Von Peter Hossli
Es bewegt sich was in Grossbritannien. «Fast so beliebt wie Churchill» sei dieser Nick Clegg, titelte unlängst die «Sunday Times». Das war seit Churchill keiner mehr. Als «Mister Popularity» feiert der «Independent» den Vorsitzenden der britischen Liberaldemokraten. Das Inselreich überzieht eine Art «Cleggmania». Eine Hysterie, die an Barack Obama erinnert. Wo Clegg auftritt, flippen selbst die sonst zugeknöpften Briten aus. Allein um ihn zu wählen, registrierten sich Tausende Neuwähler.
Am Donnerstag, wenn sie das Parlament neu bestimmen, könnten sie eine britische Revolution lostreten. Bei Umfragen liegt Clegg gleichauf mit dem Konservativen David Cameron und Noch-Premierminister Gordon Brown. Sollte der einst krasse Aussenseiter wie von Analysten vorausgesagt dreissig Prozent der Stimmen erhalten, verpassen beide alten Parteien eine Mehrheit. Die Queen würde wohl Amtsinhaber Brown an der Downing Street 10 belassen – und Clegg zu Koalitionsverhandlungen vorladen. Letztmals gab es so was 1974. Cameron, jüngst noch in Siegerpose, droht das jähe Karrierenende.
Clegg, 43, hievt eine Partei ins Rampenlicht, die jahrzehntelang nur Gespött war in Westminster, dort, wo das Parlament tagt. Mit erfrischender Unverfrorenheit reüssiert der Newcomer. «Lächerlich», nennt er die Drohungen der Konservativen, es breche politisches und wirtschaftliches Chaos aus, wenn die Liberalen viele Stimmen holen. Als «abgelaufen» zerzaust er die Ära der Labour Party, die seit 13 Jahren die Regierung stellt. Die Partei um Gordon Brown und Tony Blair sei «müde, ideologisch unlogisch und intern zerstritten», schreibt er in einem scharfen politischen Pamphlet. Für «überholt» hält er deren Ansatz, der Staat könne alle Probleme lösen. Selbst die doppeldeutige Aussage, er habe «bestimmt nicht mit mehr als 30 Frauen Sex» gehabt, konnte ihm bis anhin nichts anhaben
Gewinnen europaweit die nationalistischen Parteien, politisiert der pausbackige Brite weltoffen. Das Internet, sagt er, sprenge die physischen Grenzen. Neue Formen von Religiosität und gemischte Familien verändern die Identität aller Länder, auch von Grossbritannien.
Er weiss, wovon er redet, spricht zusätzlich Holländisch und Französisch, Deutsch und Spanisch. Sein Grossvater war ein russischer Immigrant, die Mutter ist Holländerin, geboren in der indonesischen Hauptstadt Jakarta. Verheiratet ist er mit einer Spanierin. Bei der anstehenden Wahl kann sie ihrem Gatten keine Stimme abgeben – bisher hat sie es versäumt, Britin zu werden. Cleggs drei Söhne tragen spanische Vornamen. Was ihm die bissige konservative Boulevard-Presse tagtäglich um die Ohren haut. «Gibt es irgendwas Britisches an Nick Clegg?», fragt hämisch die «Mail on Sunday» und wittert bereits eine Neuauflage des Blitzkriegs. Zumal seine Pressesprecherin «a kraut» ist, eine Deutsche, – und er als Teenager ausgerechnet im verfemten Germany ein Austauschjahr absolvierte.
Statt den verstaubten Feindbildern zu verfallen, preist er Toleranz und Pluralismus. Clegg wuchs in einem Dorf östlich von London auf, studierte Archäologie und Anthropologie in Cambridge. Nebenbei schauspielerte er. An der University of Minnesota, mitten im amerikanischen Ödland, verfasste er ein Lizenziat über die politische Philosophie der Grünen. Ein journalistischer Abstecher nach New York brachte ihn zur linken Wochenzeitung «The Nation».
Seine Frau, eine smarte und schöne Juristin, lernte er in Brüssel kennen, als er für die EU arbeitete. Die Nähe zur Europäischen Union bietet Gegnern nun Angriffsfläche. Zumal er mehr EU-Engagement verlangt. Das Pfund, eine heilige Kuh, will er durch den Euro ersetzen und – drastischer noch – die britischen Atomwaffen allesamt ausmustern. Steuern möchte er senken, das Monopol der Banken brechen, das Recht auf persönliche Freiheit stärken und seine Landsleute zu grünen Bürgern drillen.
Kurz vor den Wahlen gab es doch noch schlechte Nachrichten über den Sonnyboy. Der «Daily Telegraph» enthüllte, wie Clegg 2006 regelmässig Spenden auf private Konten überwiesen habe. Keine schmeichelhafte Voraussetzung für einen Reformer, der die von Spesen und Skandalen befallene britische Politik aufmischen möchte.