“Ich bin nicht mehr putzig”

Seit 25 Jahren fallen Frauen in Ohnmacht, wenn Jon Bon Jovi auf die Bühne tritt. Jetzt redet der US-Rocker über seine dünneren Haare, den dickeren Bauch und die neu entdeckte Ernsthaftigkeit.

Interview: Peter Hossli

jonDas Saallicht geht aus. Frauen johlen, ein paar wenige Mädchen kreischen. Jon Bon Jovi, 47, hüpft auf die Bühne. Zur engen Jeans trägt er ein schwarzes T-Shirt. Seine Lippen schmollen zum Luftkuss. Er spannt den tätowierten Oberarm und setzt zur Drehung um die eigene Achse an, hält kurz inne und präsentiert den Fans den Hintern. Nun kreischen alle.

Bon Jovi greift zum Mikrofon und röhrt los: «We weren’t born to follow», wir sind keine Mitläufer. Es ist der Titelsong des neuen Albums «The Circle», das er und seine Band in London mit einem Konzert anpreisen.

Die Platte ist weniger fröhlich als frühere Werke des netten Amerikaners. Sie erinnert an die satte Ernsthaftigkeit von U2, nicht an die Leichtfüssigkeit des oft und wohl zu Unrecht als Kuschelrocker eingestuften Bon Jovi. Um Proteste geht es in dieser CD, um Arbeitslosigkeit in Amerika, um Auflehnung gegen das Regime im Iran und Rezepte gegen die Krise.

Am Tag nach dem Konzert lädt Bon Jovi in einer Londoner Hotelsuite zum Interview.

Mister Bon Jovi, Sie sehen müde aus, wie geht es Ihnen?
Jon Bon Jovi: Ich wage es fast nicht zu sagen, aber es geht mir gut. Dabei liebe ich es doch, mich ständig zu beklagen. Ich würde sogar behaupten, es gibt wenige Menschen, die sich besser beklagen können als ich das kann.
In Ihrem neuen Album «The Circle» klagen Sie über die Welt. Im Titelsong verkünden Sie: «We weren’t born to follow». Wozu sind wir Menschen denn geboren?
Bon Jovi: Um zu führen. Um uns Gehör zu verschaffen. Um zu reden, um uns zu wehren, um eine Meinung zu haben und diese zu äussern.

Das sind überraschend ernste Töne für einen Rocker, den alle so gern haben.
Bon Jovi: Wer wie ich 47 Jahre alt geworden ist, merkt spätestens dann, warum wir Menschen hier sind, nämlich um etwas zu bewirken.

Sie feiern im Video zum Titelsong ausserordentliche Leute wie Martin Luther King, Lance Armstrong, Barack Obama oder Princess Diana. Was haben Sie denn Ausserordentliches geleistet?
Bon Jovi:
Ich bin ein Vater von vier Kindern. Sonst bin ich eigentlich auf nichts stolz.

Und das reicht Ihnen als Inspiration, um ein politisches Album zu schreiben?
Bon Jovi: Mich haben Menschen inspiriert wie der junge Chinese, der sich vor zwanzig Jahren auf den Platz des Himmlischen Friedens vor einen Panzer stellte. Die Idee für den Titelsong verdanke ich der Iranerin Neda Soltani. Sie führte im Juni Proteste gegen das iranische Regime an und starb dabei. Neda hat mir gezeigt, dass eine einzige Stimme reicht, um etwas ins Rollen zu bringen.

Woher stammt bei Ihnen diese wieder- entdeckte Ernsthaftigkeit?
Bon Jovi: Aus der Aktualität. Ich begann Anfang ­September 2008 ein Greatest-Hits-Album zu konzipieren. Damals boomte die Wirtschaft, die Bush-Ära ging zu Ende. Alle waren glücklich. Ich verfasste Liebeslieder und einen Song über Drogenentzug. Es langweilte mich zu Tode.

Kurz darauf krachten erste Banken.
Bon Jovi: Und wir wählten einen neuen Präsidenten. Die Wirtschaft sackte ab. Die Welt stand Kopf. Sogar meine Nachbarn verloren ihre Häuser. Da konnte ich doch kein Greatest-Hits-Album mehr machen. Ich wollte was Richtiges tun.

Sind Sie von der Krise denn betroffen?
Bon Jovi: Oh ja, meine Häuser verloren an Wert, und ich musste mein Football-Team schliessen. Die Liga, in dem es spielte, ging bankrott.

Ausserordentlich ist ja auch, dass Sie nach 26 Jahren im Rockgeschäft noch immer die grossen Stadions füllen.
Bon Jovi:
Niemand ist da erfolgreicher als wir. Niemand verkauft mehr Tickets als Bon Jovi.

Sie müssen das tun, um finanziell zu überleben. Musiker verkaufen heute kaum mehr Platten. Grosse Umsätze erzielt nur noch, wer grosse Konzerte gibt.
Bon Jovi: Früher gingen junge Bands nach Europa, um ein neues Album anzupreisen. Sie waren zufrieden, wenn die Konzerte ihre Reisekosten deckten. Heute sind Konzerttourneen in Euro­pa für alle lebensnotwendig, auch für uns alten. Die Zeit, als man 20 Millionen CDs mit den Greatest Hits verkaufen konnte, ist längst vorbei. Und sie kommt nie mehr zurück.

Konzerte kommen an, weil es Live-Events sind. Komisch ist, dass das Publikum sie mit Hobbykameras und iPhones filmt. Viele nehmen Konzerte daher bloss durch einen kleinen Bildschirm wahr.
Bon Jovi: Du kannst nicht mal rülpsen, ohne dabei gefilmt zu werden. Drei Minuten später ist dein Rülpser bereits auf Youtube. Als ich bei einem U2-Konzert erstmals sah, dass die Leute es filmen statt es zu geniessen, bin ich durchgedreht. Sind wackelige Filmchen auf dem Computer etwa spannender als ein Live-Konzert?

Verändert diese Filmerei Ihre Auftritte?
Bon Jovi: Da ich authentisch bin und nie eine künstliche Show abziehe, bin ich der Gleiche geblieben.

Am letzten Montag traten Sie am Brandenburger Tor auf und rockten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Haben Sie überhaupt einen Bezug zur Wende in Deutschland?
Bon Jovi: Für mich war das ein grosses Privileg. Die Mauer hat mich stets fasziniert. Mein Lehrer erzählte mir von Kennedys Berliner Rede, die er 1963 an Chruschtschow richtete. Ich wuchs mit Ronald Reagan auf, als er sagte: «Mister Gorbatschow, reissen Sie diese Mauer nieder.» Vor zwanzig Jahren reiste ich eigens nach Berlin, um ein Stück Mauer rauszuschlagen. Es liegt noch immer bei mir zu Hause. Deshalb wollte ich unbedingt am Jubiläumstag auftreten.

Da waren Sie bestimmt nicht der Einzige. Wie bekamen Sie den Zuschlag?
Bon Jovi: Ich schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Brief. Offiziell bat ich sie, dort ein Konzert geben zu können, wo die Mauer einst stand. Den Brief gab ich dem amerikanischen Botschafter in Deutschland, der ihn an Merkel weiterleitete. Sie lud mich dann ein.

Sie stammen aus New Jersey, und Sie reden oft über Politik. Letzte Woche verloren die Demokraten bei Wahlen in New Jersey einen wichtigen Gouverneurssitz. Viele deuten dies bereits als Anfang vom Ende der Ära Obama. Trifft das zu?
Bon Jovi: Kaum. Ich befasse mich lange genug mit US-Politik, um zu wissen wie sie funktioniert. Zieht ein neuer Präsident ins Weisse Haus, bäumt sich die Opposition auf. Verliert die ­Regierungspartei eine oder zwei regionale Wah­len, heisst es sofort, der Präsident sei angeschlagen. Obama steht noch immer gut da.

Jetzt muss sich Obama aber sorgen. Ihre politischen Prognosen sind meist falsch. Im Jahr 2000 setzten Sie sich für Al Gore ein, vier Jahre später für John Kerry.
Bon Jovi: Ich weiss, ich bin ein Verlierer. Deshalb spielte ich in der TV-Serie «The West Wing» ja den Rockstar Jon Bon Jovi, der den siegreichen Präsidentschaftskandidaten unterstützt. Einmal wollte auch ich bei den Gewinnern sein. Spass beiseite: Zumindest war ich im Recht. Wäre Al Gore US-Präsident geworden, ginge es der Welt heute besser.

Selbst bei den Wahlen von 2008 unterstützten Sie anfänglich Hillary Clinton.
Bon Jovi: Schon, aber ich war weise genug zu wissen, dass sie keine Chance haben würde. Deshalb sammelte ich bloss Geld für sie. Stand Obama mal als Kandidat fest, unterstützte ich ihn.

Sie bauen und finanzieren Häuser für Arme, sie setzten sich für Behinderte ein und für Aidskranke. Warum?
Bon Jovi: Weil ich ein Mann bin. Und weil ich genügend Geld habe, das zu tun. Zudem kann ich tatsächlich Häuser für Leute bauen, die sie brauchen. Das habe ich schon 217 Mal bewiesen.

Sie sollen politische Ambitionen haben.
Bon Jovi: Das ist falsch. Ich habe keinerlei Absichten, in die Politik einzusteigen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich die Politik respektiere. Wenn ich jemandem aber ein Dach über dem Kopf errichte oder ihm eine Mahlzeit auf den Tisch stelle, dann hat das einen spürbaren Nutzen.

Sie sind ein Rockstar mit enormem Sex­appeal. Wie bereiten Sie sich auf den Tag vor, wenn der Bauch dicker, das Haar dünner und der Hintern schwabbeliger wird?
Bon Jovi: Darauf muss ich mich nicht mehr vorbereiten. Dieser Tag ist schon vor Jahren gekommen. Glauben Sie mir, mein Bauch wächst und die Haare fallen aus. Ich bin nicht mehr der knackige Bursche, der ich einmal war. Und das ist verdammt noch mal die Wahrheit.

Das muss entsetzlich sein für einen Rocker, dem die Frauen zu Füssen liegen.
Bon Jovi: Mein Selbstvertrauen ist gross genug, um damit fertig zu werden. Wäre ich nur ein Pin-up, würde mich «Rolling Stone» doch nicht mehr aufs Cover setzten. Als ich 25 Jahre alt war, hatte ich meine Justin-Timberlake-Phase. Damals war ich jung, schön und sexy. Das reichte vollends, um Konzerthallen zu füllen. Doch das ist jetzt vorbei. Dennoch sind Sie aus der Schweiz nach London geflogen, um mit mir zu reden. Hätte ich musikalisch nichts zu bieten, hätten Sie mich nicht mal angerufen.

Sie werden noch nicht sehr lange als ernsthafter Musiker wahrgenommen. Stand Ihnen das Sexsymbol im Weg?
Bon Jovi: Es war ein Segen und ein Fluch. Jon Bon Jovi ist putzig, deshalb verkauft er Platten, schrieb die Presse. Da ich längst nicht mehr putzig bin, geht das nicht mehr. Wir verkaufen aber noch immer genügend Platten.

Was angesichts der Krise der Musikbranche überrascht. Sie und ich arbeiten in Branchen, die vom Internet betroffen sind. Wie meine überleben soll, weiss ich nicht. Wie überlebt die Musikbranche?
Bon Jovi: Da geht es mir gleich. Ich habe keine Ahnung, ob und wie die Musikbranche überleben wird. Allerdings gibt es für Sie eine Chance: Nehmen Sie die Zeitung wieder aus dem Netz und finden Sie einen Weg, sie auf Papier zu verkaufen. Wir können das nicht. Sobald eine CD publik ist, taucht sie im Web auf. Alle können sie kostenlos runterladen. Ich finde das abscheulich. Wer ein Buch, einen Song oder einen Film haben will, der soll dafür bezahlen. Den städtischen Arbeiter, der bei mir in New Jersey den Gehsteig flickt, zahle ich ja auch.

New Jersey gilt als dreckig, korrupt und von der Mafia unterwandert. Warum kommen dennoch so viele kreative Amerikaner – Sie, Frank Sinatra, Jack
Nicholson, Philip Roth, John Travolta – aus Ihrem Heimatstaat?
Bon Jovi: New Jersey steht im Schatten von New York. Wer dort aufwächst, träumt ständig davon, es einmal nach New York zu schaffen. Gleichzeitig ist es günstiger dort zu leben und daher einfacher, in Ruhe ein Handwerk zu erlernen. Ohne New Jersey hätte ich es nicht geschafft.

Strengen sich die Leute dort besonders an, weil alle nach New York wollen?
Bon Jovi: Die Nähe zu New York ist entscheidend. Da will jeder hin. Wir in Jersey kämpfen aber auch nonstop gegen hässliche Witze. Wir leiden darunter, angepöbelt und niedergemacht zu werden. Glauben Sie mir, Leute aus New Jersey müssen viel Scheisse fressen. Wir wollen allen beweisen, dass wir keine Witzfiguren sind.

Das haben Sie geschafft. Sind zum Sexsymbol und zur Rockikone aufgestiegen. Und doch scheuen Sie die Nähe zu Ihren Fans nicht. Woher stammt die Demut?
Bon Jovi: New Jersey ist ein bescheidener Ort. Es gibt bei uns keine Massenmedien, kein Rampenlicht. Ich wuchs nicht in London, in Los Angeles oder in New York auf, sondern in einer kleinen Stadt neben einer langen Brücke. Mein Nachbar verkaufte Benzin, und ihm wars egal, ob ich Gitarre spiele und Konzerte geben. Niemand in New Jersey ist ein grosser Fisch im Teich. Ich auch nicht.

Zumal Sie nicht der grösste sind. Ist von einem politischen Rocker aus Jersey die Rede, denken alle an Bruce Springsteen. Leiden Sie darunter?
Bon Jovi: Überhaupt nicht. Ich verehre Bruce. Er ist doch genau der Typ aus Jersey, der es uns allen gezeigt hat, wie man es machen muss. Wie vor ihm Frank Sinatra. Bruce ist 13 Jahre älter als ich. Wie ein grosser Bruder habe ich ihn bewundert, lange bevor ich ihn kannte.

Sie waren in Europa stets beliebter als in den USA. Warum eigentlich?
Bon Jovi: Das ist falsch. Unsere Beliebtheit verläuft zyklisch. In Europa waren wir immer beliebt. Es gab jedoch Zeiten, in denen wir in den USA nicht sonderlich gut ankamen. Amerika will ständig neue Hits, Singles, die an die Spitze der Hitparade stürmen. Für Alben oder lang anhaltende Karrieren interessiert sich hier keiner. Bevor jemand etabliert ist, kommt und geht er so schnell wie der Wind.

Dann ist es ein Zeichen der Qualität, in Europa populär zu sein?
Bon Jovi: Unsere Band hat auf eine langfristige Strategie gesetzt. Und der Erfolg gibt uns Recht. Schauen Sie sich mal die amerikanischen Rocker an, die in den letzten Jahren gut verkauft haben: Chris Daltry, der «American Idol» gewann? Geht bereits wieder unter. Matchbox Twenty? Gehen unter. Goo Goo Dolls? Gehen unter. Es heisst noch nicht, dass diese Bands tot sind, aber sie müssen erst mal beweisen, dass sie mehr können als einen Hit zu landen. Das haben wir gezeigt. Wir haben 25 Jahre investiert. So rasch verschwinden wir nicht.

Sie sagen, Vater zu sein sei Ihre grösste Leistung. Ihre Kinder sind die Kinder von Superstar Jon Bon Jovi. Wie stellen Sie sicher, dass sie sich selbst bleiben?
Bon Jovi: Es gibt dafür keine Bedienungsanleitung. Meine Frau und ich lernen es jeden Tag neu. Ich versuche den Kindern aber beizubringen, sich für etwas einsetzen, zu dem sie stehen können. Ich glaube, das können sie ganz gut.

Rock, Kino und Familie
John Francis Bongiovi kam 1962 in der Stadt Perth Amboy im US-Bundesstaat New Jersey zur Welt. Der italienischstämmige Vater war Grenadier und Coiffeur. Die Mutter posierte für «Playboy». Seinen ersten Song nahm Bon­giovi 1980 für die Plattenfirma eines Cousins auf. Kurz darauf änderte er den Namen. Zu den Hits seiner 1983 gegründeten Band Bon Jovi zählen  «Livin’ on a Prayer», «It’s My Life» und «Always». Er tritt in Filmen und TV-Serien auf. Seit 20 Jahren ist er mit seiner Freundin aus der High School verheiratet. Sie haben vier Kinder.