Von Peter Hossli (Text) und Andreas Meier (Fotos)
Barfuss eilt der feingliedrige Junge über den säuberlich geschnittenen Rasen. Er schnappt sich einen Fussball und beginnt zu jonglieren. Es ist halb acht in der Früh. Von der Lagune, welche die Millionenmetropole Abidjan umspült, weht ein warmer Wind. Der Bub ist nicht allein. Zwanzig Lederbälle tanzen auf nackten Füssen von zwanzig Knaben. «Nehmt noch einen Tennisball», ruft ein kräftiger Mann mit grauem Haar. Sein Französisch tönt berndeutsch. Assoumou Aka, der hagere Bub, hebt einen Filzball vom Boden und schlenzt ihn zum Himmel. Er bückt sich, stoppt ihn mit dem Nacken, lässt den Tennisball auf den rechten Fuss fallen und beginnt zu jonglieren. Um seinen Körper lässt er einen Fussball kreisen.
Solch anspruchsvolle Akrobatik sieht bei Assoumou spielerisch leicht aus. Als hätte der 15-Jährige sein Leben lang nichts anderes getan. «Bravo», lobt der Coach.
Der Coach heisst Walter Ammann, ist 59 und stammt aus Interlaken im Berner Oberland. Hier in Côte d’Ivoire leitet er die Fussballakademie von Asec Mimosas, dem Spitzenverein des westafrikanischen Landes. «Der Tennisball fördert Konzentrationsfähigkeit und Koordination», sagt er. Von der Stirn rinnt Schweiss. Zudem mache es Spass. «Lernt ein Kind Fussball spielen, muss es Freude daran haben.»
Mit Freude führt Ammann seit Sommer 2008 die beste Talentschmiede Afrikas. Sie bietet 25 hochbegabten Junioren im Alter von 13 bis 16 Jahren Platz. Deren Ziel: den Profi-Vertrag bei einem europäischen Spitzenverein.
Weder lesen noch schreiben können viele, wenn sie ankommen. Sie büffeln Mathematik, lesen Bücher und schreiben Aufsätze. Eine breite schulische Bildung sei wichtig, sagt Ammann: «Nur wer das Hirn trainiert, hat auf dem Fussballplatz Erfolg.»
25 000 Franken pro Spieler
In den Hinterhöfen Abidjans und auf löcherigen Sandplätzen träumen Buben davon, von einem Talentscout ans jährliche Probetraining eingeladen zu werden. Von den 300, die das schaffen, bleiben 30 übrig. Sie werden gründlich medizinisch untersucht. Bleiben darf, wer gesund ist – und wer sich durchbeissen kann. Sechs oder sieben Spieler verlassen pro Jahr die Akademie. «Ihnen fehlt das Fussball-Virus», sagt Ammann. «Wir wollen die besten Spieler der Côte d’Ivoire.»
Ärzte und Köchinnen kümmern sich um die Buben, Gärtner, sieben Lehrer und die besten Coaches des Landes. Insgesamt umfasst der Betreuerstab 31 Personen. Das Gelände ist luxuriös. Zur Abkühlung springen die Kinder in den Swimmingpool. Kicken Fussballer in Côte d’Ivoire oft barfuss auf kaputten Strassen, üben sie hier auf Gras mit bestem Material und tragen selbst wenn sie trainieren Schienbeinschoner. Rund 25 000 Franken gibt der Klub pro Jahr und Knabe aus. Das finanziert Asec Mimosas mit Sponsoren und dem Spielerverkauf.
Von den 23 ivorischen Nationalspielern, die 2006 an die WM nach Deutschland reisten, stammten 16 aus der Talentschmiede von Asec Mimosas. Superstars wie Yaya Touré bei Barcelona, sein Bruder Kolo bei Manchester City, Salomon Kalou bei Chelsea oder Emmanuel Eboué bei Arsenal haben hier ihr Talent veredelt. Ebenso YB-Mittelfeldregisseur Gilles Yapi Yapo. Bei der WM in Südafrika gilt die ivorische Nationalmannschaft als Geheimfavorit.
Fluch und Segen sind solche Erfolge für den ivorischen Fussball. Top-Spieler kommen bei Top-Klubs unter. Gleichzeitig fallen zwielichtige Späher über das Land herein, auf der Suche nach billigen Talenten. Betrieb Asec Mimosas 1997 noch die einzige Fussballschule des Landes, gibt es heute über 300. Von einem auf dreissig ist die Zahl ivorischer Spieleragenten angewachsen. Die wollen schnelles Geld machen und schieben mittelmässige Spieler in zweitklassige Fussballländer ab, nach Vietnam oder auf die arabische Halbinsel. Von «modernem Menschenhandel» spricht Ammann. Seine Spieler haben keine Agenten.
Trainierten früher die besten ivorischen Talente gemeinsam, seien die Kräfte heute «total zersplittert». Ammann reagiert mit aggressiverem Scouting. Nahm die Akademie einst Kinder ab 13 auf, beauftragt er seine Talentsucher nun 11- und 12-Jährige aufzuspüren. Mit elf sind sie noch formbar und fühlen sich nicht als Stars. «Wer als Kind glaubt, er sei hochbegabt, schafft es selten», sagt der Coach.
Unlängst schickte er einen talentierten Bub heim. Er hatte sich den Namen Zidane zugelegt. «Zwar konnte er gut Fussball spielen, aber er kann nicht leiden.» Ammann nippt an einer Tasse mit gesüsstem Schwarztee. «Mit den besten gehe ich am härtesten um.»
Drei verschiedene Alter
Es ist neun Uhr. Seit zwei Stunden trainieren die 25 Knaben von Asec Mimosas. Sie haben aufs Tor geschossen, Pässe geübt, Eckbälle und Freistösse getreten. Dabei war stets ein Ball im Spiel. «Kinder amüsiert euch», steht auf der Tribüne. Zuletzt ziehen sie die Schuhe aus, legen sich auf den Boden und dehnen übersäuerte Muskeln. Ein lautes «venez!» durchschneidet die Stille, kommt. Die Spieler, die blaue und grüne Trainingsleibchen tragen, traben zum Schatten der Tribüne. Köpfe hängen, ebenso Arme und Beine. «Es ist normal, dass ihr müde seid», sagt Ammann. Es ist die erste Woche nach den Ferien.
Der Chefcoach will wissen, was gut lief, was nicht. Die Buben sind selbstkritisch.
«Ich habe zu viele technische Fehler gemacht. »
«Ich habe zu oft im falschen Moment gedribbelt.»
«Ich habe zu viel Kraft eingesetzt und Schüsse verzogen», sagt Assoumou, der drahtige Mittelfeldspieler.
Ammann ist positiv, richtet sich stehend an seine Jungs. «Ihr habt lustvoll gespielt, Freude ist wichtig.» «Ihr arbeitet hart, der Wille ist da, ohne Willen kein Erfolg.» – «An Mut mangelt es euch noch.» – «Setzt öfters mal den schwächeren Fuss ein.»
Die Spieler stehen auf, duschen, tauschen die Fussballstiefel mit Sandalen, essen was Kleines.
Um 10 beginnt der Unterricht. Acht Teenager sitzen auf harten Holzbänken. Der Lehrer trägt ein buntes Hemd und Bluejeans. Mit Kreide kritzelt er spanische Worte auf die Schiefertafel. Die Schüler sprechen sie nach. «Das tönt hölzern», sagt Ammann, der den Kopf ins Schulzimmer streckt. «Wenn ihr zu Barcelona wollt, müsst ihr besseres Spanisch sprechen.»
Mit 18 dürfen europäische Vereine afrikanische Spieler unter Vertrag nehmen. Viele seien dann bereits «einiges älter», sagt Ammann. Drei Alter habe ein afrikanischer Fussballer: Das Schul-, das Fussball- und das reale Alter. Im Schnitt sei ein Fussballer «vier Jahre älter als er vorgibt». Auch bei Asec Mimosas? «Wir versuchen das Alter der Knaben genau zu kennen, aber garantieren kann ich es nicht.»
Von Montag bis am Samstag leben die Schüler auf dem Gelände der Akademie. Zu viert teilen sie ein mit Stockbetten ausgestattetes Zimmer. Die Schlafräume sind nach den Stars benannt, die in Europa kicken. Ein Bus sammelt die Kinder in Abidjan und den umliegenden Dörfern ein und fährt sie zum Trainingsgelände Sol Beni am östlichen Rand der Metropole.
Es ist eine Fahrt durch eine Stadt, in der Moderne und Elend aufeinanderprallen. Von vier auf sechs Millionen Menschen wuchs Abidjan seit 2004 an. Wolkenkratzer bilden die Skyline. Moderne Hotels beherbergen Geschäftsleute. Sie fördern Erdöl, kaufen Rohdiamanten und Kakao. Stinkender Verkehr zuckelt entlang breiter Avenues. Auf Trottoirs gehen Frauen, die auf den Köpfen Körbe tragen. Sie kochen mit Holz. Nackte Männer waschen sich in der Lagune. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist arbeitslos. Wer arbeitet, verdient im Schnitt 100 Franken im Monat.
Die Familien sind kinderreich, die Schulen teuer. Oft ziehen Mütter die Kinder alleine gross. Sie behalten die Mädchen in der Küche, die Buben schicken sie raus auf die Strasse. Sie sollen Bälle treten. Fussball, wissen die Mütter, ist einer der wenigen Wege aus der Misere.
Das Paradies von Afrika
Niemand meckert da über den harten Drill. Um 6.30 Uhr essen die Buben Frühstück. Um sieben absolvieren sie barfuss ein auf Koordination und Beweglichkeit ausgerichtetes Training. Zwischen acht und neun üben sie Technik mit dem Ball. Nach dem Znüni drücken sie die Schulbank. Nach dem Mittagessen ruhen sie eine Stunde. Nachmittags sitzen sie eine weitere Stunde hinter Büchern.
Um vier Uhr beginnt ein eineinhalbstündiges Training. Oft spielen sie einen Match, stets Freundschaftsspiele, vier Mal zwanzig Minuten, damit genügend Pausen für die Analyse drin liegen. «Qualität statt Quantität », bläut Ammann ihnen ein. «Spielt wenige Pässe, dafür gute.» Zwischen 18 und 19 Uhr erledigen die Buben ihre Hausaufgaben. Sie legen sich nach dem Abendessen schlafen. Am nächsten Morgen um sechs ist bereits wieder Tagwache.
Plackerei sei das nicht, sagt Assoumou Aka. «Das hier ist das Paradies von Afrika.» Ein Ort, «wo ich den Fussball und das Leben lerne». Er stürmt vorne in der Mitte, schiesst Tore. Fussball spielt er, «seit ich mich erinnern kann».
Zu Barcelona will er – wie die anderen auch –, «weil das Team am schönsten spielt», sagt er. «Kurze und schnelle Pässe, kein Pass zu viel.»
Einmal «genug Geld für meine Familie» will er verdienen. Doch das Geld treibe ihn nicht. «Es ist einfach mein Ziel, in Europa zu spielen.» Was, wenn es nicht gelingt? Eine kuriose Frage, findet er. «Klar schaff ich es.»
Zumal ihm mit Ammann ein Coach zur Seite stehe, der ihm helfe. «Er macht aus uns Jungs echte Männer», sagt Aka. Taktisch schule er sie, mental, technisch – und menschlich. «Er ist wie ein Papa für uns.»
Ammann kam 1997 nach Côte d’Ivoire. In Paris hatte er sich in eine Ivorerin verliebt. Sie brachte ihn nach Afrika. Er leitete ein Projekt der Fifa, organisierte die ivorische Trainerausbildung und eine Juniorenmeisterschaft. Als im November 2004 der Bürgerkrieg ausbrach und sich die Lebensqualität verschlechterte, akzeptierte er eine Offerte des FC Thun als Geschäftsführer und Sportchef.
Afrika liess ihn nicht los, die Schweiz war ihm zu klein. Er lebt gern an einem Ort, wo es warm ist. Die 13 Malaria-Schübe, die ihn bisher befallen haben, nimmt er in Kauf. «Jeden Tag aufzustehen und nicht zu überlegen, was man anziehen muss, ist ein befreiendes und herrliches Gefühl», sagt er.
Es ist Mittag. An vier runden Plastiktischen sitzen 25 Buben. Sie tragen T-Shirts mit Yoplait-Logos auf der Brust, einer französischen Joghurt-Marke. Es gibt Reis und Poulet, dazu Wasser. Nach dem Essen tragen die Knaben das Geschirr in die Küche und waschen sich die Hände. Ein paar ziehen sich zum Gebet zurück. Ein Drittel der Spieler sind Muslime, zwei Drittel Christen. Für den Zusammenhalt der Fussballakademie sei das kein Problem, sagt Ammann. «Die Muslime stehen früher auf fürs Morgengebet. » Sie seien willensstärker, «und sie können mehr einstecken».
Nach dem Mittagsschlaf steht Englisch auf dem Stundenplan. Erst wenige Brocken spricht Assoumou. «Mein Spanisch ist besser », sagt er. Er will ja zu Barcelona, nicht nach England. «Nur wenn Barcelona mich nicht nimmt, gehe ich zu Chelsea.»