Von Peter Hossli
Schön war sie wahrscheinlich nicht, die Neandertalerin, die im Nahen Osten einen Mann verführte. Gebückt strich sie durchs Land. Ihr Becken war auffallend breit, der Rumpf übermässig massig. Wulstig hing die Schädeldecke über den Augen. Gierig zerriss sie mit langen Eckzähnen im kräftigen Kiefer rohes Fleisch. Doch weder stark behaarte Beine noch kleineres Hirnvolumen hielt einen Menschenmann davon ab, sich ihrer anzunehmen – und dabei einen Mischling zu zeugen.
Der Akt, vielleicht in Israel, vielleicht im Westjordanland vollzogen, fand irgendwann zwischen 100 000 und 60 000 vor der Geburt Jesu statt. Ob es Liebe auf den ersten Blick war, sachte erotische Anziehung oder eine Vergewaltigung bleibt für immer ungewiss. Ebenso, ob Mann oder Neandertalerin die Initiative ergriff, und ob sich die beiden auf offenem Feld oder etwas intimer in einer feuchten Höhle begattet hatten. Fest steht eines – die Neandertalerin, die sich als erste mit einem Fremdling einliess, beflügelte ihre Artgenossinnen.
Menschen und Neandertaler, bisher als getrennt entwickelte Cousins betrachtet, paarten sich und hatten gemeinsamen Nachwuchs. Diesen sensationellen Befund machten der schwedische Paläontologe Svante Pääbo und sein US-Kollege Richard Green aufgrund des Neandertaler-Genoms. Deutliche Spuren hinterliess das artenübergreifende Stelldichein. Zwischen einem und vier Prozent der menschlichen DNA stammt von Neandertalern, schreiben die Forscher in der neusten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins «Science».
Wen immer wir bisher «Neandertaler» schimpften – den törichten Tischnachbarn im Büro, die duselige Schwester, den querköpfigen Älpler oben auf dem Berg, den Chef – ist tatsächlich ein bisschen einer. Genau wie Sie und ich.
Ganz einfach hinzunehmen ist das nicht. Noch letztes Jahr versicherten uns dieselben Wissenschaftler, unsere Vorväter und Neandertalerinnen hätten sich zwar getroffen, nicht aber vereinigt. US-Milliardär Warren Buffett, gemeinhin als gescheitester Investor der Moderne bewundert, wirbt seit Jahren mit Neandertalern für seine Autoversicherung Geico. Weil die so leicht begreiflich ist, «sogar ein Höhlenmensch kann sie verstehen». Verächtlich frotzelten wir, der Homo neanderthalensis sei ein rückständiger und ziemlich weit entfernter Verwandter, der sich seit 600 000 Jahren «parallel, aber unabhängig vom Menschen» entwickelt hatte.
Irgendwann vor rund 30 000 Jahren starb er dann aus. Zu dumm, um sich in der rasant fortschreitenden Welt zu behaupten, zu gedrungen und somit zu langsam für die lebensnotwendige Jagd. Zu sexfaul, um sich in ausreichendem Masse fortzupflanzen, spekulierte die Wissenschaft. Nur alle vier Jahre hätte die durchschnittliche Neandertalerin ein Kind geboren. Was nicht ausreichte, die Art zu erhalten. Der Homo sapiens hingegen, also wir, vermehrte sich hurtig, schaffte den Sprung aus der Höhle, errichtete Pfahlbauten, bestellte Felder, erfand das Rad, Penicillin und den iPod.
Jetzt ist uns der Neandertaler doch näher, das heisst uns Europäern und den Asiaten. Nachdem sich Afrikaner und Eurasier geografisch trennten, sagt Max-Planck-Forscher Pääbo, begannen Mensch und Neandertaler im Nahen Osten zu turteln. «Diejenigen von uns, die ausserhalb Afrikas leben, tragen ein kleines bisschen Neandertaler in sich», erklärt der Schwede.
Den Schluss zog Pääbo, nachdem er in 13-jähriger Feinstarbeit eine Milliarde DNA-Fragmente aus rund 300 Milligramm versteinertem Knochenpulver isoliert hatte. Knapp 40 000 Jahre alt ist das genetische Material. Es stammt von drei Neandertalerinnen, die eine Höhle im hügeligen Norden Kroatiens bewohnten. Bisher haben die schwedisch-amerikanischen Forscher rund 60 Prozent des Neandertaler-Genoms entschlüsselt. Mag die jetzt publizierte Erkenntnis wilde Paarungsfantasien auslösen, erhoffen sich die Wissenschaftler vertiefte Einblicke in die menschliche Evolution.
Ihre Kernfrage: Welche Gene tragen wir Menschen, die uns über die Steinzeit hinaus retteten, den breitnasigen Höhlenwesen aber fehlten? Der Seitensprung mit der haarigen Neandertalerin könnte demnach aufzeigen, was es wirklich bedeutet, Mensch zu sein.