Von Peter Hossli
Hartnäckig hält sich das Bonmot. «Gebt mir eine Million, und ich mache aus einem Kartoffelsack einen Bundesrat.» Käuflich sind Bundesratssitze, besagt das Zitat, planbar auch. Oft gelangen nicht die Besten in die siebenköpfige Regierung, sondern eben die Kartoffelsäcke.
Die Aussage soll vom Zürcher PR-Pionier Rudolf Farner (1917–1984) stammen. Belegen lässt sich das zwar nicht. «Farner war aber bekannt für träfe Sprüche», sagt der heutige Chef von Farner PR, Christian König. «Er würde die Aussage zumindest nicht dementieren.»
Stimmt sie? «Farner selbst wusste, dass in der Schweiz die Ämter nicht käuflich sind», sagt König. «Mit Geld läuft das nicht.»
Wie sonst? Wer macht die Bundesräte, zieht im Land die Strippen, wer sind die echten Königsmacher? «Es gibt keine Nomenklatura, die im Hintergrund alles steuert», sagt König. Als «ziemlich diffus» beschreibt er den Prozess, der am Mittwoch mit der Wahl zwei neuer Mitglieder des Bundesrats endet.
Diffuser als «damals», «früher», vor zwanzig, dreissig Jahren, als die Redaktoren der NZZ noch in den Fraktionssitzungen der FDP sassen. Als Banker öfter vom Paradeplatz ins Bundeshaus anriefen. Wirtschaftskapitäne morgens in Bern hockten und «nachmittags in Zürich sagten, was zu tun ist», wie Ex-SP-Präsident Peter Bodemann erzählt. Verbände der Wirtschaft, des Gewerbes, der Bauern stellten das Gros der Parlamentarier. Es gab strikte Wahldevisen. Die alle befolgten.
Das ist passé. Big Business hat sich abgewendet von der nationalen Politik. Für Nestlé und Novartis, CS und UBS sind Geschäfte in Peking einträglicher als in Payerne. Nicht mehr vorwiegend erfahrene und gut vernetzte Berufsleute sitzen in der Bundesversammlung. Telegene Junge sind nachgerückt. Die Politik ist ihr Beruf und ihr einziges Netz. Folglich bröckelt das einst enge Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Parlament.
Die meisten Bundesräte sind Zufallsprodukte. «Chancen hat, wer zum richtigen Zeitpunkt das richtige Profil mitbringt», sagt Wirtschaftsberater Hugo Schittenhelm, vormals Pressesprecher von Moritz Leuenberger. Stimmen muss die Herkunft, die Partei, das Alter, das Geschlecht. «Glückliche Konstellationen spielen oft eine grössere Rolle als der reine Leistungsausweis – oder die Königsmacher», sagt Ruedi Christen, einst Informationschef der Bundesräte Cotti und Deiss.
Jahrelang harren Parlamentarier aus – bis eine oder einer wie sie gefragt ist. Still und heimlich hoffen sie. «Die meisten National- und Ständeräte träumen vom Bundesrat», sagt Schittenhelm. «Öffentlich sagt das keiner.» Machthunger ziemt sich nicht in der Schweiz. Streben kommen nicht an.
Wann aber haben Strippenzieher wirklich das Sagen? «Beim Chaos», sagt Schittenhelm. «Bei krisenartigen, unübersichtlichen Wahlen erhalten sie viel Gewicht.» Wie vor drei Jahren, als viele Parlamentarier genug hatten von Bundesrat Christoph Blocher. Eine Abwahl sieht das System jedoch nicht vor. Eine Person musste her, die anstelle Blochers das Stimmenmehr erhalten würde.
Andrea Hämmerle fand sie. Der Biobauer und SP-Nationalrat aus Graubünden war der Strippenzieher bei der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf. Dazu steht er. «Mir missfällt das Wort Strippenzieher», sagt Hämmerle. «Ich habe bei Widmer-Schlumpf eine wichtige Rolle gespielt.» Er schlug sie vor, stellte den Kontakt her. War überzeugt, die Bündnerin werde annehmen, wenn das Parlament sie wählt.
Ist Hämmerle nun erneut Königsmacher? «Chabis», sagt er. «Wir haben eine völlig andere Situation, das wird eine ganz normale Wahl.» Nicht jede Bundesratswahl sei ein Duell vom Kaliber Blocher gegen Widmer-Schlumpf. «Obwohl das schon attraktiv war.»
Heuer fallen die Entscheide in den Fraktionen, sagt Hämmerle. Nicht allmächtige Königsmacher, kleinere Weibler werben in National- und Ständerat für ihre Favoriten. Der Luzerner Nationalrat Otto Ineichen etwa puscht den Berner FDP-Mann Johann Schneider-Ammann, «weil er wirklich begreift, dass der schwache Euro die derzeit grösste Herausforderung für die Schweiz ist».
Äussere Mächte bleiben draussen. «Der Einfluss vieler Kreise schrumpft», sagt Hämmerle, «rechts wie links.» Der Wirtschaftsverband Economiesuisse? «Kein Einfluss.» Die Umweltorganisationen? «Spielen keine Rolle.» Die Gewerkschaften? «Jedes Gewerkschaftsmitglied im Parlament hat eine Stimme.» Am Mittwoch werden zwei der vier offiziellen Kandidaten von SP und FDP gewählt, sagt Hämmerle. Die Wahldevisen geben die Fraktions- und Parteichefs aus.
Was, wenn in der Nacht der langen Messer doch noch was geschieht? Wenn ein paar Räte an einer gemütlichen Berner Bar ein letztes Päckli schnüren? «Diese Nacht ist eine Legende», sagt Hämmerle. Zwar seien fast alle Parlamentarier unterwegs, «aber die Würfel sind dann bereits gefallen». Er selbst lag in der Nacht vor Blochers Abwahl verschnupft im Bett. «Meine Arbeit war ja erledigt.»
Bescheiden und leise sind schweizerische Königsmacher. Aber es gibt sie. Dem basellandschaftlichen FDP-Nationalrat Felix Auer etwa gelang es, 1983 anstelle von Lilian Uchtenhagen den SP-Mann Otto Stich zum Nachfolger von Willi Ritschard zu küren. «Wir wollten Uchtenhagen nicht», sagt heute der 85-jährige Auer. «Mir fiel Otti ein, ich rief ihn an und sagte: ‹Zieh beim Telefon den Stecker raus, du bist morgen Bundesrat.›»
Der Zürcher Unternehmer Ulrich Bremi machte ein Jahr später Elisabeth Kopp – und bescherte der FDP die erste Frau im Bundesrat.
Als im März 1993 der Neuenburger Francis Matthey statt der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner den Zuschlag erhielt, drängte SP-Chef Bodenmann Matthey, die Wahl abzulehnen. Königsmacher Bodenmann heute: «André Daguet und ich reisten zu Matthey, in seiner Küche sagten wir: ‹Du darfst nicht annehmen.›» Matthey gehorchte.
Eine Rede im Ständerat fiel am Paradeplatz auf. Gehalten hatte sie ein spröder Appenzeller namens Hans-Rudolf Merz. Sachkundig trat der Finanzpolitiker auf, beschlagen mit liberalem Gedankengut, viel Sinn für Wettbewerb. «Ein Mann für uns», dachten die Banker und ihre Lobbyisten. Zwei Jahre lang bauten sie Merz gezielt auf, streuten seinen Namen, überzeugten Zweifler, bedrängten Kritiker – bis zur Wahl im Dezember 2003.
Ein anderer Banker trieb Blochers Wahl voran: Marcel Ospel, einst UBS-Chef. «Ospel hat für Blocher bei bürgerlichen Parlamentariern aktiv lobbyiert», sagt Berater Schittenhelm. Im Alleingang brachte er die Wahl jedoch nicht durch. «Dafür war er wohl zu unpolitisch.» Sicherlich «ein Mann der Hochfinanz» werde Bundesrat Blocher sein, verbreitete der Basler Banker inner- wie ausserhalb des Parlaments. «Ospel hat so zum Klima beigetragen, in dem Blocher wählbar wurde.»
Ein Coup, «der nicht aufging», sagt Bodenmann. «Das Finanzkapital holte Blocher und Merz in den Bundesrat und ist damit gescheitert, einer wurde abgewählt, der andere verschwindet jetzt durch die Hintertüre.»
Deshalb hält sich die Finanzbranche dieses Jahr aus den Bundesratswahlen wohl heraus.
Ein Büro im Bundeshaus belegte einst der Präsident des Wirtschaftsverbands Vorort. Vom «Verbandsstaat Schweiz» war damals noch die Rede. «Heute können die Verbände keinen Bundesrat mehr machen», sagt Ex-FDP-Generalsekretär Christian Kauter. «Ihre Macht ist geschwunden.»
Doch da sind sie noch. Letzten Dienstag etwa lud der Schweizerische Gewerbeverband die offiziellen Kandidaten zum Abendessen. Der mächtigste Verband vertritt rund 300 000 kleinere und mittlere Firmen. Sechzig seiner Mitglieder wählen die Bundesräte mit.
Der Einladung legte Verbandspräsident und SVP-Nationalrat Bruno Zuppiger ein Blatt bei, vier Fragen, die das Gewerbe bewegt: Energie, Kosten neuer Gesetze, Sozialwerke und Bildung. Hinter verschlossenen Türen legten die Kandidaten ihre Standpunkte dar.
Die Gewerbler bildeten sich eine Meinung, trugen sie zurück in die Fraktionen – und werben seither für ihren Favoriten. Ein echter Strippenzieher ist Zuppiger aber nicht. Sachfragen sind ihm wichtiger. Bei Abstimmungen engagiert sich der Gewerbeverband direkter als bei Wahlen. Zumal es strategisch höchst ungeschickt wäre, sich im Vorfeld auf eine Person festzulegen. Tickt sie anders als erwartet, haben die Supporter Pech. Wird ein anderer gewählt, sind sie bereits im Hintertreffen.
Abstimmungen seien der Economiesuisse wichtiger als Wahlen, sagt deren Chef Pascal Gentinetta. «Wir stehen zur Konkordanz und sagen, wir wollen wirtschaftsfreundliche Bundesräte, aber Namen nennen wir nicht.»
Eine Position, die beide Grossbanken nach dem Merz- und Blocher-Debakel teilen, öffentlich aber nicht aussprechen. Ihre Lobbyorganisation, die Bankiervereinigung, übt Einfluss auf der Stufe der Chefbeamten, nicht bei den Chefs. Erfolgreich lobbyierte sie unlängst etwa für die Schaffung des neuen Staatssekretariats beim Finanzdepartement – mit ihrem Kandidaten Michael Ambühl an der Spitze.
Die Bankiervereinigung lässt die Parteien wissen, wen sie sich im Bundesrat vorstellen könnte. Wen nicht. Pflegt Kontakte, formell und informell. Allzu gross ist das Interesse jedoch nicht. Bundeshaus und Paradeplatz haben sich zu parallelen Welten entfremdet. Gar von «einer A- und der B-Schweiz» spricht PR-Mann Klaus J. Stöhlker.
Von der internationalen Schweiz, die weltweit geschäftet, aber zur eingeigelten Schweiz kaum noch Berührungspunkte hat.
Banker lesen das «Wall Street Journal», die «Financial Times». Zufällig nur öffnen sie nationale Zeitungen. Für Nationalräte sind NZZ, BLICK und «Tages-Anzeiger» aber wichtig.
Macht hätte sie trotz Hype wenig, die Schweizer Presse. «Wenn ein einzelnes Medienhaus einen Kandidaten in den Vordergrund schreibt, verschlechtert das seine Chancen massiv», sagt Berater Schittenhelm. «Masst sich ein Journalist an, Königsmacher zu sein, mobilisiert er eher Gegenkräfte.» Realpolitisch seien die Medien selten relevant. Dem stimmt Ex-Generalsekretär Kauter zu. «Journalisten überschätzen sich diesbezüglich.» Zumal viele nur Topleute kennen. «Da Bundesratswahlen geheim sind, ist die Stimme jedes Hinterbänklers genauso wichtig, diese erreichen die Journalisten kaum.»
Auf «die Rolle des Fettnäpfchens» beschränke sich die Macht der Medien, sagt Ex-Informationschef Christen. Deshalb schützen vife Berater Bundesratskandidaten vor Misstritten. «Die Chance, dass ein Kandidat einen Fehler macht, den die Medien köstlich ausschlachten, ist viel grösser, als dass die Medien ihn zum Bundesrat schreiben», sagt Christen.
Es gebe keine echten Medienmacher mehr, klagt Stöhlker. «Ringier hat an Macht verloren, die NZZ ist zerrissen, die ‹Weltwoche› wird nur innerhalb der SVP ernst genommen.»
Blockiert sind Königsmacher letztlich, weil die Durchdiener und Befehlsempfänger langsam aus dem Parlament verschwinden. Jünger sind die National- und die Ständeräte geworden. Es hat mehr Frauen. Sie politisieren unabhängiger und selbstbewusster, aber auch unerfahrener und einflussärmer.
Den Sprung ins Parlament schaffen viele unter dreissig – Pascale Bruderer war 24, Toni Brunner 21, Christian Wasserfallen 26, Evi Allemann 25. Die berufliche Karriere fehlt, viele leben vornehmlich vom Parlamentsgehalt. Einst sassen die gestandenen Unternehmer im Parlament, Juristen und Bauern. Sie verdienten ihr Geld mit Arbeit und fuhren viermal jährlich nach Bern zur Session. Jungpolitiker politisieren nonstop, mit wenig Bindung zur Wirtschaft. Folglich sind sie unabhängiger und «lassen sich von den alten Krokodilen nichts vorschreiben», sagt Schittenhelm.
Gegen selbstbewusste Parlamentarierinnen tun sich Königsmacher schwer, sagt der Ex-CVP-Generalsekretär Iwan Rickenbacher. Solange das Parlament die Bundesräte kürt. «Wählt sie das Volk, hätten diese Figuren plötzlich enormen Einfluss.» Heute sind 124 Stimmen im Parlament nötig, um Bundesrat zu werden. Bei der von der SVP geforderten Volkswahl braucht es Millionen – und einen Kartoffelsack, der sich vermarkten lässt.