Von Peter Hossli (Text) und Daniel Rihs (Fotos)
Die steile Strasse führt an der Kirche vorbei, an Riegelhäusern und Villen aus den 80er- und 90er-Jahren. Sie zeugen von einer Zeit, als wohlhabende Stadtberner ins steuergünstige Dorf Gümligen zogen. Keine Steuern zahlt Igor Bratchikov, der russische Botschafter in Bern. Als Diplomat ist er vom Fiskus befreit.
Er lebt in Gümligen, weil der russische Staat hier eine Residenz für seine Gesandten erworben hat. Vor der Türe der weissen Villa im klassizistischen Stil steht ein dunkler BMW-Geländewagen. Ein Metallzaun trennt die Strasse von der Liegenschaft. «Herr Igor Bratchikov» steht auf der Klingel. Kaum klingelts, eilt der stattliche Mann mit dem kurzen strohblonden Haar die Treppe hoch. «Die Tür ist offen», grüsst der Botschafter in nahezu akzentfreiem Deutsch. «Für die Presse sowieso.»
Ein Satz, mit dem der Russe seinen Schalk zeigt. Und die grosse Gabe, mit Klischees zu spielen. Klar, will er sagen, das als autoritär verschriene Russland schätzt die Pressefreiheit. Später witzelt er, manche sowjetische Journalisten hätten nicht gewusst, ob sie der Presse oder dem Geheimdienst KGB angehörten.
Hinter dem kleinen Foyer öffnet sich der geräumige Salon, wo die Bratchikovs in Bern beliebte Feste feiern. Grüne Tapeten zieren die Wände, wallende Vorhänge die Fenster. Die antiken Möbel gehören Russland. Bloss ihre Kleider haben der Botschafter und seine Gattin Yulia mitgebracht. Dazu Kunstwerke, die sie an ihre Heimat erinnern. Auf der Kommode stehen handbemalte Holzschatullen. Eine zeigt den Kreml im Winter, eine andere den Sitz des russischen Patriarchen.
Vom Salon öffnet sich die Tür zur Terrasse. Das Auge schweift vom Berner Stadtberg Gurten nach Osten zu den Alpen. Majestätisch erheben sich Eiger, Mönch und Jungfrau.
Unter dem Balkon glänzt bläulich der Pool. Täglich zieht der Botschafter hier Längen. Beim Schwimmen fotografieren lässt er sich nicht – wie das Ex-Präsident Putin getan hatte. Stilsicher beherrscht Bratchikov die Balance zwischen Anmut und Demut.
Eine Voraussetzung für die Diplomatie. «Ein Diplomat muss die Interessen des Gegners verstehen», erklärt er die Kunst seines Metiers. Bevor er in eine Verhandlung steigt, stellt er sich zwei Fragen: «Was will ich vom anderen? Warum gibt er es mir nicht?»
Botschafter Bratchikov ist ein versierter Gastgeber. Kuchen und Kaviar serviert er, Lachsbrötchen und Luxemburgerli. Fragt, ob die Gäste schon mal in seinem Land waren. Auf das verlegene Nein reagiert er nicht etwa mit einem langen Gesicht. «Na dann», sagt er, «willkommen in Russland.» Findet wie alle echten Diplomaten in jeder Situation die passenden Worte. Sagt, die Residenz sei ja ein Stück Russland mitten in der Schweiz. So wie das Denkmal für General Suworow in der Urner Schöllenenschlucht auf russischem Grundbesitz stehe.
Historisch bewandert erzählt er von berühmten Russen, die mit Geliebten und Ehefrauen in der Schweiz Zuflucht fanden. Und unterstreicht, die Schweiz sei das letzte Land Europas gewesen, das nach dem Zweiten Weltkrieg diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen hatte.
Böse ist er ihr nicht. Heute seien sie ja besser denn je. Dazu ein Diplomat im Eidgenössischen Department für auswärtige Angelegenheiten: «Die Schweiz hat zu Russland derzeit bessere Beziehungen als zu den USA.» Die Aussage lässt aufhorchen. «Moskau einfach», wünschte man im Kalten Krieg noch jenen, die links der Mitte standen. Bis zum Fall der Mauer 1989 kam der Feind der Schweizer Armee «aus dem Osten» – aus Russland.
Nun bereden Schweizer und russische Offiziere, was Soldaten beider Länder voneinander lernen können. Als «ausgezeichnet» beschreibt Bratchikov das russische Verhältnis zur Schweiz. Zuletzt hätte dies der Staatsbesuch von Präsident Dmitri Medwedew gezeigt. Weder der Zar noch der Generalsekretär der sowjetischen kommunistischen Partei war jemals offiziell in der Schweiz. Heute reisen regelmässig Schweizer Politiker nach Moskau.
Festigen will der Botschafter die Freundschaft nächstes Jahr mit einem Kulturfestival. Angesehene russische Dirigenten sollen in die Schweiz kommen. Erstmals die traumhaften Tänzer des Bolschoitheaters auftreten. Russischen Opern-Diven ihre Arien darbieten.
Drei Stockwerke hat die Villa. Das Paar bewohnt die oberste Etage. Unten leben der Gärtner und die Haushälterin. Gleich neben dem Salon befindet sich ein Musikzimmer mitsamt gut bestückter Bar. Auf einem Kaffeetisch liegt die NZZ, die er täglich liest, ebenso den «Tages-Anzeiger». Hinzu käme noch die «Weltwoche», sagt der Botschafter. Die welsche Presse lese er nicht, da er kein Französisch spreche.
Deutsch lernte er an der Schule, verfeinerte es auf dem ersten diplomatischen Posten in der einstigen deutschen Hauptstadt Bonn.
Zur Welt kam Igor Bratchikov 1956 in Moskau. Mit 9 lernte er die gleichaltrige Yulia kennen. Mit 21 heirateten die beiden. Sie haben zwei erwachsene Kinder und jetzt, 33 Jahre nach der Hochzeit, einen ersten Enkel.
Bevor Bratchikov 2007 zum Botschafter in Bern ernannt wurde, flog das Ehepaar mit dem Helikopter über die Schweiz. Er war überrascht «wie klein und schön» sie war. «Schön und klein», korrigiert ihn Gattin Yulia. Die Unabhängigkeit der Schweiz schätze Russland, sagt der Gesandte. Als europäisches Land, das weder Mitglied der Nato noch der EU sei, könne es ein «exzellenter Partner» sein, um über europäische Sicherheit zu reden.
Die Schweiz ist einer der zehn wichtigsten Investoren in Russland. 600 Schweizer Firmen sind dort tätig. Die Schweiz exportiert für drei Milliarden Franken mehr Güter nach Russland als umgekehrt. Dieses Ungleichgewicht will Bratchikov beseitigen. Die Schweizer Flugwaffe etwa könnte «ernsthaft nachdenken» über die Beschaffung von MIG-Kampfjets. Zu bieten habe Russland überdies «erstklassige Technologie» im Bereich der Kernenergie.
Noch bestehen Vorbehalte gegen die einstige Supermacht. Versteht er sie? Schweizer liessen sich halt oft mehr Zeit als andere, einen Wandel wahrzunehmen. «Russland ist heute ein normales Land», sagt Bratchikov. «Die Zeit der Supermächte ist vorbei.» Es gebe mittlerweile verschiedene Zentren, in den USA, in China und Indien, in Lateinamerika und eben in Russland. «Wir haben keinerlei Absichten, jemanden zu dominieren.»
Zum Abschied reicht er noch eine Flasche Wodka. Wodka und Kaviar – fürwahr, der Botschafter ist ein formidabler Gastgeber.