroristische Organisationen wie die Hisbollah in Libanon und die Hamas in Gaza.
Die Hisbollah darf nicht mit Terrorismus gleichgesetzt werden. Die Hisbollah verteidigt das eigene Land.

Also genau wie Israel?
Die Hisbollah besetzt kein anderes Land. Sie zwingt kein Volk, das eigene Land zu verlassen. Die Hisbollah ist ein demokratischer Bestandteil des Libanon.

Iran liefert Waffen an die Hamas, die regelmässig terroristische Akte gegen Israel verüben.
Die Hamas verteidigt das eigene Land. Niemand kritisierte die französische Résistance, weil sie für ihr Land kämpfte.

Israel muss sich zu Recht vor iranischen Atomraketen fürchten. Wie weit ist Ihr nukleares Waffenprogramm?
Seit 25 Jahren sagen Lügner, Iran habe die Bombe in einem, spätestens zwei Jahren. Diese zwei Jahre sind nie gekommen. Ich versichere Ihnen, es gibt keine Beweise, dass Iran eine Atomwaffe entwickelt.

Die Welt glaubt das nicht. Letzte Woche sagte der britische Premier David Cameron, Iran entwickle Nuklearwaffen.
Richten Sie Cameron aus, er soll seine Beweise vorlegen. Es gibt sie nicht. Das sind alles grosse Lügen, um Iran weltweit zu nötigen. Wir wollen friedlich nukleare Energie nutzen.

Iran braucht keine nukleare Energie. Es hat reichlich Öl, Wasserkraft und Solarstrom. Ein KKW kann Iran im Ausland kaufen.
Dieses Argument ist so schlecht, sogar George W. Bush hat es fallen gelassen. Sie können doch von keinem souveränen Staat verlangen, auf moderne Technologie zu verzichten. Russland hat Öl, ebenso die USA. Beide Länder bauen Atomkraftwerke. Die Mehrheit des iranischen Volkes will nuklearen Strom. Die Welt muss das akzeptieren.

Selbst die neutrale Schweiz glaubt Ihnen nicht. Der Bundesrat beschloss im Januar, sich den verschärften EU-Sanktionen gegen Iran anzuschliessen.
Leider dreht das die Beziehungen zwischen den beiden Staaten ins Negative. Wir haben nicht erwartet, dass die unabhängige und neutrale Schweiz den Kolonialisten folgt und auf Mächte hört, die illegale Mittel gegen das unabhängige Iran einsetzen. Das entspricht nicht unserem Bild der sehr schönen Schweiz.

salari11Bis vor kurzem brüstete sich Iran mit einem seit fast 150 Jahren guten Verhältnis zur Schweiz.
Dass sich wegen der illegalen und ungerechten Sanktionen jetzt alles ändert, will ich hier nicht sagen. Wir hoffen aber, dass die Schweizer Regierung selbständig darauf kommt, dass man sich so nicht gegenüber einem anderen neutralen und unabhängigen Land verhalten kann.

Diplomatische Worte. Sind Sie von der Schweiz enttäuscht?
Klar sind wir enttäuscht. Die Sanktionen verletzten die Wiener Konvention schwer. Sie besagt, Botschaften müssten im Gastland alle Bedingungen haben, ihren diplomatischen Auftrag zu erfüllen.

Das geht in Bern nun nicht mehr?
Seit sechs Monaten sind unsere Konten gesperrt. Geldtransfers zwischen Iran und der Schweiz sind unmöglich. Das Personal der iranischen Uno-Mission in Genf wartet seit zwei Monaten auf Lohn. Menschen sterben in Iran.

Wegen der Schweiz?
Weil die Konten blockiert sind. Seit dreissig Jahren kauft Iran für Millionen von Franken über die Berner Botschaft lebensrettende Medikamente. Das ist nun unmöglich. Krebspatienten, die rasch Hilfe benötigen, sterben.

Iran könnte die Medikamente über Drittstaaten beziehen.
Nein. Es sind Schweizer Arzneien, die rasch zu Patienten müssen.

Die Schweiz vermittelt seit Jahren zwischen den USA und Iran. Ist das noch möglich?
Iran und die USA haben der Schweiz stets als neutralen Partner vertraut. Das hat sich jetzt verändert. Der Bundesrat wird aber bestimmt auf den Entscheid zurückkommen.

Die Schweiz sorgt sich um Menschenrechte in Iran. Kein Land richte mehr Jugendliche hin, sagt Human Rights Watch. Warum tötet Iran so viele Jugendliche?
Diese Statistiken sind falsch. Diese Organisation ist nicht unabhängig. Bei Menschenrechten muss man stets die Umstände betrachten.

Ein Menschenrecht ist immer ein absolutes Recht.
Nehmen Sie die USA, ein Staat, der sich als Pionier der Menschenrechte brüstet. Ein einziger Terrorakt mit 2800 Menschen hat alles verändert. Foltern ist jetzt legal, es gibt Guantánamo. Zwei unabhängige Länder wurden besetzt. Hunderttausende Menschen sind bislang gestorben. Es sterben noch mehr.

Sie lenken von der iranischen Situation ab. Pro Tag gibt es in Iran drei Hinrichtungen.
Das stimmt nicht. Wie viele andere Länder, einschliesslich der USA, richten wir Kriminelle hin.

Menschenrechtsorganisationen sagen, Todeskandidaten könnten das Urteil nicht anfechten.
Eine weitere Lüge. Zwischen Urteil und Vollstreckung verstreichen zwischen einem und sechs Jahre. Es ist möglich, ein Todesurteil bis vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen. Iran richtet nur echte Übeltäter hin. Es gibt weltweit kein anderes Land, durch das so viele Drogenschmuggler ziehen wie durch Iran. Bisher sind 4000 Polizisten gestorben im Kampf gegen den Drogenhandel. Das sind Märtyrer, die ihr Leben opfern, um europäische Strassen von Drogen zu befreien.

Human Rights Watch sagt, Iran foltere systematisch.
Bitte beweisen Sie das! Es gibt keine Beweise dafür. Die Situation in Iran ist besser als in den USA, in Abu Ghraib oder Guantánamo.

Es ist in Iran legal, Neunjährige hinzurichten. Was kann ein kleines Mädchen tun, eine solche Strafe zu verdienen?
Diese Frage wollte Salari nicht beantworten.


Seit Mitte 2010 vertritt Alireza Salari Sharifabad (54) als Botschafter die Interessen der Islamischen Republik Iran in Bern. Der promovierte Ingenieur ist ein erfahrener Diplomat. Er hatte diplomatische Posten in Brüssel und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vor seinem Amtsantritt in Bern war er zuständig für die Beziehungen zu den USA. Salari ist verheiratet, hat vier Kinder. Er spricht Farsi und Arabisch sowie Englisch und Französisch.

Die Stellungnahme des Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten: “Das EDA kommentiert diese Äusserungen des iranischen Botschafters in Bern nicht.”

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