Von Peter Hossli (Text) und Andreas Meier (Fotos)
Der Mittelstürmer spitzelt den Ball ins linke untere Toreck. Schnurgerade peitscht das Leder über den sandigen Boden. Bis ein Stein ihn ablenkt. Soro N’Ganna, der Goalie, hechtet in die Tiefe, spreizt die Arme und schubst den Flatterball mit den Fingerspitzen knapp am Tor vorbei. Siegessicher ballt er die Faust.
An der Seitenlinie klatscht Stéphane Chapuisat in die Hände. «Gut gemacht», ruft der einstige Schweizer Nationalspieler. «Auf der Linie sind afrikanische Goalies sackstark.»
Schweiss rinnt ihm von der hohen Stirn. Es ist heiss und feucht in Abidjan, der grössten Stadt der Côte d’Ivoire. Hier, in einem ärmlichen Quartier, fahndet Chapuisat nach den Stars von morgen, westafrikanischen Fussballern, die für die Young Boys Tore schiessen und solche verhindern sollen. «Das Reservoir an Talenten ist riesig», sagt der Talentspäher.
Der Schiedsrichter pfeift zur Pause. Soro, 15, trottet vom Feld, schnappt einen Beutel Eiswasser und entleert ihn über sein dunkles Gesicht. Er streift die Handschuhe ab, auf denen «Marco Wölfli» eingestanzt ist, der Name des YB-Goalies. «Er ist mein Vorbild», sagt Soro, «Schaffe ich’s nach Bern, ersetze ich Wölfli.»
Bern ist in Abidjan das grosse Ziel. Ivorische Buben von elf bis 18 hoffen, einst im Stade de Suisse auflaufen zu können. «Der Weg aus der Armut führt über Bern», sagt Goalie Soro.
Seit Frühling 2008 besteht zwischen YB und dem ivorischen Club AS Athletic Adjamé eine Partnerschaft. Jährlich zahlen die Berner 100 000 Franken an dessen Talentschmiede. Sie schicken Bälle, ausgediente YB-Trikots, Hosen und Socken. Öfter reisen Ausbildner nach Abidjan, um afrikanische Coaches anzuweisen. Die sollen wie YB trainieren.
Die Young Boys erhalten dafür die Rechte an allen Fussballern von Adjamé. Das sind 80 Knaben, wobei 25 als richtig gut gelten. «Wir holen günstig fussballerische Qualität, die es in der Schweiz nicht gibt», sagt der CEO der Young Boys, Stefan Niedermaier, 47.
Er steht am Spielfeldrand, sein helles Hemd ist durchnässt. Einem Knaben schenkt er einen Kugelschreiber. «Der ist für die Schule», ruft er. «Klar, wir wollen auch Geld verdienen», sagt er. Alle drei Jahre sollen die Berner einen Ivorer an einen Grossverein verkaufen. «Dann zahlt sich das für uns aus.»
Der Manager lehnt an einer Pappel. Er zückt ein iPhone, tippt ein Mail, bis ihn Chapuisat stupst. «Hast du gesehen? An Sherif kommt keiner vorbei.» Sherif Olatunde, 15, ist ein schlaksiger Aussenverteidiger und einer von vier Fussballern, die als «phänomenal» gelten. Die anderen sind als «exzellent», «sehr gut» oder als «nicht ausreichend» eingestuft. Coaches berechnen die Kategorien aufgrund des Alters, des Gewichts, der taktischen, mentalen und der athletischen Stärke. «Wir wissen jederzeit, wie sich unsere Buben entwickeln», sagt Niedermaier.
Mit 16 lädt er die talentiertesten ein paar Tage nach Bern. Damit sie die Schweiz kennenlernen. Mit 18 darf YB sie unter Vertrag nehmen. «Wir holen nur die Besten.»
Das Projekt funktioniert «dank meines Freundes in Abidjan», so Niedermaier. Ein Ivorer, dem er vertraut. Vor zehn Jahren gründete Olivier Koutoua die AS Adjamé. Ein ruhiger Typ mit einnehmender Ausstrahlung. Mit sauberen Lederschuhen und gebügeltem Hemd betritt der Ingenieur den Platz.
Sein Motto: «Ich forme aus kleinen Kindern junge Männer.» Er lehrt Technik und fördert die athletische Leistung. «Am wichtigsten aber ist die mentale Reife», sagt Koutoua.
Damit hat er Erfolg. Es ist spätabends in seiner Villa am Berg. Am Boden weisse Steinplatten, auf Kommoden flache Samsung-Fernseher. Seine Frau serviert geräuchten Lachs, Salate, Bohnen und gebratenen Fisch. Korken knallen. Champagner fliesst.
Chapuisat, die ivorischen YB-Spieler und Niedermaier feiern den Transfer von Seydou Doumbia. Der Schweizer Fussballer des Jahres geht im Sommer zu ZSKA Moskau – für ein Wechselgeld von rund 15 Millionen Franken. An die Young Boys gehen 70 Prozent, je zehn Prozent erhalten Doumbia, sein Schweizer Berater – und Koutoua, 47.
Er hat Seydou entdeckt. Mit elf nahm er ihn zum Training mit. Doch Seydou verschwand. An einem schwülen Nachmittag fuhr Koutoua zur Arbeit. Eine Ampel stellte auf Rot. Ein Bub klopfte ans Fenster und wollte Taschentücher verkaufen. Der Fahrer wimmelte ab. Der Kleine insistierte, bis Koutoua ihm Geld zusteckte. Da erkannte er das schüchterne Gesicht: Es war Seydou. «Seither ist er wie ein Sohn», sagt Koutoua.
Noch ist seine Fussballschule ein holpriger Sandplatz. Duschen fehlen. Spieler ziehen sich draussen um. Zerfetzte Netze hängen an den Toren. Jungs tragen abgewetzte Leibchen und Hosen der Young Boys. Schienbeinschoner fehlen. Mancher strauchelt über eines der vielen Schlaglöcher. Am Spielfeldrand hocken Kinder in zerschlissenen Kleidern, die jüngsten kaum älter als zwei. Kullert ein Ball den Hang runter, eilen sie hinterher.
Ein Nachteil sei der löchrige Boden nicht, sagt Späher Chapuisat. «Wer hier einen Ball führen kann, spielt in der Schweiz sicher gross auf.» Gleichwohl hat Koutoua mit dem Geld von YB am östlichen Stadtrand Land erworben. Bis Ende Jahr möchte er dort einen Rasen anlegen, dazu ein Clubhaus mit Duschen. Schulzimmer für die Kinder will er einrichten. Eine Köchin soll das Mittagessen zubereiten, ein Bus die Knaben zum Training fahren.
Es ist eine Fahrt durch eine Stadt, in der Moderne und Elend aufeinanderprallen. Von vier auf sechs Millionen Menschen wuchs Abidjan seit 2004 an. Wolkenkratzer bilden die Skyline. Moderne Hotels beherbergen Geschäftsleute. Sie fördern Erdöl, kaufen Rohdiamanten und Kakao. Stinkender Verkehr zuckelt entlang breiter Avenues. Auf Trottoirs gehen Frauen, die auf den Köpfen Körbe tragen. Sie kochen mit Holz. Nackte Männer waschen sich in der Lagune, die die Stadt umfliesst. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist arbeitslos. Bei 100 Franken liegt der durchschnittliche Monatslohn.
Familien sind kinderreich, die Schulen teuer. Oft ziehen Mütter ihre Familie alleine gross. Sie behalten die Mädchen in der Küche, die Buben schicken sie raus. «Der Fussball ist der Weg aus der Misere», sagt Amadou Ouattara, 45, ein Coach von AS Adjamé. Einmal wöchentlich zieht er durch die Quartiere. «Die Besten finde ich in den ärmsten Orten. Schafft es einer in eine europäische Topliga, lebt nicht nur der Spieler, sondern seine Grossfamilie davon.»
Check ist zehn Jahre alt. Er hat einen Vater und vierzehn Geschwister von zwei Müttern. Da das Geld, das der Vater als Chauffeuer verdient, nicht für die Schule reicht, spielt Check von morgens bis abends Fussball. Vor seinem Haus liegt Teer, nicht Lehm. Das ist wichtig. Er kann auch kicken, wenn es regnet.
Tore legt er mit Strohbüscheln. Kreischend hetzen Check und die Nachbarskinder dem Ball hinterher. Bei jedem Stein ändert der die Richtung. Probleme bereitet das nicht. Check kennt nichts anderes. «Von solchen Böden bekommen die Kinder das Wichtigste beim Fussball», sagt Coach Ouattara, «eine natürliche Beziehung zum Ball.» Den Rest lernen sie rasch. Ab elf nimmt er Spieler auf. Bis 15 formt er sie. «Sind sie dann nicht phänomenal, schaffen sie es nie.» Check erhält den Ball, passt ihn sofort, kriegt ihn zurück und schiesst. «Er ist gut, aber etwas jung.» Ouattara notiert den Namen und zieht ins nächste Quartier.
Dort schlendert ein Mädchen in einer karierten Schuluniform an einem Fussballfeld vorbei. Der Wind bewegt die vielen Zöpfchen von Estelle, 9. Der Reporter schenkt ihr einen Ball. «Mädchen spielen doch keinen Fussball», lacht der Fahrer. Estelle sieht das anders. In Côte d’Ivoire spielt jeder Fussball. Sie schnappt sich das Leder. Eine Meute Jungs eilt hinterher, will mitspielen. Eine halbe Stunde überlässt sie ihnen den Ball. Dann muss sie heim in die Küche. Mit ihrem Ball trottet Estelle weg – überglücklich.
Vor zehn Jahren gewann eine Auswahl von 18-jährigen Ivorern die afrikanische Champions League. Das Nationalteam ist heuer WM-Geheimfavorit. Beides ist Fluch und Segen zugleich. Spieler kommen bei Clubs wie Chelsea und Real Madrid unter. Gab es 1999 eine Fussballschule, so sind es heute 300. Europäische Späher fallen über das Land her. Von einem auf 30 ist die Zahl ivorischer Spielervermittler angewachsen. «Es sind Piraten», sagt Koutoua. «Sie sind nur auf schnelles Geld aus.» Aggressiv treten sie auf, versprechen Kindern und Eltern ein Leben in Saus und Braus. Sobald einer einen geraden Pass schlägt, nehmen sie ihn unter Vertrag. Zuweilen fälschen sie deren Alter und verjüngen die Spieler um bis zu vier Jahre.
Viel zu früh gelangen die Teenager ins Ausland, selten aber nach Frankreich, Italien oder England. Sie spielen in zweitklassigen Ligen zweitklassiger Fussballländer, in Vietnam oder Neuseeland. Zwar verdienen sie mehr als in Abidjan. Ihre Famille ernähren können sie nicht. Oft fehlt es an Betreuung, die meisten gehen unter, Agenten lassen sie fallen. «Es ist moderner Menschenhandel», sagt Koutoua.
Er lässt nur gehen, wer bereit ist. Von den 80 Kindern, die er betreut, schafften es «höchstens acht», sagt er. Erst 2013, vielleicht 2014 stosse der nächste Ivorer zu den Young Boys. Jenen, die gehen, bleibt er verbunden.
Vor jedem YB-Spiel ruft Koutoua sie an. Öfter reist er nach Bern und schaut zum Rechten. Hat einer zu lange Haare, schickt er ihn zum Frisör. Ist eine Wohnung mal nicht aufgeräumt, gibt er den Putzbefehl aus. Hat einer Liebeskummer, erteilt er väterlichen Rat.
An einem Hang in Abidjan liegt St-Michel d’Adjamé. Die Strasse ist abfallend, deren Belag aufgebrochen. Kinder haben mit weisser Farbe mitten auf die Kreuzung einen Anstosspunkt gepinselt. Je zehn Meter davon entfernt sind Strafraum und Tore hingemalt. «Terrain Doubai» steht in breiten Lettern auf dem Fussballfeld – das Spielfeld der Doubai-Brüder. Thierry, 21, und Pascal, 18, wuchsen an dieser Strassenecke auf, mit 13 Geschwistern. Der Ältere spielt im zentralen Mittelfeld der Young Boys und gilt als Jahrhunderttalent. Pascal wird ab Sommer für die Berner stürmen.
Zwei bockige Ziegen stolzieren über das Terrain Doubai. Auf einer Karre liegen Äpfel. Eine Mutter wickelt ihr Baby, eine alte Frau kocht Bohnen, eine andere bietet Kokosnüsse feil. Plötzlich steht alles still. Thierry und Pascal flanieren durchs Quartier. Die vielen Kinder erkennen sie. Ein Bub wirft Thierry einen Ball zu. «Allez, Thierry, allez, zeig, ob du es noch kannst», ruft er. «Spiel mit dem Weissen.» Er meint Chapuisat. Der Schweizer errötet. Kurz nur jongliert er den Ball, passt dann zu Doubai. Das Leder fällt zu Boden. Zwei Buben, der eine barfuss, der andere mit Plastiksandalen, luchsen den Stars den Ball ab.
Sie jonglieren und passen schneller und präziser als die Profis. «Die musst du unter Vertrag nehmen», wirft ein vielleicht 25-jähriger Kerl ein. Später erzählt er, wie stolz er auf den älteren Doubai sei. «Thierry ist ein Star in Bern, dank ihm ist St-Michel weltberühmt.»
Die Glocke schrillt, die Schule ist aus. Hunderte von Knaben und Mädchen in beigen und weissen Uniformen strömen aus dem fünfstöckigen Plattenbau. Die Kleinsten eilen zum Töggelikasten, der vor dem Schulhaus steht. «Auf Wiedersehen», verabschiedet sich Goalie Soro N’Ganna vom Deutschlehrer. Deutsch lernt er, «damit ich in Bern durchkomme».
Er packt seine Bücher in den Rucksack und schreitet zum bloss fünf Minuten entfernten Zuhause aus Backsteinen. Ein enger dunkler Gang führt von der Strasse weg in den Innenhof. Soro lebt mit seiner Mutter und sieben Geschwistern. Es riecht nach glimmender Holzkohle. Aus dem Blechdach ragen drei Fernsehantennen. An Leinen hängt feuchte Wäsche. Auf Aluminiumblechen trocknen Mais und Pilze. Eine seiner Schwestern richtet das Essen. Soro holt einen Ball und jongliert.
Mit fünf nahm ihn der grosse Bruder erstmals mit auf die Strasse. Täglich hetzte der Knirps verknüllten Bällen hinterher, lernte sie zu stoppen, präzis zu passen, zu schiessen. Da er schneller wuchs als seine Freunde im Quartier, ging er mit zehn ins Tor. Ein Jahr später fiel Soro einem Talentspäher auf. Nicht weil er jeden Schuss parierte, sondern weil er gut jonglieren konnte. «Ein moderner Torhüter muss ein guter Fussballer sein», sagt Soro.
Nach der Matur will er nach Bern und von dort nach London zu Chelsea oder nach Madrid zu Real. «Da wir jetzt mit YB vereint sind, ist der Weg leichter und fassbarer geworden», sagt Soro. Was, wenn es mit dem Fussball nicht klappt? «Dann werde ich Soldat.»
Auf drei Uhr ist das Freundschaftsspiel der ersten Mannschaft angesetzt. Chapuisat soll das Team beim Warmlaufen führen. Kurz nach zwei verdunkelt sich der Himmel über Abidjan. Erste dicke Regentropfen fallen. Wer zu Fuss unterwegs ist, eilt unter die nächste Brücke. Ein halbstündiger tropischer Regenguss entlädt sich über der Stadt. Autos bleiben im Schlamm stecken. Die enge Strasse, die zum Gelände von AS Adjamé führt, ist jetzt ein Sturzbach, der Platz ein schlammiger Acker. In Schlaglöchern bilden sich Seen.
Buben spannen Regenschirme auf und legen die Hemden ab. Barfuss üben sie Freistösse und Fallrückzieher. Bei Toren gleiten sie über den Boden. Niedermaier und Chapuisat harren im Auto aus, bis sich der Regen verzieht.
Über tiefe Gräben läuft das Wasser ab. Rasch trocknet die glühende Sonne den Platz. Chapuisat steckt ein kleines Feld aus, zehn Meter breit, zwanzig lang. «Der hat die Champions League gewonnen», ruft ein Knabe, der am Feldrand sitzt und ein bleiches Barcelona-Trikot trägt. Mit reichlich Abstand traben die Spieler hinter Chapuisat her – als hätten sie Ehrfurcht. «Allez, allez», feuert er sie an. Und lässt sie zuletzt noch Torschüsse üben.
Nach einer halben Stunde sind die Spieler warm, und Chapuisat ist müde. Ein paar echte Talente fielen ihm auf. Schaffen werden es die wenigsten. «Zentral ist die Karriereplanung», sagt er. «Für ein junges afrikanisches Talent ist es besser, bei YB regelmässig zu spielen als bei Arsenal auf der Bank zu sitzen.»