Es geht um den Zug

Die US-Flotte markiert im Gelben Meer Stärke. Nordkorea droht weiter. Nur China schweigt – weil es keine Eisenbahn von Seoul nach London will.

Von Peter Hossli

dorasanJeden Morgen, kurz vor acht, öffnet die Kioskfrau ihr Geschäft. Erst säubert sie die Ablagen, dann legt sie neue Zeitungen auf, dazu Schleckstängel, Coca-Cola und amerikanische Zigaretten, Souvenirs für Touristen. Vergebens wartet sie auf Kunden. Abends, kurz vor sechs, schliesst sie den Laden.

Wenig Umsatz erzielt sie, weil ihr Kiosk in der Säulenhalle der Dorasan Station steht. Züge verkehren hier nicht. Dieser modernste Geisterbahnhof der Welt liegt in Südkorea, wenige Hundert Meter entfernt von der Grenze zu Nordkorea. Nur der Wind ist auf den leeren Perrons zu hören. Die Bildschirme für die Fahrpläne bleiben schwarz.

Auch um diesen verwaisten Bahnhof dreht sich die Eskalation auf der koreanischen Halbinsel, erklärt ein europäischer Diplomat in Seoul. China wolle verhindern, dass von der Dorasan Station aus südkoreanische Züge direkt nach Europa rollen. Deshalb stoppe Peking den Terror des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il nicht.

Ein gefährliches Ränkespiel. Ab heute Sonntag übt der US-Flugzeugträger George Washington im Gelben Meer den Seekrieg – die bisher letzte Reaktion auf monatelanges Säbelrasseln des alternden Diktators Kim Jong Il.

Ende März torpedierte eines seiner U-Boote die Cheonan. Das südkoreanische Kriegsschiff brach auseinander und sank. Zusammen mit 46 Marinesoldaten. Im August kaperte der Norden ein südkoreanisches Fischerboot. Mehrmals schossen Grenzwächter auf Wachposten des Südens. Am Dienstag feuerte die nordkoreanische Artillerie auf die südkoreanische Insel Yeonpyeong. Zwei Soldaten und zwei Zivilisten starben, gestern Samstag wurden sie beerdigt. Und Südkoreas Marinechef Yoo Nak Joon drohte, Nordkorea werde «hundert- und tausendfach» büssen.

Analysten spekulieren nun, ob ein neuer Koreakrieg drohe. Weltweit wird gerätselt, warum China den kranken Kim nicht bändigt, obwohl die USA dazu drängen. US-Aussenministerin Hillary Clinton forderte ihren chinesischen Amtskollegen Yang Jiechi telefonisch auf, China solle Nordkoreas Verhalten als «unakzeptabel» verurteilen.

eisenbahnEin Blick auf die Landkarte erklärt vieles. Das Riesenreich wägt derzeit ab, ob ein vereintes Korea die eigene Sicherheit stärkt – oder ein Konkurrent auf dem Weltmarkt wird. Noch ist Nordkorea ein idealer Puffer zur wirtschaftlichen Supermacht Südkorea. Das verriegelte Armenhaus macht den reichen Nachbarn zur Insel ohne Zugang zur eurasischen Landmasse.

Das hilft China. Südkoreanische Autos und Elektronik sind chinesischen Pendants weit überlegen, weiss Peking. Paart sich diese technische Überlegenheit mit günstiger nordkoreanischer Arbeitskraft, schmilzt der chinesische Wettbewerbsvorteil der tiefen Preise.

Zumal koreanische Ware bei der Dorasan Station abgewickelt und per Zug transportiert werden könnte. Alles steht bereit für den Export per Bahn: Lagerhallen, Verladerampen, ein Zollhaus für den Fall eines friedlich getrennten Koreas.

Sobald die Grenze offen ist, rollen von hier aus Züge über die eiserne Seidenstrasse. Auf Schienen gelangen Güter von der koreanischen Halbinsel nach Berlin und Zürich, Paris und sogar nach London. Aus Asien kommen Samsung-Fernseher, Autos von Hyundai, Bauteile für Kernkraftwerke und Mikrochips an Ziele in Europa und Russland, ohne dass sie mehrmals kostspielig von Lastwagen auf Schiffe und wieder auf Lastwagen verladen werden.

Heute exportiert Südkorea rund 95 Prozent seiner Güter übers Meer, den Rest per Flugzeug. Sie umschiffen den indonesischen Archipel, ganz Indien, zwängen sich durch den Suezkanal oder umfahren Afrika. Von fünf auf zwei Wochen würde die Bahn den Transport nach Europa verkürzen. Um einen Drittel schrumpften die Frachtkosten.

Pfeilschnell fahren dereinst Passagierzüge von Rom nach Seoul, werben in der südkoreanischen Hauptstadt Plakate. Ein abenteuerlicher Trip, der in den Dreissigerjahren noch möglich war. Europäische Juden flüchteten damals per Zug von Deutschland nach Korea.

Auch Japan, nach China die zweitgrösste Wirtschaftsmacht Asiens, hofft auf eine Öffnung der Halbinsel. In Tokio liegen Pläne bereit für einen Tunnel unter dem Meer bis nach Südkorea. Eines Tages, träumen die Japaner, rollen Züge von Sapporo bis Schottland.

bushVor kurzem noch schien diese Hoffnung mehr als nur ein kühner Traum. An einem Gipfeltreffen im Jahr 2000 beschlossen Nord- und Südkorea, die Eisenbahnlinie zu öffnen. Spezialisten entfernten auf beiden Seiten Tausende angerosteter Minen vom Koreakrieg.

Der Norden versprach, baufällige Brücken zu flicken. Russland bot an, alte Geleise in Nordkorea zu ersetzen. US-Präsident George W. Bush reiste 2002 ins Grenzgebiet und legte bei der Dorasan Station eine signierte Eisenbahnschwelle.

Vife südkoreanische Ingenieure entwickelten spezielle Lokomotiven und Waggons mit verstellbaren Spurbreiten. Problemlos würden sie so durch Russland rollen, wo der Schienenabstand breiter ist als in China und Westeuropa.

Mitte Mai 2007 bestiegen je hundert Gäste in Nord- und Südkorea einen Personenzug. Sie fuhren 20 Kilometer ins Landesinnere des Nachbarn. An der Grenze reichten sich die Zugchefs die Hände. «Heute beginnt das Herz der koreanischen Halbinsel wieder zu schlagen», sagte Südkoreas Wiedervereinigungsminister Lee Jae Joung. «Diese Züge stehen für Träume, Hoffnungen und die Zukunft der beiden koreanischen Staaten.»

Bald folgten Lastzüge von Süden nach Norden – bis im Dezember 2008 Diktator Kim Jong Il die Schranken wieder schloss. Seither steht die Bahn still. Die Kioskfrau im Bahnhof öffnete weiterhin täglich den Laden. Kunden sind nur Touristen, die mit Tourbussen kommen.