Von Peter Hossli
Das World Trade Center sengt. Verzweifelt stürzt sich ein Mann aus dem 101. Stock des North Towers. Zehn Sekunden fällt er bei einer Geschwindigkeit von 240 Kilometern die Stunde. Zu langsam, um das Bewusstsein zu verlieren. Aber schnell genug, dass er beim Aufprall sofort stirbt.
Das zu wissen, ist wichtig für Kenneth Feinberg. Der Anwalt aus Washington misst Leiden. Objektiv will er beurteilen, wie ein qualvoller Tod zu entschädigen ist. In Dollars und Cents rechnete er etwa aus, wie viel den Angehörigen der Opfer der Terrorattacke vom 11. September 2001 zustand. Minutiös untersuchte er, wie stark einer litt – wer im Flugzeug sass, starb schneller als jene, die in den Türmen ausharrten bis sie in sich zusammensackten –, wie hoch das Einkommen war, ob jemand Kinder hatte, eine Lebensversicherung. Jungen teilte er höhere Beträge zu als Alten, Alleinstehenden geringere als Verheirateten. Durchschnittlich 1,5 Millionen Dollar gab Feinberg bei einem Todesfall. Steuergelder. Die reichsten 25 – Männer mit über 2 Millionen Jahressalär – erhielten je rund 6,3 Millionen Dollar. Am meisten, 8 Millionen, kriegte ein Überlebender mit entstellenden Verbrennungen.
Sieben Milliarden Dollar verteilte Feinberg an Hinterbliebene von 2880 Toten und an 2680 Verletzte. Wer Geld nahm, verlor das Recht, vor Gericht auf Schadenersatz zu klagen.
Feinberg, 64, arbeitete unentgeltlich – und gilt seither als integer und unparteiisch. Nun schickt ihn US-Präsident Barack Obama an den Golf von Mexiko. Dort misst er den Schaden, den ausfliessendes Erdöl seit Frühling verursacht. Prall gefüllt sind Feinbergs Taschen, seine Macht ist grenzenlos. Er schüttet 20 Milliarden aus, die der britische Ölkonzern BP bereitstellt. Allmächtig legt er fest, wer was kriegt, wie viel es ist. Er unterschreibt jeden Scheck. Zudem wählt er die Richter aus, die Einsprüche behandeln. BP bezahlt den Anwalt. Trotzdem sagt er: «Ich bin unabhängig.»
Kaum hatte Feinberg den Job, reiste er nach Louisiana und Alabama, traf Fischer und Ölarbeiter, die seit der Explosion der Förderplattform Deepwater Horizon am 20. April weder Arbeit noch Einkommen haben. Er ging nach Mississippi zu Krabben-Fängern, besuchte Hotelbesitzer an der Westküste Floridas.
Komplexer als 9/11 ist die Arbeit am Golf von Mexiko. Zeitlich und räumlich war der Terroranschlag begrenzt. Die Opferzahl stand früh fest, sie veränderte sich kaum. Der Schaden am Golf aber ist noch lange nicht absehbar. Niemand weiss, ob und wann sich die Natur erholt. Ob Crevetten-Züchter aus Louisiana die Konkurrenten aus Vietnam jemals wieder verdrängen. Stehen Hotels auf Sanibel Island jahrelang leer? Oder sonnen sich New Yorker trotz Teerbällen bereits an Weihnachten wieder an Floridas Stränden? Rund 950 Spezialisten helfen Feinberg, die Langzeitfolgen in die Bemessungen des Leidens einzubeziehen.
Deckte Feinberg nach 9/11 kaum Betrugsfälle auf, sind jetzt Hunderttausende zu erwarten, die an den BP-Topf wollen. Etwa ein Nachtklubbesitzer und seine Stripperinnen. Ihre Begründung: Der Club in New Orleans musste die kessen Damen entlassen, weil lokale Fischersleute und kräftige Ölarbeiter sich deren Dienste nun nicht mehr leisten können.
Zur Welt kam Kenneth Feinberg ausserhalb von Boston. An der New York University studierte er Recht. Später wirkte er als Berater von Senator Ted Kennedy. Mitte 80er-Jahre begann er als unabhängiger Opferanwalt. Er vertrat Vietnamveteranen, die wegen des Entlaubungsmittels Agent Orange an Krebs erkrankten. Hing ein Preisschild an den Zapruder-Film, auf dem die Ermordung von John F. Kennedy zu erkennen ist. Legte die Honorare jener Anwälte fest, die Klage führten für Opfer des Holocaust. Verteilte Geld an Familien von Studenten, die bei einem Schulmassaker in Virginia ums Leben kamen.
Bei seiner Arbeit nach 9/11 traf sich Feinberg mit fast 1000 betroffenen Familien. Darunter jenen 13, die weder klagen noch eine Entschädigung wollten. Der Verlust eines Menschen, sagten sie ihm, lässt sich mit Dollars nicht abgelten.